Ökonomische Empfindungen
Neuerscheinungen zu Adam Smith und Condorcet Die englische Wirtschaftshistorikerin Emma Rothschild hat kürzlich ein Buch zu «ökonomischen Empfindungen» bei Marie-Jean-Antoine-Nicolas de Condorcet und Adam Smith veröffentlicht. Es liest sich als brillante Geschichte einer verschütteten Kategorie, die, nicht zuletzt wegen des Interesses an der Psychologie der Ökonomie, neue Aufmerksamkeit verdient.
Das halbe Jahrhundert von 1770 bis 1820 war die Zeit der Geburt der modernen politischen Ökonomie, aber gegen Ende führte es auch zu einer Verengung des Blickwinkels. Adam Smith und Marie-Jean-Antoine-Nicolas de Condorcet, die Protagonisten dieses Buches, nahmen beide regen Anteil an der Aufklärung, am ökonomischen, politischen und geistigen Leben ihrer Zeit. Sie prägten beide – der eine notorisch, der andere fast vergessen – die Anfänge einer Disziplin, die offener und «unschuldiger» war als das, was im 19. Jahrhundert nachfolgte. Sie war offener, vor allem auch für das, was man eben heute als «ökonomische Empfindungen» oder «psychische Grundlagen des Wirtschaftens» wieder entdeckt.
Adam Smith: oft stereotyp verfälscht
Mit seiner «Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations» von 1776 gilt Smith gemeinhin als Begründer der politischen Ökonomie. Für viele hat es sich damit auch, und sie ignorieren den (oder die) anderen Adam Smith(s): Die Kritiker sehen in ihm nur die kalte, wirtschaftsliberale Reduktion der Aufklärung, aber auch seine Parteigänger schauen nur zu gerne weg vom viel komplexeren, vielfältig beschlagenen Philosophen, Juristen und Sprach- und Ästhetiktheoretiker.
Erst im Laufe der Jahre etablierte sich die Lexikonfigur Adam Smith, allerdings um den Preis einer ihm nicht gerecht werdenden Verbindung von progressiver liberaler Ökonomie mit einer konservativen politischen Theorie. Das war zum Teil als gut gemeinte Ehrenrettung seiner Nachfolger, allen voran von seinem Biographen Dugald Stewart, gedacht. Sie verfing allerdings bei echten Konservativen (und schlechten Ökonomen) kaum: Das liberale Staatsbild eines Adam Smith, kommentierte der konservative Romantiker Adam Müller 1810, sei das einer «wilden Ehe», und der Herausgeber der «Wealth of Nations» im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, ein William Playfair, fühlte sich bemüssigt, Smith in Fussnoten zu (dis-)qualifizieren und ergänzende Kapitel aus eigener Feder einzuschieben.
Zum Gebiet der ökonomischen Empfindungen hat gerade Smith Wesentlichstes geleistet: Als Autor einer zu seinen Lebzeiten sechsmal aufgelegten «Theorie der moralischen Gefühle» (oder eben «Empfindungen», nämlich «Theory of Moral Sentiments») war für ihn die Verbindung eine intime. Ökonomisches Verhalten entspringt menschlichen Empfindungen und endet letztlich in ihnen. Wohlstand wiederum bringt nicht nur bessere Institutionen und mehr nationale wie individuelle Unabhängigkeit; er verfeinert auch die Ansichten und Gefühle.
Sehr aufwendig, aber letztlich am wenigsten überzeugend, ist Rothschilds geistesgeschichtliche Behandlung der «blutigen und unsichtbaren Hand» bei Smith. Entgegen der auch und gerade bei Ökonomen herrschenden Meinung, hält Rothschild den Stellenwert der Metapher für Smith für wenig bedeutend. Sie sei «un-Smithian» und könne als scherzhafte Nebenbemerkung eingestuft werden. Den einen Hauptgedanken der Metapher und die Hauptkomponente für deren Nachwirkung, nämlich die unbeabsichtigten Handlungsfolgen, evakuiert Rothschild als trivial – was angesichts des heute zunehmenden sozialwissenschaftlichen Interesses für solche Phänomene erstaunt.
