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Nullzins

Oder: Zero Interest Rate.

Nullzins
Hannes Grassegger, photographiert von Sebastian Magnani.

Teil 1: Hundert Jahre Krieg

Rund um das Jahr 1490 ist eine neue Technologie, knapp 40 Jahre zuvor entwickelt, dabei, sich rasant auszubreiten und den jahrhundertealten Stillstand aufzubrechen.

Der Buchdruck senkt die Kosten, Informationen zu erhalten, massiv, zudem erhöht er die Umlaufgeschwindigkeit von Informationen drastisch. Immer mehr Leute erhalten immer leichter Informationen.

Die noch druckfrischen Flugblätter verbreiten sich «in Windeseile». Europa wird eins und für kurze Zeit hat es auch ein Gewissen: Erasmus von Rotterdam. Gleichzeitig werden allerorten neue Territorien erschlossen, neue Kontinente, neue Welten. Die Menschheit ist dabei, sich neu zu erfinden. Die Renaissance. Ein neues Menschenbild entsteht, der Humanismus. Die Menschheit beginnt zu träumen. Im Jahr 1516 schreibt der Engländer Thomas Morus «Utopia» und erfindet die bessere Zeit als einen Ort in der Welt.

Kurz darauf beginnt in einem abgelegenen deutschen Städtchen namens Wittenberg ein wütender Theologe den Quellcode der Gesellschaft umzuschreiben. Jenes Schriftwerk, das festlegt, was falsch und was richtig ist: die Bibel. Natürlich nutzt er die neue Technologie, um seine Idee zu verbreiten. Auch wenn es schon vor Luther Bibelübersetzungen gab – seine kommt, als die Technologie bereit war. Bald und für lange Zeit ist die Lutherbibel das meistverkaufte Buch. Die gedruckte Bibel ist die Killer-App des neuen Mediums – sie verhilft dem Buchdruck zum Durchbruch.

Menschen entscheiden sich auf der Basis der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen. Ändert sich ihre Informationsbasis, wird sich auch ihr Handeln verändern. Dank dem Buchdruck stehen die neuen Ideen jetzt allerorts bereit. Luther zerbricht die Ordnung der Welt.

Vor ihm gab es eine einzige Unternehmung, die katholische Kirche, die das Monopol besass, aus dem Quellcode die Applications zu schreiben, die Anwendungen, die das Verhalten der Menschen regulieren. Ablassbrief, Eheschluss und Sakrament.

Durch Luther kommt die katholische Kirche in massive Konkurrenz. Zwei inkompatible Systeme stehen nun im Wettkampf. Luthers deutschsprachiges Betriebssystem ist offen, die katholische Kirche ist ein zentralisiertes Betriebssystem. Beide versprechen den Nutzern exklusiven Zugang zum Paradies.

Was folgt, ist ein totales Aufbrechen und eine Neuorganisation der europäischen Gesellschaft. Eine gewaltige Disruption erfasst die westliche Welt in den kommenden hundert Jahren, zuerst langsam, dann immer schneller, bis sie zum Krieg wird, kein totaler Krieg, sondern ein permanenter Ausnahmezustand, der immer wieder ausbricht, lokal und global. Eine Reihe paralleler Konflikte, die sich so verdichten, dass sie eins werden – Layer des 30jährigen Krieges, den viele kommen sahen, aber niemand verhindern konnte.

Ein Krieg, der die Grenze zwischen Soldat und Zivilist neu zog.

Ein Krieg der Freelancer, der Armeen von Disruptionsverlierern, die ihre Loyalitäten vermieteten. Menschen, die nichts mehr zu verlieren hatten und auf der Grenze zwischen zwei Welten liefen. Die eine noch nicht greifbar, die andere schon nicht mehr zu halten.

 

Teil 2: JETZT

24 Tabs offen auf deinem Browser, drei Chatkanäle, Kopfhörer im Ohr, was essen. Mail verfassen und gleichzeitig Urlaubsbilder posten. Facebook im Gehen. Ständig am Arbeiten und doch zu nichts kommen. Mit dem Smartphone auf der Party. Kaltes Licht im Gesicht. Zero Interest. Das ist Nullzins.

Von Liechtenstein über Brüssel bis Tokio. Die Herrscher des Geldes, in ihren Festungen der Vernunft, an den Rockzipfeln die verängstigten Regierungen, haben es offiziell beschlossen. Die Zentralbanken haben die Zinsen gesenkt auf null oder sogar leicht darunter.

Nullzins, das ist eine neue Welt.

