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Null Hochzeiten und zwei Todesfälle

Onkel und Tante in Oberbergendorf benötigen praktisch über Nacht eine Betreuung rund um die Uhr. Ich beauftrage einen tschechischen Pflegedienst. Damit beginnt das Chaos erst richtig.

Null Hochzeiten und zwei Todesfälle
Illustration von Sünne van der Meulen.

Während meinem Onkel auf der Beerdigung seiner Frau alle die Hand gaben und, wie man das halt so macht, ihr tief empfundenes Beileid aussprachen, fiel seine Nachbarin Annemarie1 irgendwie aus der Rolle. Sie klopfte ihm jovial auf die Schulter und rief zu gut gelaunt: «Wird schon wieder!» Im Nachhinein kann ich sagen: Nein, es wurde nicht wieder. Das Chaos ging jetzt erst richtig los.

Wenige Wochen zuvor war bei der Frau meines Onkels, Tante Dorothea, ein Tumor diagnostiziert worden. Es ging dem Ende entgegen. Das hatten ihr die Ärzte im Krankenhaus offen gesagt. Auch mein Onkel baute rapide ab. Er war im Krankenhaus ebenfalls untersucht worden, bei ihm wurde allerdings nichts gefunden. Ich hatte die Vorsorgevollmacht für ihn und für meine Tante, da sie selbst keine Kinder hatten. Nun musste ich praktisch über Nacht für die beiden einen 24-Stunden-Pflegedienst organisieren. Bis dahin hatten es die beiden trotz ihres hohen Alters erstaunlicherweise weitgehend ohne Hilfe geschafft. Aber nun war sie 88, er 91, und es war klar: Sobald sie aus dem Krankenhaus zurückkehren würden, müssen sie zu Hause gepflegt werden. Noch im Krankenhaus gaben sie mir ihren Haustürschlüssel und baten mich, zu Hause alles für eine Pflegerin vorzubereiten.

Vor Ort in Oberbergendorf gab es keinen 24-Stunden-Pflegedienst. Und wenn es einen gegeben hätte, wäre er sehr teuer gewesen. Genauer gesagt, nicht teuer, sondern unbezahlbar. Über drei Ecken wurde mir ein tschechischer Pflegedienst empfohlen. Iva, die Chefin des Pflegediensts, und ich trafen uns. Ich erklärte, dass ich selber nicht helfen könne, da ich 60 Kilometer von meinem Onkel und meiner Tante entfernt wohne, voll berufstätig sei und zwei kleine Kinder habe. Iva stellte die Bedingung, dass die Pflegerin ein eigenes Zimmer haben müsse. Das war kein Problem. Mein Onkel hatte ein grosses Doppelhaus. In der einen Hälfte wohnten er und Tante Dorothea, die andere hatte er vermietet. Mit den Mieteinnahmen konnten die Pflegekosten bezahlt werden.

Kurz bevor mein Onkel und Tante Dorothea aus dem Krankenhaus entlassen wurden, schickte die Agentur die erste Pflegerin. Sie hiess Gabriela, war Mitte dreissig und sprach recht gut Deutsch. Aber ich war irritiert: Gabriela war hochschwanger. Es war klar, dass sie einen schweren 91jährigen Mann und eine 88jährige Frau würde heben müssen. Wie sollte das gehen? Ich rief bei der Agentur an und verlangte, dass sie jemand anderes schicken. Mir wurde gesagt: Okay, das dauert allerdings zwei Wochen.

Nach zwei Wochen kam Ringo, 25 Jahre alt, laut Agentur gelernter Koch. Ringo wurde er genannt, weil die Agentur von vornherein davon ausgegangen war, dass hier in Oberbergendorf niemand seinen tschechischen Namen korrekt aussprechen könne. Ringo sprach kein Wort Deutsch und zockte ununterbrochen auf seinem Handy. Aber das noch grössere Problem war, dass mein Onkel Diabetiker war und Ringo schon deswegen gemäss den In­struktionen ein wenig auf die Ernährung hätte achten müssen. Dass er Koch war, entpuppte sich als Märchen. Mein Onkel rief mich an und beschwerte sich: «Ringo kann überhaupt nur eine einzige Sache zubereiten: Suppenwürfel in der Pfanne erhitzen und eine Handvoll Nudeln hineinwerfen. Das ist jeden Tag unser Mittagessen!»

Ich bekam Panik. Würde ich in Kürze erzählen müssen, dass mein Onkel und Tante Dorothea an falsch gekochter Nudelsuppe gestorben waren? Das passierte zum Glück nicht. Nach weiteren zwei Wochen kam eine 65jährige Pflegerin. Iva senior, die Mutter der Agenturchefin, war erfahren, resolut, vorwitzig. Und dreimal geschieden. Mit meiner Tante ging es da bereits zu Ende. Kurz nach ihrer Beerdigung rief mich der ambulante Pflegedienst an. Er übernahm alle medizinisch notwendigen Schritte für meinen Onkel, die Iva senior nicht selber erledigen durfte. Denn Iva senior war keine ausgebildete Krankenschwester.