Ökonomisch am interessanten ist und war die Verwendung der «Unsichtbaren Hand» in der allgemeinen Gleichgewichtstheorie (Arrow, Hahn) oder in evolutionären oder institutionellen Ansätzen, in welchen ökonomische Normen oder Institutionen als unbeabsichtigte, aber höchst nützliche Nebeneffekte von eigennützigen Tauschhandlungen angesehen werden. Auch hier behauptet Rothschild etwas absolut, dass Smith damit wenig habe anfangen können. Sie sieht auch James Buchanan näher bei Smith als etwa Friedrich August von Hayek, auch wenn Smith und Hayek natürlich das Misstrauen in den Staat, und vor allem die Angst vor der Anmassung von Wissen durch den Staat, teilen. Smith habe aber einen sehr viel rationaleren und theoriegeleiteten Approach gehabt – beides Aspekte, die Hayek ja zugunsten der spontanen Ordnung, die sich eher bei Burke inspiriert, verwirft.
Condorcet: liberaler Revolutionär
Condorcet ist heute der weniger bekannte der beiden Autoren. Er gilt vielen noch als revolutionär-utopische Reduktion der Aufklärung, weil er diese 1789 als Mathematiker, Sozialwissenschafter und oberster Wissenschaftssekretär Europas mitinitiiert hatte. Seine Gegner zu Lebzeiten oder danach waren in ihren stereotypen Urteilen wenig zimperlich: Sein Intimfeind Robes-pierre bezeichnete ihn als «scheuen Verschwörer, von allen Parteien gehasst» – was für jedes Element der Aussage allein und erst recht in der Kombination als Todesurteil gedacht war; für die europäische Reaktion war er «der hassenswerteste aller französischen Revolutionäre» (de Maistre ), «ein philosophischer Räuber und Assassin» (Burke), oder das «monstruöse Gehirn der Französischen Revolution» (Sainte-Beuve). Er wäre wohl diese von allen verdammte Mischung von intellektuellem Pol Pot und Bin Laden geblieben, wäre da nicht das konstant positive Urteil Benjamin Constants und dessen Eingeständnis, vom liberalen Individualismus Condorcets beeinflusst gewesen zu sein.
Zum Thema des Buches von Rothschild hat Condorcet Wesentliches beigetragen. Freihandel, ja Tauschvorgänge überhaupt, heben das Selbstvertrauen des Einzelnen und bekämpfen seine Angst, ignoriert zu werden und ausgeliefert zu sein. Empfindungen und Gefühle sind es, die soziale und interpersonelle Verknüpfungen herstellen; sie sind damit etwas nicht mehr Hintergehbares. Jedem einzelnen von uns vermitteln sie das Gefühl der Freiheit, in unseren politischen und kulturellen Handlungen und Meinungen nicht der Macht anderer Menschen, oder einer Gemeinschaft von Menschen, unterworfen zu sein.
Markt bedeutet Aufklärung, und das in zweifacher Hinsicht: Erstens ist das Aufkommen des Marktes wesentlich an die Errungenschaften dieser Geistesepoche geknüpft, zweitens bringt Wohlstand laufend bessere Institutionen und mehr Unabhängigkeit, baut Vorurteile ab und fördert die gesellschaftliche Gleichheit. Condorcet war allerdings ein zu intelligenter Denker und zu guter Ökonom, um einfach zu glauben, das liesse sich herbeireden oder gar dekretieren. Er war in seinem ökonomischen Urteil natürlich weniger sicher als Adam Smith. In seinen zahlreichen Essais und Pamphleten interessierte ihn zuerst einmal das Herstellen eines ökonomischen Gleichgewichts im Markt, wobei der Tausch als Lernprozess zu verstehen ist. Selbstverständlich darf es hier grundsätzlich keine Intervention des Staates geben. Der Markt fungiert als Entdeckungsverfahren und Schule, in deren verfeinernden Wirkung zunehmend alte Beziehungsformen verdrängt, der Einzelne von der Willkür (vor allem von subalternen Beamten) befreit und damit gesamtgesellschaftlich Freiheit etabliert wird.