Solange es den Kapitalismus gibt, wurde Geld von alleine mehr. Kapital, Kapitalzinsen und Zinseszins. Dass Schulden anstiegen, nur wegen des Zinses – das ist, was das Kapital für viele zum Gespenst machte: Es bewegte sich von alleine.

Gläubigern verlieh der Zins die Kraft und Schuldner trieb er vor sich her.

Nullzins lässt daher die Gegner des Kapitalismus jubeln. Das ist krasser als ein paar leere Regale im Supermarkt in Venezuela. Nur hat das ausserhalb der Finanzwelt noch niemand verstanden.

Der Zins steckt in allem, was ist im Kapitalismus, weil der Wirtschaftskreislauf auf Geld beruht, und das wurde stets verzinst. Jede Unternehmensgründung, jedes Produkt musste mehr abwerfen, als es Zins gibt. Sonst könnte ein Geldgeber, anstatt zu investieren, sein Geld auf die Bank bringen und dort Zinsen kassieren. Wenn es keinen Zins gibt, dann fahren wir heute in den Urlaub statt zur Bank. Die Welt bewegt sich so schnell, wie der Zins es will.

Zinsen gibt es erst im Morgen. Je höher der Zins, desto mehr lohnt es sich, auf das Morgen zu warten. Besser morgen als heute.

Zinsen messen den Wert der Zukunft.

Zinsen sind das Auge, mit dem das Kapital in die Zukunft schaut.

Das Weizenkorn heute noch nicht zu essen und dafür morgen die Ernte einzufahren – das ist der Beginn unserer Zivilisation. Der Anthropologe David Graeber hat beschrieben, wie Schulden unsere Zivilisation schufen. Doch ohne Zinsen gäbe es keine Schulden, denn Geld verleiht nur der, der dafür etwas bekommt: Zinsen. Vielleicht war es das, was uns zurückhielt, jetzt sofort all das zu tun, was uns gerade in den Sinn kommt. Was uns Gesetze, Staaten und Beziehungen aufbauen liess.

Welches System, welche Macht auch regierte: Es ging immer um die Verwaltung der Zukunft. So entstand die Welt, in der wir leben.

2007 aber ist die Zukunft implodiert. Als all die Papiere, die damals hin und her verkauft worden waren, PDFs voll mit Sätzen, die bessere Zukünfte versprachen, lange Verträge, die immer mehr Kapital aufsaugten wie Schwämme, als ihr Wert unermesslich wurde, da wurde ihr Gehalt plötzlich unklar. Glas halbvoll oder halbleer? Niemand wusste es mehr. Der Wert zerfiel.

Wohin man auch blickte, der Zweifel pulverisierte jede Zukunft. So kam es zur Finanzkrise. Die wurde zum permanenten Ausnahmezustand.

Irgendwann wussten die Wirtschaftsministerien nicht mehr was tun und riefen nach dem Retter in der Not. Den Letzten, die noch etwas tun konnten: Zentralbanken. Jene, die das Geld drucken und die Zinsen bestimmen: die Hüter der Marktwirtschaft. Die analysierten die Lage – und entschieden auf Nullzins. Erst in den USA und nun in Europa.

Wenn heute eine Bank bei der Europäischen Zentralbank – einer Bank für Banken – Geld auf ihrem Konto hinterlegt, bekommt sie nichts dafür. In Japan, Dänemark, Schweden oder der Schweiz sogar weniger als nichts.

Die Mehrheit der Weltwirtschaft, 60 Prozent der Wirtschaftsleistung, schwebt heute im Nullzinsbereich zwischen –1 und 1 Prozent. Das ist realer Nullzins.

Es bringt der Bank keinen Gewinn mehr, Geld zu haben. Daher bekommen wir für unser Sparkonto 0,1 Prozent minus Gebühren. Das Geld, das der Vater für sein Kind anlegt, das er sich vom Mund abspart – am Ende des Jahres hat es nichts gebracht. Das ist Nullzins.

Die Zukunft bringt keinen Mehrwert. Je niedriger der Zins, desto weniger lohnt es sich, aufs Morgen zu warten.

Nullzins ist auch kein Negativzins. Kein radikaler Verfall des Vorhandenen, kein Zeichen dafür, dass die Vergangenheit besser war als das Jetzt. Mit dem Nullzins beginnt das Jetzt erst richtig. Wir haben uns darin eingerichtet, dort, wo der Nullzins regiert. Ob in der EU, der Schweiz, Japan und mehr oder minder auch in den USA. Es ist ein Phänomen jener Gesellschaften, die lange genug gut vom Geld gelebt haben. Hier werden jetzt Zukunft und Vergangenheit beschworen, gleichzeitig. Postmoderne, Postkommunismus, Postpunk, Postkapitalismus, Postutopia, alles fühlt sich vorbei an, das Morgen ist sichtbar, aber tritt nie ein.

