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Obacht, Oikophobie
Benedict Beckeld, zvg.

Obacht, Oikophobie

Kultureller Selbsthass ist ebenso Ausdruck zivilisatorischen Niedergangs wie Xenophobie. Es sind Alarmsignale einer Gesellschaft, die aus den Fugen gerät.

 

Es war an einem Spätsommerabend am Ende des letzten Jahrzehnts, und ich sass draussen beim Abendessen, im Schatten des römischen Kolosseums – das Em­blem eines untergegangenen Weltreichs, dessen Trümmer überall zu sehen waren. Eine meiner Tischgenossinnen, eine junge Doktorandin in alter Geschichte, meinte plötzlich, sie könne sich niemals über eine andere Kultur negativ äussern. Nicht nur dies, sie habe auch nicht das Recht dazu. Als ich sie fragte, was sie über eine Kultur sagen würde, die zum Beispiel einen Adolf Hitler produziert habe, erwiderte sie, dass sie als Österreicherin und Europäerin europäische und österreichische Kultur kritisieren dürfe und demnach auch jenen brutalen Diktator. Auf meine darauffolgende Frage, ob dann nach ihrer Logik ein Nichtösterreicher beziehungsweise Nichteuropäer den Nazismus nicht kritisieren dürfe, bekam ich keine klare Antwort. Aber sie bestand weiterhin darauf, man dürfe nur seine eigene Kultur kritisieren, niemals diejenige anderer.

In vielen Ländern rund um den Okzident werden solche Gespräche häufiger: Sie stehen beispielhaft für die verrottete Einstellung der Oikophobie, den Hass oder die Abneigung gegenüber der eigenen kulturellen Heimat. Bezeichnenderweise war meine Gesprächspartnerin Teil unserer sozialen Elite: Doktorandin, geistreich, gewandt in mehreren sowohl alten als auch neuen Sprachen. Ich blickte zum Kolosseum hinauf, dessen dunkle Ruine uns an die Sterblichkeit aller Dinge erinnerte.

Solche Meinungsäusserungen zeigen auf eine Zivilisation, die nicht mehr an sich selbst glaubt, die nicht mehr die eigenen Sozialwerte der individuellen Freiheit, der Demokratie und des wissenschaftlichen Skeptizismus verteidigen will. Oikophobie ist heute Mainstream: Eine schwedische Historikerin präsentierte 2016 die These, es gebe so etwas wie eine einheimische schwedische Kultur nicht; die Gruppenleiterin amerikanischer freiwilliger Lehrer in Afrika vor einigen Jahren informierte die Lehrer, dass der Aufenthalt in einer fremden Kultur ihr beigebracht habe, dass die USA den Terroranschlag vom 11. September 2001 wegen der amerikanischen Aussenpolitik völlig verdient hätten (dies weiss ich, weil ich selbst einer der freiwilligen Lehrer war). Aussagen dieser Art sind heute vollkommen normal, jeder kennt sie. Aber wie konnte es überhaupt zu dieser Kultur des kollektiven Selbsthasses kommen? Die Antwort auf diese Frage liegt in einer in der Geschichte oft wiederholten Entwicklung, die eine Gesellschaft von naiven und selbstfördernden Anfängen bis zur Selbstverachtung bringt.

«Wie Xenophobie den Fremdenhass oder die Furcht vor Ausländern bezeichnet, so wird unter Oikophobie der Hass oder die Verachtung gegenüber der eigenen Gesellschaft oder der eigenen Zivilisation verstanden.»

Oikophobie ist ein historisches Warnsignal

Die einfachste Definition von Oikophobie ist die als das der Xenophobie entgegengesetzte Extrem. Wie Xenophobie den Fremdenhass oder die Furcht vor Ausländern bezeichnet, so wird unter Oikophobie der Hass oder die Verachtung gegenüber der eigenen Gesellschaft oder der eigenen Zivilisation verstanden (altgriechisch oikos: Heim, Haus, Haushalt).

