«Ökonomisierung»…?
Genug ist genug. Eine Richtigstellung
Es reicht! Allmählich läuft der Zettelkasten über. Seit Monaten schon stapeln sich darin die Belege, wie sich das sperrige Schimpfwort «Ökonomisierung» in die veröffentlichte Meinung einschleicht. In Nebensätzen wird es lässig hingeworfen wie eine Beschwörungsformel: Man muss das Wort nur oft genug benutzen, dann könnte die Gehirnwäsche wirken, und die Leute glauben, dass ihre Welt tatsächlich vom Gift der Wirtschaft durchdrungen ist. Vielleicht ist es auch bloss ein Codewort zum Beweis der politisch korrekten Einstellung des jeweiligen Autors. Der eine signalisiert dem anderen damit, dass auch er dazugehört zur wachsenden Truppe der Erleuchteten, die sich von den uneinsichtigen neoklassischen Homo-oeconomicus-Gläubigen und Neoliberalen nichts mehr vormachen lassen.
Von komisch bis absurd
Eine ganze Autorenschar geigt sich gegenseitig hoch. Da gibt es im Mystischen fischende Verfasser wie den Literatur- und Kulturwissenschafter Joseph Vogl («Das Gespenst des Kapitals», 2010), die der ökonomischen Wissenschaft einen theologischen Subtext andichten und sie verdächtigen, die Welt nach ihrer Wirklichkeit zu formen. Da gibt es Lamentierer wie den Harvard-Philosophen Michael J. Sandel («Was man für Geld nicht kaufen kann», 2012), die es als Entweihung des Wahren, Guten und Schönen betrachten, wenn man mit Geld zunehmend «alles» kaufen könne. Daneben gibt es harte Paternalisten wie den Keynes-Biographen Robert Skidelsky und seinen Sohn Edward («Wie viel ist genug?», 2012), die eine Liste von «Basisgütern» aufgestellt haben, die angeblich für ein gutes Leben, den Gegenentwurf zum Leben unter dem Diktat der Ökonomisierung, erforderlich sind und die der Staat bereitstellen soll.
Der F.A.Z.-Herausgeber Frank Schirrmacher («Ego», 2013) wiederum sieht die menschliche Natur infolge der jahrelangen Einübung des ökonomischen Denkens ohnehin zum egoistischen und von den theoretischen Modellen ferngesteuerten Homo oeconomicus denaturiert. Ob die theoretische und praktische Einübung im «Do ut des» (Ich gebe, damit du gibst) tatsächlich die Vorstufe zur Heiligung des Egoismus sein könnte, wie es selbst der des Antikapitalismus unverdächtige Ökonom Olaf Sievert einmal gesagt hat, mag man durchaus besorgt fragen. Doch muss man bei solchen Diskussionen gesprächsabschliessend unter die Gürtellinie zielen wie zum Beispiel der Wirtschaftssoziologe Reinhard Blomert («Adam Smiths Reise nach Frankreich», 2012), der im Hintergrund der Homo-oeconomicus-Heuristik eine «voraufklärerisch-hobbesianische Position», eine «narzisstische Störung» und «nichts als Voreingenommenheit in bezug auf die menschliche Natur» vermutet? Was soll das?
Den Vogel der Absurdität schoss kürzlich der freie Journalist Jan Wiele ab, der sich über das zugegebenermassen naive Wort von der «Quality Time» aufregte, die miteinander zu verbringen sich stressgeplagte Menschen gelegentlich vornehmen: Die damit verbundene «zwanghafte Einteilung des Daseins» stelle «wieder einen jener dreisten Übergriffe der Ökonomisierung auf alle Lebensbereiche» dar. Anmassend sei die Idee zudem, denn dabei, ob die Zeit eine gute werde, habe eine höhere Instanz mitzureden. Es folgte ein Psalmwort. Geht’s noch? Was ist anmassend daran, wenn Menschen sich vornehmen, die ihnen vom Schöpfer geschenkte Zeit zu nutzen und sie im Bewusstsein ihrer Kostbarkeit sinnvoll zu verbringen? Ist «Carpe diem», das schöne Wort des Horaz, etwa auch ein Zeichen der Ökonomisierung? Dann wäre diese immerhin ein schon mehr als 2000 Jahre altes Phänomen.
