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Nur Flansch und Steg

Der Stahlbauer James Licini

Nur Flansch und Steg

Anfang und Urgrund aller Dinge sei das Wasser, erklärte Thales. Es sei die Luft, meinte bald darauf Anaximenes. Und Heraklit sprach vom Feuer als dem Urstoff, von dem alles abzuleiten sei. Empedokles endlich schloss keinen der drei Stoffe aus und fügte als vierten unvergänglichen Baustein die Erde hinzu. «Und der Stahl?» – so ist man zweieinhalbtausend Jahre später versucht zu fragen, wenn man vor den jüngsten Werken des Stahlbauers James Licini steht. Könnte nicht auch in diesem Material ein Urprinzip verborgen sein?

Über Jahrzehnte, mal gradlinig, mal über Umwege, hat Licini sich diesem einen Werkstoff angenähert und sich irgendwann ausschliesslich auf Hohlprofil und Doppel-T-Träger aus Stahl eingelassen. Ein rotes Buch war immer in Griffweite. In den «Stahlbau-Tabellen» finden sich technische Daten zu allem, was er braucht – Daten zu Breitflanschträgern etwa, HEB oder HEA, die Flanschen parallel oder geneigt, mit Abmessungen der Stege und Widerstandsmoment, alles Angaben, die für die Planung im Hoch- und Tiefbau verwendet werden, denn die Stahlträger sind das Innenskelett, das Industriebauten, Tiefgaragen und Brücken stabil werden lässt. Und da Licini für seine neuen Konstruktionen nur diese Träger benötigt, bezeichnet er sich stolz als «Stahlbauer» und als «Handwerker», für den technische Perfektion und Materialkenntnis die Grundlage sei und Stahl, so wie er aus den Walzen der Stahlwerke komme, der vollkommene Werkstoff.

«Nur wenn du weisst, was du in der Hand hast, kannst du etwas Überzeugendes machen», sagt Licini und erzählt von seiner Jugend in Zürich. Von seinem Vater, dem Bauarbeiter, und von der Nachbarin, die eines Tages, als der Vierzehnjährige nach Hause kam, zu ihm sagte, sein Vater sei rücklings vom Baugerüst gestürzt und gestorben, worauf der Junge umkehrte, in die Kirche rannte und dafür betete, dass der Vater in den Himmel komme, denn wahrscheinlich schien es ihm nicht, schliesslich habe dieser ja oft genug geflucht. Licini erzählt, wie er Bauarbeiter werden wollte, erzählt, dass die Mutter ihm wegen der Sauferei von diesem Beruf abgeraten, und der Berufsberater mit Blick auf seine Pranken und kräftigen Oberarme empfohlen habe: lern Schmied. Also lernte Licini, das Eisen in Formen zu zwingen, für Gebrauchsgegenstände, Werkzeuge, später auch Dekorationen.

Sein weiterer Lebensweg gehört zur ebensogern erzählten wie gerngehörten Legende des Proletarierkindes, das in den Olymp der Kunst aufsteigt, nicht über die goldene, breite Treppe, sondern über abgelegene Stiegen, die es, erwachsen geworden, selbst aus Eisen und Stahl schmiedete und aufrichtete, zwischendurch immer wieder andere Gegenden erkundend. «Das kann ich auch!» soll Licini, Mitte zwanzig, gesagt haben, als er das erstemal ein Werk des berühmten Eisenplastikers Bernhard Luginbühl sah, und sich sogleich aufs schwere Motorrad geschwungen haben, die Arme tätowiert, die Gelage des Olymps schon in den Beizen auf dem Weg vorwegnehmend, und wer kräftig genug war, wurde dort zum Boxkampf aufgefordert und – wie der österreichische Schwergewichtsmeister – unter tosendem Beifall k.o. geschlagen.

