Ohne Werte sind wir verloren
Für die Rettung der Freiheit brauchen wir ein Revival der christlichen Soziallehre.
Es gibt etwas, das dem liberalen Denken vorausgeht, es rechtfertigt und gedeihen lässt. Es ist das ethisch-moralische Fundament, das dem Liberalismus in vergangenen Tagen den Erfolg ermöglichte. Schon Hayek wusste, dass Christentum und Liberalismus wieder zusammengedacht werden müssen: «Ich bin überzeugt, dass es keine Hoffnung auf die Wiedergeburt liberaler Kräfte geben wird, wenn die Kluft zwischen wahrem Liberalismus und religiösen Überzeugungen nicht geheilt wird. (…) Viele Menschen sehen darin die einzige Hoffnung für die Bewahrung der Ideale der westlichen Zivilisation», erklärte der spätere Nobelpreisträger an der Gründungsversammlung der Mont-Pèlerin-Gesellschaft vom 1. April 1947.
Vielleicht wird es eine Neuauflage der liberalen Werte geben. Wir müssen aufpassen, dass diese nicht in eine Diktatur der säkularisierten Werte ausarten, die da heissen moralischer Relativismus und existenzieller Nihilismus. Beide sind letztlich das Gegenteil von Freiheit und Wahrheitssuche. Kaum haben wir die Diktaturen der Rasse und des Proletariats im 20. Jahrhundert abgeschüttelt, drohen wir im 21. Jahrhundert in die Diktatur der wertfreien Werte abzudriften. Wenn wir nicht akzeptieren, dass es Werte gibt, die von objektiven und nicht verhandelbaren Wahrheiten herrühren, die über jedem von Menschen gemachten Gesetz stehen, dann ist die Gefahr enorm gross, dass sich die ideologischen Katastrophen der Vergangenheit wiederholen. Ein Wertewandel oder eine Werterevolution kann nur dann gut sein, wenn zwei Dinge anerkannt werden: Der Mensch als Individuum ist einzigartig und unwiederholbar, und das Leben ist nicht nur nützlich, sondern heilig (unantastbar). Wenn die westliche Zivilisation wieder an Werte glauben soll, dann nur auf der Grundlage dieser beiden Prinzipien, andernfalls ist jeder Wert nach Gutdünken der jeweiligen Machthabenden beliebig wandelbar. Wenn die Werte aus einer neuheidnischen oder relativistischen und damit zynischen und nihilistischen Tendenz entspringen, dann wäre es besser, die von den Mächtigen herbeigesehnte Revolution würde nie erfolgen.
Es braucht heute viel Mut, um öffentlich zu sagen, dass das Kulturmodell des Westens, bei dem «die Wahrheit auf die persönliche Meinung und das Wohl auf Wohlbefinden reduziert wird» (in den Worten von Giacomo Biffi, dem einstigen Erzbischof von Bologna), versagt hat und sogar zu Gift geworden ist. Niemand darf es öffentlich zugeben, schon gar nicht hohe Politikerinnen und Politiker, aber wenn die Werterevolution nicht christlich ist, läuft sie letztlich nur auf eine elegante und grandiose Umverteilung von Unterdrückung hinaus.
Antworten auf die wichtigen Fragen finden
In unserem angebrochenen Jahrhundert dreht sich der ideologische Kampf nicht so sehr um die Modernisierung der Dogmen der Vergangenheit. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir uns endlich wieder damit beschäftigen sollten, wer der Mensch und was sein Leben ist. Der amerikanische Präsident Donald Trump hat in seiner Rede in Warschau vom 6. Juli 2017 einige wichtige Fragen formuliert: «Haben wir genug Vertrauen in unsere Werte, um sie um jeden Preis zu verteidigen? Haben wir genug Respekt vor unseren Bürgern, um unsere Grenzen zu schützen? Haben wir den Wunsch und den Mut, unsere Zivilisation vor denen zu bewahren, die sie untergraben und zerstören wollen? (…) Und was ist mit der schleichenden staatstragenden Bürokratie, die beidseits des Atlantiks den Menschen ihre Vitalität und ihren Wohlstand raubt?»