Ein Fetisch
Man fragt sich: Was um Himmels willen ist los mit jenen, die sich schier paranoid vom Virus der Ökonomisierung bedroht sehen? Höchstwahrscheinlich ist das Wort «Ökonomisierung» nur der aktuelle Fetisch, an dem sich die romantisch-antikapitalistische Intelligenz erfreut, und bald kommt ein neuer daher. So wie es in der Vergangenheit der Sozialdarwinismus, die Globalisierung und der Raubtierkapitalismus waren; hin und wieder schauen diese Begriffe auch heute wieder vorbei und grüssen griesgrämig.
Doch das heisst nicht, dass man sich entspannt zurücklehnen könnte. Vorsicht ist geboten: Sprache prägt das Denken, und steter Tropfen höhlt den Stein. Lernen, auch soziales Lernen, hat viel mit Wiederholung zu tun. Wenn sich die dunklen Mutmassungen und kulturellen Überlegenheitsgebärden der Ökonomisierungsverächter weiter unwidersprochen als selbstverständlicher gesellschaftlicher Konsens darstellen können, dann erreichen sie am Ende noch ihr Indoktrinationsziel. Die Einübung im Vokabular des Antikapitalismus könnte auf Dauer fatal sein.
Es ist Zeit, zu begreifen und sich über das zu empören, was gerade läuft. Es handelt sich nicht nur um «bürgerlichen Masochismus» (Michael Zöller). Es ist noch mehr: die Dynamik unwidersprochener Veröffentlichungen macht den ganzen Diskurs zu einer marktfeindlichen Kampagne. Diejenigen, die mit Eifer am Schwungrad der Angst vor der «Ökonomisierung» drehen, sind offenbar darauf aus, jene Menschen anzusprechen, die sich – wie sie selbst – auf die Erscheinungen der modernen Ökonomie keinen Reim machen können. Statt dazu beizutragen, dass jedermann seinen Verstand gebrauche, zielen sie auf den Affekt. Das erklärt auch, warum unpräzises Vokabular, theoriefreie Behauptungen, sinnentleerte Zitate, falsche Zuschreibungen, zynische Spitzen und Ehrabschneidereien an der Tagesordnung sind: Auf Präzision und Sachlichkeit kommt es gar nicht an. Eine Stimmung soll geschürt werden. Das ist ja auch viel einfacher und verspricht schneller Erfolg als mühsame Aufklärung.
Doch wie auf der Affektebene kontern? Wie eine dumpfe Aversion mit einer hellen Emotion ersetzen? Das ist alles andere als leicht. Diejenigen, die der Stimmungsmache gegen die «Ökonomisierung» Einhalt gebieten wollen, haben ein Problem: Wenn sie drastisch werden, den Spiess umkehren und ähnlich auf den Putz hauen wie die Agitatoren der Gegenseite, dann lacht man sie nur aus. Wenn sie darauf verweisen, dass es auch nichts anderes ist als erfolgreiche Ökonomie, wenn Fussballer Tore schiessen und Cineasten Meisterwerke auf die Leinwand bringen, hält man sie für zynisch. Und die sorgsam abgewogene, fein ziselierte Theorie will ohnehin kaum jemand hören. Doch es gibt keinen anderen Weg als den über die intellektuelle Auseinandersetzung, so frustrierend sie auch sein mag. Deshalb sei eine solche hier auch noch einmal versucht, beginnend mit einer grundlegenden Frage: Was ist eigentlich gemeint, wenn über die «dreiste Ökonomisierung aller Lebensbereiche» gejammert wird? Was soll das überhaupt sein, «Ökonomisierung»?