Das zweite, bei Condorcet immer wiederkehrende Thema ist die Interdependenz von Politik und Ökonomie, vor allem aber von politischer und wirtschaftlicher Reform. Politische Reformen sind eine Vorbedingung wirtschaftlichen Fortschritts, und auf der Ebene der einzelnen Akteure liegen immer auch politische Interessen vor, die auf vielfältige Weise mit den ökonomischen verbunden sind. Es ist nun aber keineswegs so, dass die Akteure als kleine Rechenmaschinen ihr ökonomisches Eigeninteresse maximieren. Sie sind ebenso von moralischen Gefühlen beeinflusst, interessiert an den ökonomischen und politischen Bedingungen anderer, zum Beispiel beim Anblick von höchster Armut und Unglück oder beim Ausdruck von Freundesliebe.
Letztlich entwickelt Condorcet eine komplexe Theorie der Werte, deren individuelle Vielfalt, Heterogenität und Widersprüchlichkeit eine Aggregation erschwert: zum einen beim einzelnen Individuum selbst, das sich über die Zeit ändern kann, ja, in einer bestimmten Entscheidung, zwischen verschiedenen Empfindungen hin und her gerissen, in sich gespalten sein kann; zum andern natürlich auf der sozialen Ebene zwischen verschiedenen Individuen. Dies erklärt das im Essai von 1785 formulierte Condorcet-Theorem, das er selbst als Antwort auf ökonomische und Verfassungsprobleme verstand, insbesondere der öffentlichen Politik in einer Wirtschaft mit unvollständigem Wettbewerb.
Viele Gemeinsamkeiten in der Theorie
Smith und Condorcet haben miteinander korrespondiert und Condorcets Frau, Sophie de Grouchy, hat 1798, also nach dem Ableben beider, Smiths sechste Auflage der «Theory of Moral Sentiments» ins Französische übersetzt. Die beiden Persönlichkeiten waren charakterlich wohl recht unterschiedlich: Condorcet galt als leichtgläubig, aufbrausend und engagierte sich an der Front der Tagesereignisse. Smith war in all diesen Punkten das pure Gegenteil. Die Französische Revolution haben die beiden ungleich erlebt, und in einem Punkt – der (in-)direkten Besteuerung – waren sie ökonomisch anderer Meinung. Doch der Gemeinsamkeiten sind viele: Beide sahen sie im Freihandel ein Ziel und ein Gut an sich; der ökonomische Alltag – und vor allem die Wirtschaftsfreiheit – ist nur schwer vom politischen, sozialen und kulturellen zu trennen, und die individuellen Freiheiten bilden immer ein Ganzes, auch wenn es natürlich die ökonomische Seite sehr viel konkreter zu präzisieren und zu verteidigen galt. Beide beschäftigten sie sich intensiv mit ökonomischen Empfindungen und Gefühlen. Sympathy, das Sich-Versetzen-Können in die Gefühle anderer, war für beide der Ausgangspunkt des moralischen Lebens. Und für beide haben alle Menschen dazu annähernd die gleiche Ausstattung. Öffentliche Bildung und Erziehung war beiden ein Wert an sich – nicht zuletzt, weil sie zu grosszügigen, noblen oder zärtlichen Empfindungen und damit zu besseren Urteilen, vor allem in politischen Belangen, befähigte.
Beide waren sie mit Unsicherheit konfrontiert und versuchten, sie in ihre Theorien einzubauen: Gerade der Tauschakt bedingt «tâtonnement» oder «imaginative uncertainty», um mit tausend kleinen Unbekannten zu Rande zu kommen. Das ganze Universum ist letztlich unsicher und braucht die philosophische Aufklärung, um noch kurz vor dem Abgrund der «vaterlosen Welt» (Smith) zu entgehen. Es gibt auch kein fundamentales und sicheres Prinzip des moralischen Urteils, alles ist immer «correction and convergence of sentiments» (Rothschild zu Smith). Bei Condorcet ist dies sehr ähnlich, und es gibt bei ihm sogar so etwas wie eine Moral der Nachsicht, ein Interesse für die Umstände und Gründe, die ein Individuum entschuldigen. Das Individuum und der ständige Respekt vor ihm sind für beide zentral.
