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Nur selbstbestimmt ist man auch frei

Souveränität ist ein definierendes Merkmal jedes Staatswesens. Doch sie kann von der Digitalisierung untergraben werden.

 

Nestlé und Liechtenstein sind ähnlich mächtig, aber unterschiedlich souverän. Von beiden ist nur Liechtenstein souverän. China und Liechtenstein sind unterschiedlich mächtig, aber beide sind souverän. Diese Aussagen treffen zu, wenn mit Souveränität die Anerkennung eines rechtlichen Status bezeichnet wird. Wer den Status der politischen Souveränität innehat, verfügt über höchste Rechtssetzungskompetenz innerhalb eines Bereichs und Territoriums (innere Souveränität) und muss bei Entscheidungen keine andere Rechtssetzungsinstanz um Erlaubnis bitten (äussere Souveränität). Ein rechtlicher Status kommt einer natürlichen oder juristischen Person nicht graduell zu. Zum Beispiel ist eine Person entweder Eigentümerin einer bestimmten Sache oder nicht, Bundesrätin oder nicht, CEO oder nicht etc. Die Anerkennung eines rechtlichen Status ist ein Rechtsakt, der entweder gilt oder nicht gilt. Die Stadtpräsidentin im Vollbesitz ihrer Kräfte mit hohen Zustimmungswerten ist nicht in höherem Grad Stadtpräsidentin als zu einem anderen Zeitpunkt, an dem sie sich schlecht fühlt oder wenig Unterstützung geniesst.

Die zivilisatorische Errungenschaft des Rechtsstatus beruht darin, dass durch dessen Anerkennung für eine vorhersehbare Dauer der zermürbende Kampf um den Besitz des Status unterbrochen und letzterer auf Dauer gestellt wird. Das Alphatier im Dschungel muss seinen Status jederzeit mit Gewalt verteidigen, eine Bundesrätin bleibt für die Dauer der Amtszeit Bundesrätin, ohne den Status als solchen ständig verteidigen zu müssen. Die im Kampf um den Status gebundenen Kräfte werden freigesetzt für anderes. Das erklärt den evolutionären Erfolg von rechtsförmig kooperativen Gesellschaften mit Statusfunktionen. Dass eine Person einen Status innehat, bedeutet auch, dass sie nur über die mit dem Status gesetzten Kompetenzen verfügt. Das Gesetz schränkt ein, was man mit einem Auto tun darf oder welches die Kompetenzen der Stadtpräsidentin sind. Dies ändert nichts am Status, den alle Personen, die denselben Status zuerkannt haben, in gleicher Weise haben. Dass ich mit meinem Auto auf der Autobahn nur 120 km/h fahren darf, ändert nichts daran, dass ich der Besitzer des Autos bin. Meistens ist zudem für die Zuerkennung eines Status ein anderer Status Bedingung. Zum Beispiel kommen für den Autobesitz nur Erwachsene mit bestandener Autoprüfung, für ein Stadtpräsidium nur Bürger und Bürgerinnen der entsprechenden Stadt in Frage etc.