Falsche Logik
Bei Michael J. Sandel bedeutet «Ökonomisierung» schlicht die Tatsache, dass man heute direkt oder indirekt mit Geld Dinge kaufen kann, die früher nach anderen, archaischeren Rationierungsmechanismen zugeteilt wurden, die er aber als gemeinschaftsförderlich rühmt. Als Negativbeispiel nennt Sandel aussichtsreiche, von Stellvertretern gegen Entlohnung freigehaltene Plätze in der Warteschlange vor der Ticketkasse des Fussballstadions ebenso wie stressfreies Boarding am Flughafen. Gemeinsam erlittenes Warten, ohne die Aussicht, die Mitwartenden zu umrunden, verbinde die Menschen. Eine nach der Kaufkraft differenzierte Mehrklassengesellschaft hingegen wirke zersetzend, befürchtet er. Man kann über eine solche Romantisierung der Plattfüsse und der schlechten Laune, die sich Generationen von Menschen in sozialistischen Warteschlangen geholt haben, nur staunen. Wo nicht der abstrakte Markt herrscht, herrscht die ganz und gar nicht abstrakte Willkür.
Hinter solchen Überlegungen steckt, neben einer dumpfen Befindlichkeit, konzeptionell wohl eine Vulgärversion der von Niklas Luhmann und anderen entwickelten Systemtheorie. Diese besagt, dass es gesellschaftliche Subsysteme wie Wirtschaft, Politik, Erziehung, Religion gibt, die eigenen, selbstreferentiellen Systemlogiken folgen und auch folgen müssen. Die Vulgärversion ermöglicht nun ein Denken in Kollisionen und unversöhnlichen Rivalitäten zwischen diesen Subsystemen. Eine Ökonomisierung liegt mithin dann vor, wenn die Logik der wirtschaftlichen Sphäre auch in anderen gesellschaftlichen Subsystemen Geltung beansprucht, wo sie nichts zu suchen hat. Eigentlich kann das gar nicht funktionieren, sagen zwar die komplexeren Versionen der Systemtheorie – aber die sich mit der intellektuellen Sparversion zufriedengebenden Kapitalismuskritiker jaulen, es funktioniere sehr wohl, und das zum Schaden aller.
Aber wie, so fragt der Ökonom irritiert, kann es denn so etwas geben, eine Sphäre, in der die ökonomische Logik nichts zu suchen hat? Die Logik der Ökonomie ist das Prinzip der Rechenhaftigkeit, des vernünftigen Einsatzes knapper Mittel zur Erreichung der jeweiligen Ziele – in welchem Lebensbereich könnte die Berücksichtigung der Knappheit ohne Belang sein? Die Menschheit lebt doch nicht im Paradies, wo alles im Überfluss vorhanden ist? Beim Aufkommen solcher Fragen frohlocken die Kritiker: Da sieht man es, die Ökonomen haben ihren Imperialismus so weit getrieben, dass sie sich ihrer Übergriffigkeit nicht einmal mehr bewusst sind. Doch hier liegt ein fundamentales Missverständnis vor.
Konkret: Bologna
Nehmen wir ein Beispiel. Zur Illustration der Schrecknisse der Ökonomisierung wird gern auf die europäischen Reformen im Hochschulwesen (Bologna) verwiesen. Die Verkürzung der Schulzeit und die Straffung des Studiums entsprächen allein ökonomischem Kalkül, heisst es, doch in der Hektik des verschulten Systems könne sich der Intellekt nicht mehr richtig entfalten. Die Erfahrungen an den Hochschulen lassen in der Tat die Befürchtung wachsen, dass der zweite Teil des Satzes zutrifft. Selbst die Anschuldigung, die Wirtschaft (genauer: die Industrie) habe mit ihren Interessen ihren Anteil an dieser Fehlentwicklung, weil sie in Verkennung der Folgen jahrelang auf schnellere Abschlüsse gedrängt habe, ist nicht von der Hand zu weisen. Auch die Vernachlässigung der Grundlagenforschung lässt sich nicht leugnen. Aber was hat das alles mit ökonomischem Kalkül und ökonomischer Logik zu tun?