Das Gleiche gilt für die politische Welt: Auch sie ist eine Welt von Empfindungen, dank dem Fortschritt ohne heftige Konflikte (für Smith auch ohne Revolu-tionen!), aber auch ohne Sicherheit, was eine zivilisierte politische Diskussion und entsprechende institutionelle Voraussetzungen notwendig macht.
Die Gesellschaft und deren Politik ist letztlich unheroisch und Tugend weitgehend privat. Sainte-Beuve wird später Condorcet vorwerfen, dass die Leute in seiner Idealgesellschaft vor Langeweile sterben und dass «allgemeine Mittelmässigkeit» herrschen würde, womit er gar nicht so unrecht hatte: Condorcets Welt war jene liberal komplexe und zuweilen auch widersprüchliche, wie sie von Montesquieu – den Condorcet sonderbarerweise nicht liebte und dessen Wirkung auf Smith wohl auch Rothschild zu wenig beachtet – brillant vorskizziert und von Tocqueville, Durkheim und Weber analysiert wurde: Heroische Taten sind nicht mehr gefragt, und es herrscht eine Moral der Massen und der Mittelmässigkeit, die zwar sehr viel breiter und gleicher wirkt, aber auch Möglichkeiten zur Devianz und Anomie eröffnet.
Weitere Bücher zu Smith und Condorcet
Mit «Der Weg zum Wohlstand, Ein Adam Smith Brevier» ist in der bewährten Machart der «Meisterdenker der Wirtschaftsphilosophie», von Gerd Habermann 2002 eine repräsentative Sammlung von Passagen aus dem Gesamtwerk von Smith erschienen. In 16 verschiedenen Kapiteln sind sie unter den beiden Schwerpunkte «Der Mensch als soziales Wesen» sowie «Die spontane Ordnung» wohl geordnet worden. Auch Habermann ist der technizistischen Spezialisierung abhold und konzentriert sich auf die Entdeckung des vielfältigen und komplexen Autors. Ein wirkliches Brevier, das man gerne mitnimmt und dessen einzelnen Textstellen man geniesst.
Eine St. Galler staatswissenschaftliche -Disser-tation von Stephan Lüchinger schliesslich ist unserem anderen Autor gewidmet. Die eindrückliche Arbeit beschreibt zuerst die biographischen Eckpunkte Condorcets, dann eingehend die Rechte des Menschen und Bürgers, die Staatsstrukturen sowie die tragenden Werte seiner Staatsphilosophie: Freiheit, Gleichheit, Sicherheit. Wertvoll ist der Einbezug eines Teils des umfangreichen, bislang unveröffentlichten Nachlasses. Es handelt sich um die erste deutschsprachige Monographie über das politische Denken Condorcets. Dieser erscheint darin als eine zuweilen utopisch denkende, auf Rationalität und Humanität gründende, bedeutende «Persönlichkeit der Ideen- und Verfassungsgeschichte Frankreichs und Europas». Erstaunlich vieles hat sich über zwei Jahrhunderte, bis zuletzt im Maastricht-Europa, in einem in der konkreten Wirklichkeit komplexen Konglomerat verwirklicht: Seine Freihandelsideen, aber auch seine laizistisch-demokratische Bildungstheorie sind heute ebenso soziale Realität wie seine sozialen und gesellschaftlichen Vorstellungen, wie etwa Vereinheitlichung der Masse und Gewichte, Mindestlöhne sowie ein umfassendes System von Sozialversicherungen.
Emma Rothschild, Economic Sentiments: Adam Smith, Condorcet, and the Enlightenment. Harvard U.P., 2001.
Der Weg zum Wohlstand, Ein Adam Smith Brevier, Hrsg. von Gerd Habermann. Meisterdenker der Wirtschaft, Ott Verlag 2002.
Stephan Lüchinger, Das politische Denken von Condorcet (1743-1794). Haupt Verlag 2002.
Dr. Daniel Brühlmeier, geboren 1951, leitet die Abteilung für Politische Planung und Koordination der Staatskanzlei des Kantons Zürich.