Auch der höchste Gesetzgeber kann eingeschränkt werden

In bezug auf die politische Souveränität sind diese Punkte auch der Fall. Erstens: Die Inhaber des Status der Souveränität sind statusgleich. Liechtenstein und China zum Beispiel anerkennen sich als statusgleiche Souveräne bezüglich ihrer jeweiligen Territorien. Anerkennungsakte schaffen rechtliche Statusgleichheit zwischen in anderer Hinsicht ungleichen Akteuren, ohne dass die anderweitige Ungleichheit verschwinden muss. Zweitens: Es ist falsch, mit Bodin zu behaupten, Souveränität könne man sich nur als unbeschränkt und ungebunden (absolut) denken. Der höchste Turm muss nicht ein unendlich hoher Turm sein, um der höchste Turm zu sein. Der höchste Gesetzgeber muss kein uneingeschränkter, von jeglichen Gesetzen losgelöster Gesetzgeber sein, um höchster Gesetzgeber zu sein. Da die höchste Gesetzgebungskompetenz auf ein Territorium beschränkt werden kann, ist es auch nicht widersprüchlich, dass auf einem anderen Territorium eine andere Instanz höchster Gesetzgeber ist. Es ist begrifflich nicht widersprüchlich, den Souverän qua höchsten Gesetzgeber einzuschränken, weder im Verhältnis des Souveräns zu den Untergebenen noch im Verhältnis zwischen den Souveränen. Wünschbar ist es ohnehin. Wer würde vernünftigerweise einen Gesetzgeber anerkennen, dessen Kompetenzen in keiner Weise begrenzt sind? Gemäss John Stuart Mill, einem Leuchtturm des Liberalismus, sind menschliche Individuen in dem ihre Person betreffenden Bereich «souverän». Das leuchtet ein, denn keine äussere Autorität, auch nicht der politische Souverän, kann zum Beispiel legitim entscheiden, mit wem eine Person sexuelle Beziehungen haben soll. Der persönliche Bereich der moralischen Person ist eine «negative domain» des politischen Souveräns. Auch ein Volksentscheid würde den Zwang einer Person zu sexuellen Beziehungen in keiner Weise legitimieren können. Das bedeutet nicht, dass der politische Souverän in einem anderen Bereich, wo die Grundrechtsdomäne des Individuums nicht tangiert ist, keine positive höchste Gesetzgebungskompetenz haben kann. Drittens: Der Kreis der Akteure, denen politische Souveränität überhaupt zukommen kann, ist stark eingeschränkt. Eine höchste Rechts­setzungskompetenz kann nur einem Akteur zuerkannt werden, in dessen Status Rechtssetzungskompetenz überhaupt vorgesehen ist. Kurz: Eine politische Autorität ist genau dann souverän, wenn sie auf ihrem Territorium über höchste Rechtssetzungskompetenz verfügt und dieser Status im inneren Verhältnis von den ­Gesetzesunterworfenen und im äusseren Verhältnis von den anderen Souveränen rechtsförmig anerkannt wird.

Das Ideal der Autarkie, der vollständigen Selbstversorgung oder ökonomischen Unabhängigkeit, sollte nicht mit dem Begriff der Souveränität verwechselt werden. Entscheide eines höchsten Gesetzgebers, Handel zu treiben und privates Eigentum von Firmen durch ausländische Personen zu erlauben und damit Abhängigkeiten in Kauf zu nehmen, sind dann souverän, wenn der ­Gesetzgeber dafür keinen anderen Gesetzgeber um Erlaubnis bitten muss. Dass jeder Entscheid eines höchsten Gesetzgebers im Zeichen von Abhängigkeiten steht, ändert daran nichts. Jeder Status ist mit beschränkter Verfügungsgewalt und Kraft verbunden. Auch der moralische Status des menschlichen Individuums und die Souveränität der Person im Sinne Mills werden nicht durch die Fragilität der Menschen in Frage gestellt. Im politischen Bereich ist vollständige ökonomische Unabhängigkeit keine notwendige Voraussetzung für höchste Gesetzgebungskompetenz. Was Autarkie wäre, ist ohnehin unklar, weil nicht feststeht, welche objektiven ökonomischen Bedürfnisse es gibt. Nicht die Autarkie stiftet die Souveränität, sondern der Souverän bestimmt, wie viel Autarkie erwünscht ist. Autarkie ist auch nicht das notwendige Ziel von Souveränität, denn der Souverän ist genau dann souverän, wenn er, ohne einen anderen Gesetzgeber um Erlaubnis zu bitten, entscheiden kann, ob und wie er Abhängigkeiten handhaben will. Dass Staaten Muskelspiele betreiben, um Handelsverträge zu ihrem Vorteil zu gestalten, ändert daran auch nichts. Die Tatsache, dass Staaten mit anderen Staaten verhandeln und Verträge zum (ungleichen) wechselseitigen Vorteil schliessen, impliziert, dass sie sich gegenseitig den Status der Souveränität zuerkennen und ihr Verhältnis über das Recht und nicht die reine Macht und Willkür gestalten wollen. Würde Souveränität mit Autarkie zusammenfallen, wäre der Souverän nicht mehr souverän in seinen Entscheiden, er müsste alle Entscheide der Autarkie unterordnen. Kurz: Der Souverän ist dann souverän, wenn er sich reversibel für oder gegen Autarkie und alle Zwischenstufen entscheiden kann, ohne einen anderen Souverän um Erlaubnis bitten zu müssen. Reversibel ist ein Entscheid nicht dann, wenn keine Kosten anfallen, um ihn rückgängig zu machen. Reversibel bedeutet nur, dass ein Entscheid im Prinzip geändert werden kann, dass ein Vertrag gekündigt werden kann und dass die Kosten dabei bewusst in Kauf genommen werden.

«Der Souverän ist genau dann souverän,

wenn er, ohne einen anderen Gesetzgeber um Erlaubnis zu bitten,

entscheiden kann, ob und wie er Abhängigkeiten handhaben will.»