Es gibt eine zweite Erzählung dieses Aufstiegs, jenseits der Legenden und Kolportagen, und diese beschreibt einen Weg der Radikalisierung durch Reduktion, einen Weg, der die Schrottpoesie und die Assemblagen aus Eisenfundstücken hinter sich lässt, die manchmal Fabelwesen ähnelten oder archaischen Gerätschaften, und hinführt zu schlichten Stelen oder Quadern aus nichts als aufeinandergestellten oder aneinandergeschraubten Stahlprofilen der Hochofenindustrie, denen Licini nicht länger mit Hilfe seiner Schmiedekunst Krümmungen und Verbiegungen aufnötigt. Einen Weg, auf dem er sich von den Pionieren der Schweizer Eisenplastik emanzipiert und zum Künstler mit eigenständigem Werk avanciert. Die Frage, was alles durch die Beschränkung auf das Wesentliche erreicht werden könne und was dieses Wesentliche überhaupt sei, gibt ihm dabei noch immer die Richtung vor.

Inzwischen lebt Licini in einem Dorf, zwischen Zürich und Winterthur. Hier baut er seit Jahren eine ehemalige Scheune zu Wohnraum und Werkstatt aus. Er hat Zwischendecken und Wände eingezogen und eine Treppe aus Stahl nach oben geführt, von dem Raum mit dem grossen, einladenden Esstisch und dem Herd, auf dem meist heisser Espresso steht, hinauf in sein Arbeits- und Ruhezimmer, Richtung Olymp also, wenn man so will. Dort oben stehen auf einem Tischchen zwei schlanke Quader aus Stahl, ungefähr 25 Zentimenter hoch und je drei Zentimeter breit und tief. Licini nimmt einen der beiden Quader in die Hand, legt ihn hin, im rechten Winkel zum zweiten: «Mehr braucht es nicht, um alles zu machen, was ich will.»

Vielleicht liegt in dieser Reduktion, diesem Verweis des Stahls auf nichts als sich selbst, das Geheimnis, warum so viele Leute Licinis Plastiken geradezu verehren. Der glatte Industriestahl ist Projektionsfläche der Moderne, bietet sich an als Ersatz für den verlorengegangenen Glauben an die Urelemente der Antike. Licinis Stahlbauten der jüngsten Phase wirken unverrückbar, unbestechlich, unparteiisch. Indem die immer rechtwinklig miteinander kombinierten Stahlträger seiner Plastiken dem Auge nur die vertikale und horizontale Richtung vorgeben, unterstreichen sie seine Suche nicht nur nach dem Urstoff, sondern auch nach der Urform. Licinis Konstruktionen wirken wie ein logisch zwingendes Argument, das der Zukunft ihre Unwägbarkeiten nimmt.

In letzter Konsequenz, so sagt Licini, müsse er wohl versuchen, eine Plastik zu schaffen, die aus nichts als einem einzigen, perfekt gearbeiteten T-Träger bestehe. Der wird dann Höhe- und zugleich Endpunkt seiner Karriere sein, und dies, so betont er, wäre, wenn überhaupt, nur deshalb möglich, weil er 60 Jahre lang seriös gearbeitet habe. Nur deswegen sei sein Stück Stahl nicht bloss irgendein Stück Stahl, sondern «wahnsinnig schön». Doch noch ist er nicht so weit, noch bestehen seine Stahlbauten aus mindestens zwei Teilen. Und noch stehen zwei schlanke Stahlquader auf dem Tischchen im oberen Stockwerk. Wenn Licini im Olymp angekommen sein wird, dann wird sich wohl auch dort nur noch einer befinden.

James Licini wurde 1937 in Zürich geboren. Nach einer dreijährigen, mit achtzehn Jahren abgeschlossenen Lehre als Schmied arbeitete er als Eisenleger, Kassen- und Bauschlosser. In den 60er Jahren begann er, nebenher abstrakte Eisenplastiken zu schaffen. 1971 wurden diese in einer Galerie ausgestellt, ein Jahr darauf erhielt er das Stipendium für Bildhauer der Stadt Zürich. Inzwischen gehört er zu den bedeutendsten Schweizer Eisen- und Stahlplastikern. Er lebt und arbeitet in Oberwil-Nürensdorf im Kanton Zürich.

Die Photographien aller abgebildeten Werke in dieser Ausgabe stammen von Giorgio von Arb, der James Licini seit bald zwanzig Jahren mit seiner Kamera begleitet.

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