Der ambulante Pflegedienst hatte zufällig herausgefunden, dass Iva senior – vielleicht aus Versehen – meinem Onkel nicht das normale Insulin, sondern das Notfallinsulin bereitgestellt hatte. Aber Minus mal Minus ergibt wohl immer ein Plus. Mein Onkel hatte sich das Notfallinsulin bisher immer selber gespritzt, aber nicht unter dem Bauch, sondern unter der Brust. Und wenn man sich das falsche Insulin an der falschen Stelle spritzt, macht man anscheinend genau das Richtige und überlebt. Irgendwelche Hobbykriminalisten aus der Verwandtschaft riefen mich an: Wenn es der Pflegerin darum gehe, meinen Onkel langsam, aber sicher um die Ecke zu bringen, sei der falsche Umgang mit Insulin das perfekte Mittel. Man könne ihr dann keine Absicht nachweisen.

Ich fuhr wieder nach Oberbergendorf, um meinen Onkel zu besuchen. Und um Iva senior die Sache mit dem Insulin zu erklären. Sie versprach, es in Zukunft richtig zu machen. Dann fragte sie: «Kann ich mein Zimmer streichen und neu tapezieren?» Ich fragte: «Wieso?» Sie sagte: «Ich will hier einziehen. Ich habe mit Ihrem Onkel schon ausgemacht, dass wir heiraten.» Nichts hätte mich darauf vorbereiten können. «Iva, glauben Sie allen Ernstes, dass mein Onkel von heute auf morgen vergisst, dass er noch bis vor wenigen Tagen 53 Jahre lang mit Dorothea verheiratet war?» Iva senior antwortete sehr ernst und sehr munter: «Dorothea wollte immer, dass ihr Mann glücklich ist, und jetzt schaut sie von oben zu und sieht, dass ich ihn glücklich mache, und jetzt ist sie auch glücklich.» Ich schwieg. Sie redete weiter: «Wir haben auch schon Trauzeugen. Wenn ich das nächste Mal in Prag bin, hole ich alle nötigen Papiere, und nach der Hochzeit kündige ich meinen Arbeitsvertrag. Dann lebe ich von der Rente Ihres Onkels. Wenn wir ein Jahr verheiratet sind, habe ich selber Anspruch auf Rente.» Iva senior hatte alles durchdacht. Natürlich: Ich musste sie rausschmeissen. Aber wie?

Bei der Agenturchefin konnte ich mich nicht beschweren. Die Agenturchefin war Ivas Tochter. Es war offensichtlich, dass Mutter und Tochter unter einer Decke steckten. Den Vertrag mit der Pflegeagentur konnte ich nicht kündigen, weil nicht ich, sondern mein Onkel ihn unterschrieben hatte. Ich hatte den Eindruck, dass Iva senior meinen Onkel nach dem Tod seiner Frau emotional geschickt aufgefangen hatte und er ihr bereits ergeben war. Wirklich kontrollieren konnte ich sie beide nicht. Dafür wohnte ich zu weit entfernt und konnte zu selten vor Ort sein. Und wenn ich die Vorsorgevollmacht zurückgeben würde, bestand vielleicht wirklich die Gefahr, dass die Pflegerin meinen Onkel umbringt, ohne dass man ihr etwas nachweisen könnte. Iva und Iva waren mir mehrere Spielzüge voraus.

Illustration von Sünne van der Meulen.

Ich schrieb meiner Anwältin, ob wir telefonieren könnten, es sei dringend. Sie schrieb zurück, ja, aber vielleicht sei die Verbindung nicht so gut. Sie sei gerade auf einem Kreuzfahrtschiff vor Vietnam und müsse sich eine ruhige Schiffskabine suchen. Wir sprachen eine halbe Stunde lang. Fünf Minuten hätten gereicht. Meine Anwältin amüsierte sich zunächst ziemlich über die ganze Geschichte. Dann riet sie mir, zur Polizei zu gehen. Sie sagte aber gleich dazu, dass das nichts bringen werde. Eine Anzeige werde so oder so im Sand verlaufen.

Iva senior war sich ihrer Sache sehr sicher. Sie verbreitete selber überall die frohe Kunde. Damit versetzte sie die Nachbarschaft, die Verwandtschaft und die Anverwandtschaft meines Onkels in Aufruhr. Kein Wunder. Schliesslich hatte ich eine Pflegeagentur gesucht, nicht eine Partneragentur. Meine Mutter, die sehr religiös ist, rief mich an. Sie erzählte mir, dass sie zu meinem Onkel gefahren sei und ihn bekniet habe: Wenn er schon unbedingt seine Pflegerin heiraten wolle, dann bitte auf jeden Fall nicht nur standesamtlich, sondern auch kirchlich. Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich nun vielleicht tatsächlich in einer Telenovela lebte.

