O Thurgau!
Wie alle Ostschweizer Kantone geniesst auch der Thurgau bei Städtern einen zweifelhaften Ruf. Dabei vermag es gerade die Provinz, den Blick in die Ferne zu richten.
Die Kartause Ittingen, nahe dem Hauptort Frauenfeld, gilt vielen als schönste Sehenswürdigkeit des Thurgaus. Keine typische, in sich geschlossene Klosteranlage, sondern fast ein kleines Dorf, laden die dazugehörigen Gebäude wie die barocke Klosterkirche und die alte Mühle zur Einkehr. Das stimmungsvolle Ambiente machen sich Organisatoren von Seminaren und Veranstaltungen aller Art zunutze, um ihre Teilnehmenden zu Introspektion einzuladen. Vielleicht würden sich manche Besucher wünschen, dass sich die Kantonsbevölkerung eine Grundregel des Kartäuserlebens zu eigen machen würde: das Schweigegebot. Denn in derselben Regelmässigkeit, mit der wir in den Medien über des Schweizers liebste Ferienziele lesen, müssen wir jeweils erfahren, welch Zumutung unser Dialekt sei. «Darf eine so schöne Frau so hässlich sprechen?», fragte der «Blick», als mit Anita Buri 1999 eine Thurgauerin zur Miss Schweiz gekrönt wurde. «Wenn sie den Mund aufmachen, hören andere weg», verkündete einst auch eine «10 vor 10»-Moderatorin, derweil uns SRF ironiefrei weismachen wollte, für eine «idée suisse» zu stehen. Auch dass mit Reto Scherrer, Mona Vetsch, Karim Hussein und Lara Stoll Thurgauer Stimmen in allen Deutschschweizer Gehörgängen sind, scheint den Dialekt nicht wohlklingender zu machen.
Mit Martin Hannes Graf, selbst Redaktor beim schweizerdeutschen Wörterbuch «Idiotikon», erkundete ein Sprachwissenschafter die Eigenheiten und den Status der «Thurgauer Mundart in Geschichte und Gegenwart».1 Sein Verdikt bestätigt, was wir Sprecher längst wussten: Es gibt keine «objektiven» Gründe, den Thurgauer Dialekt hässlich zu finden. Zwar müssen wir uns wie die anderen Ostschweizer Spitzmäuler unsere hellen Vokale «vorwerfen» lassen. Auch bleibe uns Thurgauern das «r» im Halse stecken, doch das unvoreingenommene (sprich: nichtschweizerische) Ohr stört das genauso wenig oder genauso sehr wie all die Grossartigkeiten der hierzulande beliebteren Idiome. Für Linguisten ist der Thurgauer Dialekt sogar eine Rarität, denn die Sprecher praktizieren eine weltweit seltene Art, zwischen den Konsonanten p und b, d und t sowie k und g zu unterscheiden. Wie die Thurgauer Sprachwissenschafterin Astrid Krähenmann vor einigen Jahren herausfand, arbeiten wir nicht mit Stimmhaftigkeit und Aspiration, sondern mit der Länge der Aussprache. So wird das p lang, das b kurz ausgesprochen, indem wir vor dem fraglichen Laut eine unterschiedlich lange Pause machen. Eine linguistische Besonderheit, die dem exotischen Spitznamen des Kantons gerecht wird: «Mostindien», in den Konturen an eine Birne und an den entsprechenden Subkontinent erinnernd und natürlich der grösste Obstbaukanton – nomen est omen, in vielerlei Hinsicht.
Die Provinz als geistiger Zustand
Nein, am Dialekt an sich liege es nicht, dass das Thurgauische derart unbeliebt sei, klärt uns die Sprachwissenschaft auf. Doch es kommt schlimmer: Es liegt an unserem Ruf. Während einiger Jahre durften wir uns neben den Dialektrankings auch Umfrageauswertungen zum Image der Kantone antun. «Rückständig» seien wir im Osten, rückständig und «kleingeistig». Dieselben Eigenschaften werden zwar auch den Wallisern und Bernern angelastet, doch diese scheinen im Endergebnis von Erinnerungen an Bergferien oder vom Hauptstadtzauber überlagert. Der Thurgau dagegen ist halt Provinz, weg vom Schuss und aus dem Sinn. Wer sich nur auf das mediale Abbild des Thurgaus verlässt, schliesst sich schnell den Vorurteilen an. Denn wenn es nicht um unseren angeblich scheusslichen Dialekt geht, dann ist von reichen ausländischen «Impfdränglern» zu lesen, von Tierquälerei und Sodomie auf Bauernhöfen, von Jägern, die Schafe nicht von Wildschweinen unterscheiden können, und Sektenanhängern, die im ländlichen Idyll vergebens auf das Ende der Zeit warten. Die grossen Zeitungen berichten allenfalls auch noch über erfolgreiche und/oder exzentrische Unternehmer des Kantons, von denen einer flugs einen eigenen Staat ausgerufen hat, über den Hickhack ums Frühfranzösisch oder über die ewigen Nöte des lokalen Gewerbes mit den Einkaufstouristen, die samstags jeweils die Gassen von Konstanz verstopfen. Insgesamt aber interessiert die östliche Ecke der Schweiz wenig. Weg vom Schuss und aus dem Sinn.