Souverän entscheiden – gemeinsam mit anderen

Wie kann man sich das rechtliche Verhältnis zwischen Souveränen denken? Souveräne Rechtssetzungskompetenz beinhaltet die Ermächtigung, Rechtssetzungskompetenz zu delegieren und diese Delegation zu widerrufen, entweder im Verhältnis zu unteren oder gemeinsamen äusseren Instanzen. Wenn und nur wenn höchste Rechtssetzungskompetenz in bezug auf einen Bereich explizit in irreversibler Weise delegiert wird, gibt die delegierende politische Autorität ihre Souveränität preis. Das bedeutet: EU-Mitgliedstaaten, die in einem bestimmten Bereich ihre höchste Rechtssetzungskompetenz gemeinsam wahrnehmen, können aufgrund der Austrittsklausel als souverän betrachtet werden, unabhängig davon, welche Austrittskosten anfallen. Nichtmitgliedschaft kann auch Kosten haben. Das bedeutet ja auch nicht, dass ein Staat wegen seiner Nicht-EU-Mitgliedschaft seine Souveränität preisgibt. Für transnationale Problembereiche ist die ­gemeinsame Wahrnehmung von höchster Rechtssetzungskompetenz sicher sinnvoll, und Exit-Optionen als Prüfstein der Souve­ränität der Mitglieder sind es auch. Unabhängig davon, was man inhaltlich vom Brexit hält, gilt: Die Tatsache, dass ein EU-Mitglied unter Wahrung demokratischer Verfahren austreten kann, ist ein kolossaler zivilisatorischer Fortschritt im Vergleich zu den blutigen Sezessionskriegen, die wir aus der Geschichte kennen. Der Brexit ist «the proof of the pudding» der politischen Souveränität der EU-Mitgliedstaaten.

Bezogen auf das Verhältnis der Schweiz zur EU impliziert das Gesagte: Unabhängig davon, wie man den Rahmenvertrag der EU mit der Schweiz inhaltlich betrachten will, eine Preisgabe der Souveränität als rechtlichen Status stellt er nicht dar, wohl aber eine Einschränkung des Bereichs, innerhalb dessen der höchste Schweizer Gesetzgeber diese Kompetenz ausüben kann. Letzteres ist aber reversibel. Es handelt sich um einen kündbaren internationalen Vertrag, und die Schweiz müsste keinen anderen Gesetzgeber um Erlaubnis bitten, um ihn zu kündigen. Die Kosten sind eine andere Frage. Auch der Nichtabschluss des Vertrags verursacht Kosten, und es wäre absurd zu behaupten, dass die Schweiz ihre Souveränität verliert, wenn sie souverän entscheidet, den Vertrag nicht abzuschliessen. Die Schweiz bleibt souverän, wenn sie sich reversibel für oder gegen den Vertrag und für dessen Auflösung nach einem Abschluss entscheiden kann.

Wenn ein Staat Rechtssetzungskompetenz mit anderen Souveränen in einem bestimmten Bereich gemeinsam wahrnimmt, kann das folgendermassen gedacht werden: Ein Staat ist souverän in der Beziehung zu anderen Staaten, wenn er die Kompetenz hat, gemeinsam mit anderen Souveränen politische Instanzen zu gründen und ihnen Kompetenzen zu übertragen und aus diesen regierenden Instanzen wieder auszutreten, ohne einen anderen Staat um Erlaubnis bitten zu müssen. Die Beurteilung der Kosten ist jeweils eine sehr gewichtige Frage, aber nicht eine Frage der Souveränität, solange autonom über die Inkaufnahme von Kosten entschieden werden kann.

«Ein Souverän, der es erlaubt,

dass systemrelevante Firmen oder Industriebereiche

in den Besitz eines anderen Souveräns gelangen,

riskiert ebenfalls eine Aushöhlung

der Performanz souveränen Regierens.»