2007 begann auch der Direktanschluss des Menschen ans Netz. In diesem Jahr verkündete Steve Jobs die Epoche des Smartphones. Es war der Beginn unserer konstanten Verknüpfung. Durch die technologische Vernetzung sind Ereignisse, Fragen, Antworten sofort bei uns. Wir sind hyperpräsent. Heute herrscht YouTube-Realität, ein Ineinanderfallen von Zukunft und Vergangenheit, Ernst und Spiel.

Rihanna tanzt, während Hitler den Krieg erklärt; Nasheed besingen den Dschihad, während TedTalker strahlend von einer leuchtenden Zukunft berichten. Alles ist erhältlich. Die ultimative Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Wir haben kein Leitmedium, sondern Speichermedien. In der Nullzinskultur staut sich die Zeit. Die Null ist zum Ideal geworden.

In Deutschland, Europas grossem Kernstaat, hat die Politik die schwarze Null, die Nichtveränderung der Staatsschuld, zum Hauptziel erklärt, für das man alles andere zu opfern bereit ist. In der Schweiz stimmt mehr als ein Drittel für eine Initiative, die von dem kleinen Land aus das Wachstum der Weltbevölkerung auf null stellen will. Sogar Ökonomen predigen das Nullwachstum.

Wir kommen im Jetzt an. Es gibt so viel Jetzt, dass wir die Verwaltung der Gegenwart automatisieren. Es ist Google-Now-Zeit. Realtime: unsere Uhren sind zu Trackern unserer selbst geworden. Zählen jeden Schritt. Wichtiger, als zu wissen, wann wir sind, ist, dass wir sind.

Europas Mitte kauft sich Apps, um die Gegenwart zu spüren, übt sich in der Achtsamkeit, will Mindfulness erlangen. Ausatmen, einatmen. Leben im Jetzt. Besser heute als morgen. Day by Day. Minute für Minute. Mit jedem Atemzug. Ökonomische Kurzfristigkeit wird spirituelles Prinzip.

Das Gegenteil von Nachhaltigkeit ist der Fall. Nullzins, das ist der Geniesse-den-Moment-Zins. Das ist Slackline-Balancieren im Park. Lieber Fitnessstudio als Rentenkasse zahlen; YOLO genauso wie die Fixierung aufs absolut reale Essen, wie es im Restaurant Noma im Nullzinsstaat Dänemark gepredigt wird.

Wir sind ultralokal, weil wir ultraglobal sind. Daher der Boom von New-Age-Musik: I am the Center. Daher vielleicht auch die Japanliebe in Europas Kulturkreisen. Dort gibt es schon seit Jahrzehnten Nullzinskultur.

Gleichzeitig platzen die Sammlungen der Museen, immer mehr wird angekauft. Eine archivarische Bewegung hat sich herausgebildet, finanziert von Eliten. «Wir sind eine Kultur von Verwaltern geworden», erklärt der Science-Fiction-Streifen «Interstellar» von 2014 und spricht über unsere Gegenwart.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist überall sichtbar. Bio-Superfoods, importiert aus den letzten Winkeln dieser Erde, Nike kombiniert Huarache Sneakers aus den 1990ern mit aktuellen Modellen, dazu kann man Vollbart tragen oder auch nicht.

Es ist eine Mixed-Reality – und daran arbeiten auch die Forschungsabteilungen der Technologiekonzerne: die personalisierte virtuelle Erweiterung des Bestehenden. Jedem seinen Headspace plus alles, was ist – seamless und störungsfrei für die anderen.

Denn es ist nicht so, dass man im postmodernen Everything-Goes-Utopia angekommen wäre.

Alles ist ineinandergerauscht, obwohl es zusammen nicht funktioniert. Wir müssen es trennen. Diese Welt ist also eng und reglementiert und politisch korrekt. Nur durch die inhaltliche Entwertung der Symbole funktioniert das Miteinander. Nie war unsere Sprache sauberer. Vorsichtiger. Nervöser.

Fertig Biopolitik. Heute ist Psychopolitik. Unsere Schritte, Gefühle und Gedanken werden verzeichnet und registriert, daraus entsteht ein neues, unsichtbares Datenkapital, das in keine der alten materiellen Bilanzen einfliesst und ganz nebenbei eine neue, die materielle Welt schluckende Struktur füttert.