Die Effizienz, um die es der ökonomischen Logik zu tun ist, ist kein absoluter Begriff. Sie richtet sich immer auf ein Ziel, wie auch immer dieses definiert ist; ob es mit Gewinn zu tun hat, mit Bildung, Fortschritt oder beispielsweise Resonanz. Denn Ökonomie bedeutet nicht mehr und nicht weniger als zielgerichtetes Handeln unter Restriktionen – also unter den nicht wegzuträumenden Knappheitsbedingungen des realen Lebens. Die Ökonomie stellt sich also in den Dienst eines vorgegebenen Ziels. Natürlich kann es keine Garantie dafür geben, dass das Subsystem der Politik das jeweilige Ziel richtig setzt. Im Fall Bologna war das Ziel ganz offensichtlich falsch gewählt, zu kurzfristig, zu praxisorientiert: An den Hochschulen sollten junge Leute doch eigentlich denken lernen und nicht nur praktische Techniken mit kurzer Halbwertszeit erwerben; die Universitäten sind der auch ökonomisch am besten geeignete Ort für die Grundlagenforschung.
Das Versagen der Hochschulreformen beruht also auf einem falsch gesetzten Ziel, ganz zu schweigen von den Mitteln. Ist aber das Ziel richtig gewählt, was spricht dann dafür, das zu seiner Erreichung eingesetzte Geld zu verschwenden? Mit welcher Begründung soll es sich irgendein Subsystem leisten können, die Endlichkeit der materiellen Ressourcen und die Notwendigkeit einer Prioritätensetzung zu leugnen? Was sich durchaus angreifen lässt, ist eher die langfristig auch für die Akteure selbst schädliche Verengung des Blicks nur auf die kurze Frist und den schnellen Gewinn. Im Falle der Hochschulreform entspricht dem die Ignoranz gegenüber dem Wert und den Erfordernissen breiter Bildung. Eine solche Analyse verbindet sich dann mit einer lautstarken Anklage gegenüber den Interessengruppen, denen die Politik willfährig ist. Geschenkt! Aber dann sei bitte auch die Rede von Kurzfristisierung und Interessenpolitisierung statt von Ökonomisierung. Ökonomische Logik mit Kurzfristigkeit des Denkens und Partikularinteressenhörigkeit der Politik gleichzusetzen, ist schlicht eine Infamie. Noch nie hat jemand theoretisch schlüssig nachweisen können, wie das eine angeblich zum anderen führt. Weil es nicht so ist.
Alte Vorurteile
Wie unscharfe Begrifflichkeiten den Blick darauf vernebeln, um was es eigentlich geht, zeigt auch ein anderer, diesmal nur theoretischer Fall. Ein Fall von Ökonomisierung würde nach dem Kriterium der Abgrenzung von Subsystemen auch dann vorliegen, wenn beispielsweise Rechtsstreitigkeiten von der Justiz nicht mehr danach entschieden würden, wer nach dem Gesetz recht und wer unrecht hat, sondern danach, wer dem Richter mehr Geld auf den Tisch legt. Das klingt auf den ersten Blick plausibel – und doch hat es mit der Logik der Ökonomie nicht das Geringste zu tun. Was in diesem Beispiel zum Zuge kommt, ist eine Logik der Macht – und ob da Geld oder eine Knarre auf dem Tisch liegt, ist gleichgültig. Macht ist Macht und kein originär ökonomisches Phänomen.
Hinter dem aktuellen Ökonomisierungs-Hype steckt offenbar eigentlich etwas anderes. Da ist zum einen die jahrtausendealte Tradition der Feindseligkeit gegenüber allem, was mit Geld, Handel und Gewinn zu tun hat. Historisch kennt man das aus den Werken der alten Griechen ebenso wie aus den Schriften der Kirchenväter; heute sind es vor allem die Kultursphäre und wieder die Kirche, die von Gier und Profit reden und zur Selbstbestimmung ihrer Identität offenbar den Kapitalismus und das ökonomische Denken als Gegner brauchen. Der Mammon lässt sich so schön dämonisieren. Diese Attitüde scheint sich in den Köpfen festgesetzt zu haben. Sie verbindet sich zum anderen aber unterschwellig, ganz in der Traditionslinie eines Karl Polanyi, eines John Maynard Keynes oder auch eines Theodor Adorno, mit einem kulturellen Überlegenheitsanspruch. Welche Arroganz.
Empört euch! Es reicht!