Von den Antworten auf diese Fragen wird das Überleben unserer westlichen Zivilisation abhängen. Es braucht dringend Diskussionen, wir sollten unbedingt wieder kulturell und politisch die Klingen kreuzen. Das Seilziehen um die Antworten wird aber nicht in erster Linie auf wirtschaftlicher, politischer, ideologischer oder wissenschaftlicher Ebene stattfinden, sondern auf der humanistischen: Die Menschen werden sich zwischen einer Beschleunigung in Richtung eines marxistischen (gezwungenermassen atheistischen) Humanismus und einer Verlangsamung und damit der Neuentdeckung eines liberalen (vorwiegend christlichen) Humanismus entscheiden müssen.
Es wird schwierig, aber nicht unmöglich sein, einen Dialog auf den Ebenen zu führen, auf denen sich Physik und Metaphysik unweigerlich vermischen, wo Glaube und Vernunft wieder miteinander sprechen. Der Westen hat in diesem Sinne einen riesigen Erfahrungsschatz, man sollte deshalb statt von einer Werterevolution wohl eher von einer Rückeroberung der Werte sprechen. Der katholische Humanismus hat seit zweitausend Jahren ununterbrochen über das menschliche Wesen und die Gesellschaft nachgedacht und geforscht; in der Enzyklika Populorum Progressio von 1967 schrieb Paul VI., dass die Kirche «Erfahrung in allem, was den Menschen betrifft» habe, «ohne sich in staatliche Belange einmischen zu wollen». Die Kirche äussert sich nicht zu säkularen Systemen oder Regierungsmethoden, sondern erinnert seit Jahrhunderten lediglich daran, wer der Mensch ist und was er sucht. Ihre Urteile sind zeitlos und immer gültig.
Zur Beantwortung von Trumps Fragen ist somit ein Blick auf die Soziallehre der katholischen Kirche für alle Entscheidungsträger aufschlussreich. Wer es eilig hat, kann das Kompendium der Soziallehre der Kirche des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden von 2006 durchblättern, welches der damalige Kardinal Ratzinger angeregt hatte: 150 Jahre Erforschung sozioökonomischer Aspekte aus christlicher Sicht. Ohne es zu wollen, liegen in diesem Werk alle Antworten auf die grossen Fragen des 21. Jahrhunderts, für die Entscheidungstragenden ebenso wie für unseren Alltag. Es ist alles da! Wilhelm Röpke, ein Pionier des Ordoliberalismus, bezog sich ebenfalls auf die kirchliche Soziallehre und übertrug deren Maximen auf die Politik. Er war von ihnen überzeugt und verstand die prägende Rolle der christlichen Ethik für den Liberalismus: «Der Liberalismus ist in seinem Wesen nicht ein Abfall vom Christentum, sondern sein legitimes geistiges Kind.»
«Wenn wir nicht die ursprünglichen Aufgaben von Familie,
Unternehmen und Schule neu entdecken, wird es fast unmöglich sein,
die dringenden Probleme unserer Generationen zu bewältigen.»
Die «Zellen» einer freien Gesellschaft
Was bedeutet es, dass die Neuentdeckung der Werte nicht wirtschaftlich, sondern humanistisch ist? Es bedeutet, dass wir uns wieder bewusst werden müssen, dass es wesentliche Elemente gibt, die unsere Gesellschaft zusammenhalten und die Motoren für Wohlbefinden, Wohlstand, Fortschritt und Freiheit sind. Konkret entdecken wir dieses Wesentliche in drei grundlegenden «Zellen» wieder: Familie, Unternehmen, Schule. Wenn wir der Politik klarmachen könnten, dass sie sich auf diese drei Komponenten konzentrieren sollte, anstatt ihr Aktionsfeld immer weiter auszudehnen, so würde dies eine gesunde Kettenreaktion auslösen. Halten wir diese «Zellen» gesund, so wird das Wunder wirken für unser Streben nach Identität, Wohlbefinden, Wachstum und Wohlstand. Um es plakativ auszudrücken: Die Unternehmen schaffen Arbeit und Austausch; die Familien schaffen Nächstenliebe und Demokratie; die Schulen schaffen Erziehung und Zivilisation. Oder umgekehrt: Es gibt keinen Austausch ohne Arbeit und ohne Unternehmen; es gibt keine Demokratie ohne Nächstenliebe und ohne Familie; es gibt keine Zivilisation ohne Erziehung und ohne Schule.