Die totale Partizipation ist ein Mittel zum Zweck. Transparenz soll dazu beitragen, dass dieses unsichtbare Kapital ungestört fliesst und diese grosse, sich immer weiter vernetzende Maschine, die als Infrastruktur dieses Wirtschaftsmodells funktioniert, die der Technologe Benjamin Bratton «Black Stack» nennt, Störfaktoren unterwegs eliminieren kann. Das totale Netzwerk ist ein hochnervöses System, wir müssen zart sein in ihm.

Während wir gelernt haben, mit dem Nullzins zu leben, merken wir nicht, dass das Medium, in dem wir mittlerweile leben, auch eines ist, das auf Wachstum hinaus will. Das Netz ist nicht statisch. Der Gegner der Nullzinsgesellschaft ist Bewegung an sich. Jene, die springen.

Auch daher muss die Nullzinsgesellschaft Grenzen ziehen. Die noch ungeschriebenen neuen Lebensläufe der Neulinge an Europas Küsten, ihre Unberechenbarkeiten, erscheinen ihr als die eigentliche Bedrohung. Angst kursiert im Volk vor jenen, deren Daten nicht registriert sind.

Daher baut Europa ganz offiziell Zäune: um die biometrische Erfassung sicherzustellen. Genauso wie man in Brüssel Kartellprozesse anstrengt, um die totale Disruption, die Entwicklungssprünge zu verhindern, die sich die Unternehmer aus dem Silicon Valley so herbeisehnen. Die meditierenden Massen wollen nicht disruptet werden, vor allem nicht von jenen Dummköpfen, die die technologische Fortentwicklung einfach fortsetzen, als würde es die permanente Krise gar nicht geben.

Venture Capital gegen altes Kapital. Letztere verdienen an der Erhaltung des Systems, während Erstere von dessen Zerstörung profitieren wollen.

Diese Konfliktlinie hat auch die alte, moralisierende Trennung zwischen links und rechts aufgelöst. Völlig neue Allianzen haben sich gebildet, wie man an den neuen Koalitionen in Deutschland genauso sehen kann, wie auch an den nationalistischen Gedanken des angeblich linken Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders und milliardenschwerer Revoluzzer wie Berlusconi, Trump und Blocher. Vorderhand scheint es sich um einen Konflikt zwischen Progressiven und Konservativen zu drehen, doch die Belegung dieser Begriffe hat sich gewendet.

Der Staat als Status ist in Auflösung, und die Gegner des Status quo, aufstrebende Populisten in fast allen westlichen Staaten, können sich als progressiv bezeichnen, da sie gegen die Stasis des Systems antreten. Denn während die einst Fortschrittlichen zu ängstlichen Bewahrern geworden sind, dehnen die einstigen Bewahrer und Zurückwoller nun ihr Territorium aus. Sie nutzen die Expansionskraft des Netzes und begreifen sie territorial.

Während die Nullzinsgesellschaft das Netz nach innen gewendet hat, wenden die Springer das Netz nach aussen. So entsteht ihnen ein Morgen und es bemisst sich an ihrer Landnahme.

Trump erobert unter dem Jubel seiner Bewunderer Staat nach Staat, Russland setzt seinen Cyberkrieg in eine angeblich autonome Krimrepublik um. Die rechten EU-Gegner vernetzen sich europaweit im Kampf gegen die, die den politischen europäischen Zusammenhalt wollen, und bilden die geschlossenste Fraktion im EU-Parlament. Daher nennt sich die Netzbewegung ISIS «Staat» und versucht im Gegensatz zur ideologisch ähnlich argumentierenden, aber ortlosen Al-Qaida Ländereien zu besetzen.

Wie sehr genau diese Bewegungen die Bewegungslosigkeit der Nullzinsgesellschaft brauchen, zeigte sich am klarsten, als ISIS in Syrien Altertümer sprengte, um sich durch den Verkauf der Überreste an die Archivgesellschaft zu finanzieren.

So zeigt sich, dass die eigentliche Gefahr nicht im Abwärts liegt, im Negativzins, denn ein Abwärts liesse sich irgendwie managen, wie ein Aufwärts sich verwalten lässt.

Nullzins und Inferno sind ein Duo. Die Gefahr droht aus jenen Stasis, die eigentlich eine absolute Beschleunigung sind, denn im Netz ist alles immer überall gleichzeitig. Unsere Entscheidungsgrundlagen haben sich so beschleunigt und verdichtet, das Denken ist dabei, zum Fühlen zu werden. Wir können nur noch spüren, dass wir aus dem System austreten. Aber wir sehen nicht, wohin wir gehen.