«Provinz ist kein geografischer, sondern ein geistiger Zustand», würde einer meiner Kollegen darauf antworten. Die Vorurteile gegenüber ländlich geprägten Gebieten sind letztlich immer in etwa dieselben und werden gerne mit Abstimmungsergebnissen untermauert. Regelmässig ist die Dichte der Politplakate im Thurgau wesentlich aussagekräftiger für den Ausgang eines Abstimmungssonntags als die Parolen, die jeweils meinen heutigen Wohnort Winterthur dominieren. Die Vorwürfe gegenüber den «rückständigen» Landkantonen beruhen jedoch auf einem falschen Verständnis dessen, was fortschrittlich und offen tatsächlich meint. Nirgends kann man sich gemütlicher in die eigene sozioökonomische Komfortzone lauter Gleicher und Gleichgesinnter zurückziehen als in städtischen Gebieten. Im Dorf dagegen gibt es nur eine Schule für alle; wer mitreden will, muss sich wohl oder übel die Voten aller Redefreudigen an der Gemeindeversammlung anhören; und wer einen Bootsanlegeplatz (das knappe Gut am See) will, der betätige sich besser auch sonst am Dorfleben, am besten in einem Verein. So entspinnt sich über den ganzen Kanton ein feines Netz aus Beziehungen zwischen Personen und Institutionen, das man leicht als «Filz» abtun kann. Doch wie andernorts ist es ebendieser Filz, der sich im politischen und kulturellen Leben besonders engagiert und zu dessen Stabilität beiträgt. Letztere spiegelt sich auch in der Zusammensetzung des Regierungsrats: Während auf Bundesebene die Zauberformel längst Geschichte ist, bestätigt die Thurgauer Stimmbevölkerung stets die eigene gewinnende Gleichung aus zweimal SVP und je einmal FDP, Mitte und SP.
«Dem Neuzugezogenen mag es exzentrisch und übermässig
lokalpatriotisch erscheinen, wenn am 1. August nicht der
Schweizerpsalm erklingt, sondern die Dorfbewohner lieber
‹O Thurgau, du Heimat› besingen.»
Der weitschweifige Blick in die Ferne
Der Bund ist einem ohnehin fern. Dem Neuzugezogenen mag es exzentrisch und übermässig lokalpatriotisch erscheinen, wenn am 1. August nicht der Schweizerpsalm erklingt, sondern die Dorfbewohner lieber «O Thurgau, du Heimat» besingen. Doch so wenig man in den Zürcher Zeitungen und vom Leutschenbach über den Thurgau erfährt, so respektvoll distanziert ist der Thurgau gegenüber den Zentren. Gerade einmal drei Thurgauer schafften bislang den Sprung in die Landesregierung, wovon der letzte, Heinrich Häberlin, vor mehr als hundert Jahren sein Amt antrat. Als einstiges Vasallengebiet richtet man seinen Dank erst in die Ferne, schliesslich hat es Napoleon gebraucht, um kraft der Mediationsakte in den Kreis der souveränen Kantone aufzurücken. Der Neffe des Kaisers wuchs denn auch teils im Thurgau auf, auf dem Schloss Arenenberg, wo eine herrliche Aussicht über den Untersee und die Halbinsel Reichenau zu geniessen ist, während nebenan angehende Bauern und Bäuerinnen ihr Handwerk erlernen.
Nicht nur vom Arenenberg aus blicken Thurgauer über die Grenzen. Kleinheit und Kleinräumigkeit schärfen das Auge für Wandel und dessen Folgen, lassen es aber gleichzeitig weiterschweifen. Denn ja, «urban» ist der Thurgau wirklich nicht. Zwar gibt es Städte, die als Bildungs-, Wirtschafts- und Kulturstandorte unbestritten wichtig sind. Doch als Zentren nimmt diese niemand wahr, schon gar nicht den Hauptort Frauenfeld. Stattdessen zieht es die Thurgauer in unterschiedliche Richtungen, in die heimliche Ostschweizer Hauptstadt St. Gallen, den Rhein entlang nach Schaffhausen oder nach Winterthur und weiter. Und eben immer wieder nach Konstanz, längst nicht nur, um beim Einkauf zu sparen. Entsprechend liest sich auch das Werk des bekanntesten Thurgauer Schriftstellers nicht wie das eines Regionalautors: Peter Stamm ist mehr Weltbürger denn Weinfelder. Auch wenn er seine Heimat immer wieder in detailreichen Beschreibungen einflicht, scheint sie ihm zugleich seltsam fern zu sein. Selbst dann, wenn er seine Figuren im Thurgau verwurzelt, finden sie erst in der Abkehr wieder zur Heimat. So meint der Ich-Erzähler in «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (2018):
«Im Winter lag der Nebel in dieser Gegend oft wochenlang, es war die Wetterlage, die ich wie keine andere mit meiner Kindheit verband, eine kalte Welt, grau und diffus und zugleich verborgen, in der alles, was nicht ganz nah war, nicht zu existieren schien. Erst als ich nach dem Abitur das Dorf verlassen hatte und in die Stadt gezogen war, hatte ich gelernt, wie weit die Welt war und wie unsicher. Vielleicht hatte ich deshalb zu schreiben begonnen, um die Landschaft, die Sicherheit meiner Kindheit wiederzugewinnen, aus der ich mich selbst vertrieben hatte.»
Ich kenne diesen Nebel, doch weder erkaltete noch verkleinerte sich unter ihm die Welt. Wenn jeweils das deutsche Bodenseeufer im Grau verschwand, wuchs der See zum Schwäbischen Meer. Der Horizont wurde ungleich weiter, während die kindliche Fantasie unter der Geborgenheit jener Nebeldecke in alle Richtungen entfliehen konnte – und gerne wieder ans heimische Ufer zurückkehrte.