Doch wie durch eine Art Genmanipulation schädigt die ständige politische Einmischung unsere Basisorganismen massiv. Die neuen sozialen Unternehmenskonzepte und -kontrollen, die Auflösung der Familie und die durchlässigen Schulen sind zwar alle «politisch korrekt» und bringen Wählerstimmen, aber sie bremsen das wirtschaftliche Wachstum, schwächen den Prozess der kulturellen Identitätsfindung und schränken nicht zuletzt die Freiheit ein. Wenn wir nicht die ursprünglichen Aufgaben von Familie, Unternehmen und Schule wieder neu entdecken, wird es fast unmöglich sein, die dringenden Probleme unserer Generationen zu bewältigen.
Arbeit wird nur durch aktives Handeln erlernt und entsteht nur durch Aktivität (Unternehmen). Nächstenliebe wird nur durch Erfahrung gelernt und angewandt (Familie), und Wissen wird nur durch Bildung und Erziehung erlangt und weitergegeben (Schule). Natürlich sind diese institutionellen und kulturellen Grundlagen sehr konservativ (Familie, Unternehmen, Schule), aber gerade Arbeit, Nächstenliebe und Erziehung generieren echte liberale Werte: Austausch, Demokratie und Wissen. Dies ist die liberalkonservative Produktionskette.
Die Zivilgesellschaft muss zurückholen, was ihr gehört
Man könnte die Produktionskette noch weiter ausdehnen: Heimat, Identität und Unabhängigkeit; Zivilgesellschaft, Subsidiarität und Staat; Kirche, Christentum, Gott. Aber all diese Werteketten funktionieren nur in einer klar identifizierbaren Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie können nicht durch Gewalt oder Gesetze von oben aufgezwungen werden. Es ist die Zivilgesellschaft, die aufstehen und sich einen Teil dessen zurückholen muss, was sie viel zu leichtfertig an den Staat abgetreten hat.
Dafür braucht es aber Glauben, Hoffnung und Liebe. Wer sich in der Politik nicht mit diesen religiösen Maximen identifizieren kann, sollte immerhin folgende drei Prinzipien akzeptieren: dass die Einzelperson sich selbst ganz ohne autoritäre und von oben gesteuerte Systeme zu helfen weiss, wenn sie sich mit anderen zusammentut, dass der Mensch dank den ungeschriebenen Gesetzen in seinem moralischen Gewissen ein gutes Schicksal hat und dass der Mensch Grenzen und Unzulänglichkeiten kennt, die entgegen dem herrschenden Perfektionismusdogma aber keine Schwäche, sondern die Grundlage für seine Einzigartigkeit und Stärke und damit seine Freiheit sind.
Menschlich gesehen bedeutet dies, dass wir verzicht- und opferbereit werden und aufhören sollten, zu handeln und zu konsumieren, als wären wir die letzte Generation. Stattdessen sollten wir versuchen, zu denken und zu handeln, als wären wir die vorletzte. Dazu müssen wir uns aber wieder mit dem Verb «erziehen» auseinandersetzen und über die Substantive «Familie» und «Unternehmen» nachdenken, welche die Energiespender und der Kern der westlichen Zivilisation sind. Sie sind es, die Werte wie Identität, Nächstenliebe und Arbeit hervorbringen. Sie bewirken, dass die beiden unabdingbaren Institutionen Demokratie und freier Markt funktionieren können. Wenn wir auf diesen beiden Gebieten wachsen, können wir sicher sein, dass wir jedem durch andere aufgezwungenen Wertewandel die Stirn bieten und den Schaden begrenzen können. Denn wie Lord Acton schon sagte: «Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut.»
Aus dem Italienischen übersetzt von Kathrin Benz.