Die Geschichte kennt zahlreiche Beispiele von Oikophobie: Es gab sie im alten Griechenland, in Rom, in den französischen und britischen Reichen und heute auch in den USA. Der historische Ablauf gleicht einem Muster: Ein anfangs relativ unzivilisiertes und unkultiviertes, aber mit grosser Flexibilität und ungeprüfter Stärke versehenes Volk zieht im Dienste seiner Götter in den Krieg; erste Erfolge gegen benachbarte Völker führen zu Reichtum und Ansehen und mittelbar auch zu einer Nationalidentität, mit der literarische Epen und andere Hochkulturerscheinungen einhergehen. Das Volk erreicht allmählich seine Erfolgsspitze mit so viel Reichtum, dass eine breite und permanent der Musse gewidmete Gesellschaftsschicht kreiert wird, und generell fällt dieses Zeitalter der gipfelnden politischen Macht mehr oder weniger mit dem Höhepunkt der kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften zusammen. Die gesellschaftliche Oberschicht sowie oft auch viele Menschen der niedrigeren Sozialschichten verfügen schliesslich über so viel Reichtum und Macht, dass sie ihr eigener Sozialzustand und ihr eigenes Ansehen gegenüber ihren Landsleuten mehr beschäftigen, als es der Zustand und die Gesundheit der Gesellschaft selbst tun.

Und so ist die Gesellschaft an dem Punkt angekommen, wo Oikophobie ausbricht. Unterschiedliche Interessengruppen entstehen, die einander feindlicher gesinnt sind als auswärtigen Kontrahenten gegenüber. Aus Mangel an externen Feindbildern werden interne kreiert: Menschen derselben Zivilisation. Die Ironie dabei: Musse, Macht, Erfolg gehen dem gesellschaftlichen Selbsthass voraus. Was Freud im «Unbehagen in der Kultur» den Narzissmus der kleinen Differenzen genannt hat – den Trieb, sich gegen andere durch auch kleine Distinktionen wie eine tugendhafte Tat oder das neuste Gerät zu behaupten –, wird zu einem Muster der Interessenkollision.

Die Beispiele für dieses Phänomen sind reich gesät: Die ersten Oikophoben waren Studenten des Sokrates, wie Hippias von Elis und Alkidamas, die Kosmopolitismus und Pazifismus betonten und sich über die Griechen lustig machten; legendär sind Tacitusʼ Lob der Tugenden der Germanen und Briten und Verurteilung der Laster der Römer sowie die Ausraster Juvenals gegen orientalische Einflüsse, welche seiner Meinung nach die römische Kultur und Religion langsam verdarben; im 1. und 2. Jahrhundert n.Chr. wandten sich römische Frauen von der heimischen Religion ab und orientalischen Sitten zu. Voltaires Vorliebe für den Hinduismus und (etwas weniger) auch für den Islam steht dem glühenden Hass auf die Kirche gegenüber. In der Neuzeit findet sich das Phänomen bei der Beat-Generation, den Hippies und auch bei Angela Merkel, die gerne einmal das Schwenken einer Deutschlandfahne auf einem Parteitag unterbindet, aber Grenzen für Migranten öffnet.

Die heutige Politik kennt zwei klare Lager: Während die Oikophoben vor allem in linken Gegenden zu finden sind, beherrschen Nichtoikophobe und in manchen Fällen Xenophobe und antioikophobische Reaktionäre die politische Rechte. Die zunehmende Feindseligkeit zwischen diesen zwei Seiten zum Beispiel in den USA kommt zur erwarteten Zeit, da jenes Land schon seinen Gipfel erreicht hat und nun langsam auf der anderen Seite abfällt. Die geschichtliche Entwicklung der Oikophobie hat eine lähmende Auswirkung auf viele Aspekte der amerikanischen Gesellschaft – so wie schon längst der europäischen –, auf deren Kultur, Politik und Militär. Die USA sind heute derart auf innere Zankereien fixiert, dass sie nicht mehr imstande sind, nach aussen Kraft und Einheit zu demonstrieren.