Die Kraft des Rechts

Welche Rolle spielen nun aber Macht oder Gewalt im Begriff der Souveränität? Recht auf der einen und Macht und Gewalt auf der anderen Seite sind normativ ein Gegensatz, weil Zwangsgewalt kein Recht stiftet, gegenüber dem es eine Gehorsamspflicht gibt. Es werden nur Tatsachen geschaffen, denen man sich nicht entziehen kann, zum Beispiel den Todesdrohungen der Mafia an bestimmten Orten. Aus der Drohung oder Ausübung von Gewalt an sich ergibt sich aber keine begründbare Gehorsamspflicht gegenüber einem Gesetz, nur ein Klugheitsgebot, einem Befehl ad hoc Folge zu leisten. Niemand hat die Pflicht, der Mafia oder sonst einer auf reiner Gewalt beruhenden Instanz zu gehorchen. Gewalt erzwingt eine Handlung, sie stiftet darüber hinaus keinen verpflichtenden Handlungsgrund. Befehle unter Androhung von ­Gewalt konstituieren keine Souveränität, es wäre immer gerade derjenige «souverän», der die Gewalt unmittelbar und effektiv androht, zum Beispiel der Bankräuber in bezug auf den Bankangestellten, dem er die Pistole an den Kopf hält, usw. Gewalt an sich konstituiert keine Souveränität als höchste Rechtssetzungskompetenz, aber sie kann Souveränität untergraben, das Chaos herstellen, in dem nur noch der jeweils Stärkere willkürlich befiehlt. Dieser Zustand wird mit der sozialen Anerkennung von Souve­ränität aber überwunden. Der vielzitierte Ausnahmezustand ist nicht notwendigerweise ausserhalb des Rechts anzusiedeln. Er ist im Recht vorsehbar und auch in allen Rechtssystemen vorgesehen. Er beweist also keineswegs den Status eines übermächtigen «Souveräns» ausserhalb des Rechts. Er ist entweder im Recht vorgesehen und geregelt, wie derjenige, der zurzeit in der Schweiz herrscht («ausserordentliche Lage»), oder er ist Ausdruck einer Ausserkraftsetzung des Status der Souveränität durch einen Zustand der Befehlsdurchsetzung des jeweils gerade Stärkeren, der schon kurz danach vielleicht nicht mehr der Stärkere ist.

Performativ gibt es also einen Zusammenhang von Souve­ränität und Macht. Erstens: Macht oder Gewalt kann Souverä­nität nicht konstituieren, aber ausser Kraft setzen. Bezogen auf die Digitalisierung bedeutet dies zum Beispiel, dass die Verwendung von Daten und die Kontrolle über internationale Datenströme in die Domäne der gemeinsamen höchsten Gesetzgebung der Souveräne gehören und dass derjenige Souverän, der keine entsprechenden digitalen Kompetenzen aufbaut, eine Aushöhlung der Performanz seiner Souveränität riskiert. Ein Souverän, der es erlaubt, dass systemrelevante Firmen oder Industriebereiche in den Besitz eines anderen Souveräns gelangen (nicht zu verwechseln mit diversifiziertem ausländischem Privatbesitz), riskiert ebenfalls eine Aushöhlung der Performanz souveränen Regierens.

Hinzu kommen neue Aufgabenbereiche der Souveräne. Der im Zeichen der Klimaveränderung gemeinsam zu regulierende Oikos deckt sich in keiner Weise mit den politischen Grenzen der Souveräne und macht deren Zusammenarbeit unabdingbar. Aber auch gegenläufiger Druck zur Wahrung von Eigenständigkeit und Abschliessbarkeit ist nicht zu unterschätzen, wie die Coronakrise zeigt. Über Nacht können Souveräne nach wie vor Grenzen schliessen und Warenströme unterbinden, wenn es die physische Sicherheit gebietet. Die Diagnose, dass Souveränität durch Globalisierung, Europäisierung, Klimaerwärmung oder Digitalisierung völlig ausgehöhlt worden sei, trifft also nicht zu. Dass diese Phänomene für Souveräne aber eine machtpolitische Herausforderung darstellen, ist nicht zu bestreiten.

Zweitens: Die auf Dauer gestellte Zuerkennung des Status der Souveränität ist ein sozialer Anerkennungsakt, von dem eine formale, aber auch reale Wirkung der Ermächtigung ausgeht. Wenn Liechtenstein von seiner Bevölkerung grossmehrheitlich anerkannt wird und von allen souveränen Staaten als souveräner Staat einstimmig anerkannt wird, geht davon eine nicht zu unterschätzende Ermächtigung aus, und zwar nicht nur rein formal, sondern auch performativ in bezug auf die Handlungsmacht von Liechtenstein. Akteure, die sich Liechtenstein mit Gewalt ausserhalb des Rechts entgegensetzen wollen, bekommen es mit der nicht zu unterschätzenden gemeinsam gestifteten Macht des legitimen Rechts zu tun, und zwar national und international. Es wäre dann nicht ein Machtkampf Supermacht gegen Liechtenstein, sondern Supermacht gegen alle, die an der Idee des Rechts festhalten. Es ist vernünftig zu hoffen, dass dies eine übermächtige Mehrheit bleibt.

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