Das prophetische Auge des alten Kapitals ist erblindet. Seine unsichtbare Hand weiss nicht mehr, wohin sie greifen soll. Der Zins fehlt, um die Hand zu lenken. Die Krise hat eine neue Krise geboren.

Die Vertreter der Finanzwelt fühlen sich in der Verantwortung, das System an sich am Leben zu erhalten. In einem kürzlich veröffentlichten Brief an seine Anleger schreibt der stille Herrscher der Wall Street, Laurence Fink, Chairman des Boards von Blackrock, der zweitgrössten Vermögensverwaltung der Welt, dass das Kapital sich in einer feindlichen Umgebung befinde. Vor einem Hintergrund einbrechenden Wirtschaftswachstums, der technologischen Disruption und geopolitischer Instabilität besorgen ihn am meisten die Zinsschritte der Nationalbanken. Sparer, also jene, die noch auf das Morgen hofften, verlören, und Investoren würden immer riskantere Anlagen treffen. Die Unternehmen würden zunehmend dem Druck der Kurzfristigkeit erliegen, statt langfristig etwas aufzubauen.

Das Kapital ist wild geworden. Es ist auf der Flucht und sucht weltweit Sicherheit. In den Nullzinsländern wird Grund und Boden leergekauft. Nicht einmal mehr Gold gilt als sicher, so unerkannt fühlen sich diese Zeiten an. Jene, die Geld haben, sind bereit, dieses Geld gegen die abstrusesten Anlagegüter zu tauschen. Daher blüht der Kunstmarkt für Werke unbekannter Neulinge weiter, auch wenn niemand weiss, was deren Arbeiten wirklich wert sind. Die Wertmassstäbe haben ihren Wert verloren, das ist die Krise der Autorität.

Es gibt Investoren, die legen ihr Geld in Legopackungen oder japanischem Whiskey an. Daher jagen die Investoren im Silicon Valley Einhörner, Start-ups, die, wie das Traumwelten versprechende Oculus Rift, Milliarden wert sind, obwohl sie noch keine Produkte haben. Es trifft sogar das Geld selbst an seiner Quelle. Immer mehr Menschen kaufen Digitalwährungen, die nichts als ein paar Codezeilen entsprechen, statt – wie früher – auf die Fähigkeiten der Zentralbanker zu vertrauen.

Gleichzeitig löst sich die Materialität der Zukunft auf. Wem werden die Enteigneten ihre Stimme geben, wenn ihre Absicherungssysteme gegangen sind? Wenn alles für nichts war? Und wir kommen da nicht einfach hinaus, warnen die Banken. Wie sollen all die Kreditnehmer, die gerade die Zukunft verprassen oder in Immobilien – Unbewegliches – geflohen sind, nur ihre Raten zahlen, wenn plötzlich wieder ein Zins entstünde?

Auf unseren Geldscheinen sieht man Felder, Maschinen und Menschen. All das bekommt man für Geld. Für all das steht das Geld. Arbeit, Kapital und Kreativität. Das, was man auf dem Geld sieht, ist das, was mit dem Geld wachsen muss. Wenn das Geld also keine Zukunft mehr versprechen kann, können diese Dinge es auch nicht mehr, das ist die Bedrohung des Nullzinses.

Die alte Welt wird zertrümmert und verscherbelt.

Der Wellness-Zins wird zum No-Future-Zins. Vielleicht aber trägt diese Wucht des neuen Kapitals uns bald auf den Mars, wo SpaceX-Gründer Elon Musk plant, einen Back-up der Menschheit zu erstellen. Just in Case.

Egal ob 1490 oder 2016: wir übersehen, was uns wirklich bevorsteht. Wenn die Hoffnungen gross sind und die Gegenwart ungreifbar, dann geht oft vergessen, dass zwischen dem Heute und dem Paradies ein Wegstück liegt.

Dieser Weg aber ist die unmittelbare Zukunft.

Das echte Morgen.


Hannes Grassegger
ist Ökonom und Journalist. 2016 wurde er mit dem Zürcher Journalistenpreis geehrt. Seine Reportagen, Essays und Artikel erschienen in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen. Zuletzt von ihm erschienen: «Das Kapital bin ich» (Kein & Aber, 2014). Der vorliegende Text ist die stark überarbeitete und aktualisierte Version eines Essays, der erstmals in «Onepage» publiziert wurde.

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