Das Wechselspiel zwischen Progressivismus und Konservatismus ist aus den Fugen

Dass dies geschehen würde, hat bereits Platon vor fast zweieinhalb Jahrtausenden prognostiziert: In seinem «Staat», Buch 8, erklärt er, je mehr Freiheit und Egalitarismus in einer Gesellschaft vorzufinden seien, desto mehr würden die Bürger sich selbst als dem Staat überlegen empfinden. Wir brauchen Platons mürrischem Faschismus und Kommunismus nicht zuzustimmen, um uns dennoch die Weisheit seiner Beschreibung des gesellschaftlichen Untergangs klarzumachen. Konservatismus und Progressivismus sind beide notwendig, aber in unterschiedlichen Massen zu unterschiedlichen Zeiten. Eine eher progressive Sicht ist in einer jungen Gesellschaft wichtig, da sie sich neue Ideen samt der Kraft und Fertigkeiten Aussenstehender anzueignen braucht, um so schnell wie möglich aus prekären frühzivilisatorischen Umständen fortzuschreiten. In einer «älteren», stabilen, etablierten Gesellschaft dagegen werden konservative Kräfte wichtiger, damit die Gesellschaft ihr tragfähiges Fundament und ihre Selbstverteidigungsfähigkeiten nicht verliert. Das ewige Verhängnis abendländischer Gesellschaften ist, dass in frühen Zeiten viele Menschen sehr konservativ, in späteren viele sehr progressiv sind – genau das Gegenteil dessen, was nötig wäre. So beschleunigt sich der Niedergang zum Ende hin.

Die abendländische Oikophobie lässt sich auch in der deutschsprachigen Welt sehr deutlich nachvollziehen. Da diese Welt aus mehreren Ländern besteht und da selbst Deutschland erst 1871 zu einem einheitlichen Reich vereint wurde, ist der historischen Entwicklung der Oikophobie dort komplizierter als in zentrierteren Kulturen wie etwa Frankreich oder England nachzuspüren. Doch lässt sich feststellen, dass die deutschsprachige Welt heute an der allgemeinen okzidentalen Oikophobie beteiligt ist. Dass zum Beispiel jeder, der sich gegen die hemmungslose Immigrationspolitik, die bis vor kurzem in Deutschland betrieben wurde, geäussert hat, politisch korrekt als Rassist abgestempelt wurde, ist ein deutlich oikophobisches Phänomen. Dass eine Partei wie die AfD als Gegenreaktion zu den genannten Handlungen Angela Merkels entstanden ist, entspricht auch parallelen Entwicklungen in anderen Gesellschaften, die an Oikophobie leiden oder gelitten haben: beispielsweise dem Wahlsieg von Donald Trump in den USA, der als gegenoikophobische Reaktion zu verstehen ist.

Ein wiederkehrendes Muster

Wie soll es weitergehen? Niemand kann die Zukunft voraussagen, aber man kann, indem man sich in die Philosophie der Geschichte vertieft, einen zumindest groben Entwurf künftiger Strömungen skizzieren. Durch diese immer wiederkehrenden Erscheinungen der Oikophobie und deren Gegenreaktionen lässt sich nämlich eruieren, dass sich die Geschichte in dieser Hinsicht kreisförmig bewegt. Diese Art Bewegung schliesst jeden eschatologischen oder teleologischen Geschichtsbegriff aus – den Gedanken, dass die Geschichte eines Tages in irgendeine Art messianische Vervollständigung münden werde, dass das menschliche Dasein einen höheren Zustand erreichen werde, woran sich nachher wenig ändern wird. Solche Geschichtsauffassungen – worüber in der Geschichte der Philosophie viel mehr geschrieben als gedacht worden ist – sind oft vorgeschlagen worden und haben sich genauso oft als falsch erwiesen.

Wann auch immer man an ein Ziel der Geschichte geglaubt hat, hat jenes Ziel immer eine bewundernswerte Neigung gezeigt – durch blossen Zufall, natürlich –, innerhalb der Lebenszeit des glaubenden Denkers zu fallen. Aber dieser Glaube ist totalitär und tyrannisch: Wer auch immer glaubt, dass es ein Ziel der Geschichte gebe – sei dieses Ziel nun die Vollendung des germanischen Christentums in Preussen (Hegel), kommunistische Kon­trolle der Produktionsweisen (Marx), Liberaldemokratie und gemütlicher Pluralismus (Fukuyama), der flächendeckende fanatische Egalitarismus oder vielmehr die Herrschaft der bislang Unterdrückten (die heutigen Oikophoben) –, wird in gewisser Hinsicht die Tyrannei befürworten, da das Ziel als solches dem Streben, der Veränderung und, am wichtigsten, der Meinungsverschiedenheit schliesslich eine Grenze setzen muss. Unter älteren Denkern liesse sich auch etwa Augustin erwähnen, dessen Gottesstaat die Geschichte in Epochen aufteilt, die sich dann Richtung makelloser Glückseligkeit ausarbeiten, was wiederum andeutet, dass alle künftigen teleologischen Geschichtstheorien, wie zum Beispiel diejenigen der vorher genannten drei Herren sowie die der Oikophoben, im Schatten des Kreuzes stehen; politische und vor allem marxistische Progressivisten machen sich oft über religiöse Denker eines Vollendungsnarrativs lustig, ohne zu verstehen, dass sie selbst im selben Fehler verwickelt sind.

Die Geschichtsphilosophie kann aber sehr nützlich sein, wenn wir einen bescheideneren Rahmen durch die Ablehnung der teleologischen Sicht – d.h. des Progressivismus – für sie konstruieren. Anstelle der progressiven Politik erkennt diese Geschichtsphilosophie, dass sich die Geschichte wiederholt, dass der immer wiederkehrende Verfall einer Gesellschaft in die Oikophobie durch die menschliche Natur und die Massenpsychologie, die durch die Jahrtausende immer dieselben bleiben, getrieben wird. In diesem Sinne war der erste Geschichtsphilosoph nicht etwa Hegel oder gar Augustin, sondern Thukydides, bei dem wir die vorchristliche und meiner Meinung nach richtige Auffassung finden, nach welcher die Verwirrtheit und Unverbesserlichkeit der Menschennatur jedwede Teleologie ausschliessen. Vielmehr kehrt die Oikophobie in den späteren Phasen einer Gesellschaft immer wieder zurück, weil Menschen – nicht jeder einzelne, aber eine klare Mehrheit – auf die gleichen gesellschaftlichen Umstände gleich reagieren.

So zeigt uns die Kreisform dieses Aspekts der Geschichte auch, dass eine Gesellschaft zwar nicht unbedingt durch die Oikophobie untergeht, doch aber ihre Kraft und Weltstellung einbüssen muss. Entstehende Gegenbewegungen vermögen den Selbsthass in der Regel nicht zu hemmen, vielmehr führt die sich immer verschärfende Reaktion zu einer noch gefährlicheren Zuspitzung, so dass die Gesellschaft jede nach aussen gewandte Kraft verliert und auf der Weltbühne irrelevant wird. Die Zeit wird dann für das nächste Grossreich gekommen sein, das umso einfacher das frühere marginalisieren wird. Erst die vollkommene Erlahmung der Kräfte kann es ihr eines Tages erlauben, wieder aufzustehen und den Zyklus neu anzufangen. Für die Zukunft der Vereinigten Staaten, als Beispiel, heisst das: Die USA dürften zwar in näherer Zukunft kaum von herumtreibenden Barbaren überfallen und zerstört werden, aber auf globaler Ebene kontinuierlich an Einfluss einbüssen.

Die Binarität des Entweder-oder überwinden

Bedauerlicherweise hat uns heute die Oikophobie voll erfasst. Sollte es nicht möglich sein, sich für andere Traditionen und Zivilisationen zu interessieren und von ihnen zu lernen, gleichzeitig aber auch das eigene Kulturerbe wertzuschätzen? Offenbar sind viele Menschen dazu leider nicht in der Lage, und je oikophobischer wir werden, je mehr wir den Multikulturalismus zu uns nehmen, desto weiter entfremden wir uns von unseren Wurzeln und von unserer Kultur. Da wir diese unsere Kultur nicht mehr verstehen, hört man oft, wie europäische und amerikanische Oikophoben den Begriff des Abendlandes beziehungsweise des Westens nur spöttisch verwenden und diejenigen schmähen, die «abendländische Werte» befürworten. Aber auch jene spöttischen Leute lieben abendländische Werte, sie wissen es nur nicht – das heisst, sie wissen nicht, dass sie abendländisch sind.

Weil es völlig legitim ist, stolz auf unsere Zivilisation zu sein – was keineswegs die Anerkennung ihrer Mängel und vergangener Verbrechen ausschliesst –, müssen wir das Phänomen der Oikophobie verstehen lernen. Nur durch Verstehen können wir es bekämpfen, auch wenn uns die Geschichte zeigt, dass wir die Prozesse, die sie mit sich bringt, vielleicht nur verlangsamen und nicht vollständig stoppen können. Sobald wir erkennen, dass die Oikophobie eine Art Pathologie ist, die sich unter bestimmten sozialhistorischen Umständen entwickelt, dass sie keine interessante konsequente Philosophie enthält, sondern eher als blosse Kurzschlussreaktion stattfindet, werden wir für unsere tägliche Begegnung mit ihr besser gerüstet sein.

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