Meine Mutter erzählte mir, dass sie zu meinem Onkel gefahren sei und ihn bekniet habe: Wenn er schon unbedingt seine Pflegerin heiraten wolle, dann bitte auch kirchlich.

Von da an klingelte ständig mein Telefon. Ein Anruf kam von der Kommunalbehörde. Ein Verwandter wollte meinen Onkel vom Betreuungsgericht für unzurechnungsfähig erklären lassen. Das war ganz und gar aussichtslos. Mein Onkel war im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und absolut nicht unzurechnungsfähig, höchstens eigensinnig. Ein anderer Anruf kam von der Hausverwaltung. In der anderen Doppelhaushälfte, wo vier Mietparteien wohnten, drohten die zwei Balkone herunterzustürzen. Das müsse dringend repariert werden! Falls sich in Kürze zufällig jemand unter den Balkonen aufhalte, werde er möglicherweise erschlagen. Das fehlte mir gerade noch.

Auch die anderen Pflegekräfte aus der Agentur hatten die Oberbergendorfer Hochzeitsglocke bereits läuten gehört. Irgendwie kursierte auch unter ihnen meine Handynummer. Alena, eine Kollegin von Iva senior, die in der Nachbargemeinde eingesetzt war, erzählte mir im Vertrauen: Iva senior sei enorm verschuldet. Sie habe ein Insolvenzverfahren in Tschechien laufen. Ausserdem habe sie genau die gleiche Hochzeitsnummer erst vor wenigen Monaten bei einem steinalten Herrn in Zoppenheim abgezogen. Die Hochzeit sei dann nur deswegen nicht zustande gekommen, weil der Herr ganz kurz vor dem angesetzten Termin gestorben sei. Ich bedankte mich für ihre Offenheit. Es war verdammt schwer zu sagen, wer sich mehr darüber ärgerte, dass dieser mir völlig unbekannte alte Herr verstorben war: die Ivas oder ich.

Ich fragte Alena im Scherz, ob denn Gabriela, die schwangere Pflegerin, inzwischen auch schon geschieden sei. Nein, das nicht. Allerdings habe ihr Freund, der Vater des Kindes, gerade die gemeinsame Wohnung in Brno im Drogenrausch zerlegt. Aha. So genau hatte ich es gar nicht wissen wollen. Ich bedankte mich auch für diese Information.

Was würde denn eigentlich passieren, wenn mein Onkel und Iva senior tatsächlich heiraten würden? Ich dachte nach. Das war die Rettung. Ich rief Iva junior an, ob wir uns treffen könnten. Sie sagte zu. Ich bat eine Freundin, mitzukommen und einfach nur dabei zu sein, als Zeugin des Gesprächs. Zu dritt gingen wir im Stadtpark spazieren. Ich erklärte: «Iva, wissen Sie, Oberbergendorf ist zwar eine grosse Gemeinde mit 13 500 Einwohnern – aber eigentlich ist es ein Dorf – hier passiert nicht viel – immerhin gibt es hier eine Lokalzeitung – und wenn es zu dieser Hochzeit kommt, wird sich das sehr rasch herumsprechen – dann werden die Leute sagen: Ach ja, das ist diese Pflegeagentur, die Erbschleicherinnen vermittelt und mit 91jährigen Patienten verheiratet – Ihre Agentur wird mit vollem Namen in der Zeitung stehen – dafür muss ich gar nichts machen – das wird von ganz alleine passieren.» Mir war bewusst, dass ich wirkte wie ein naiver Berufsanfänger in der Mafiabranche, der zum ersten Mal versucht, jemanden einzuschüchtern.

Ein paar Tage später rief mich Annemarie an. Iva senior sei abgereist. Ich war überrascht, das nicht von der Agentur zu erfahren, sondern von der Nachbarin meines Onkels. Sofort wurde ich wieder panisch: «Ist denn jetzt keine Pflegerin bei ihm?» Ganz so verantwortungslos war die Agentur dann doch nicht. Sie hatten durchaus wieder eine Pflegerin geschickt. Nämlich Gabriela. Sechs Wochen zuvor hatte sie entbunden. Das Baby hatte sie nun mitgebracht. Und nicht nur das Baby, sondern auch den Vater des Kindes.

Ich war hin- und hergerissen. Einerseits: Gabriela wollte meinen Onkel nicht heiraten. Im Prinzip reichte mir das mittlerweile als Qualifikation. Andererseits: Gabrielas Freund musste schon aus Versicherungsgründen entfernt werden. Und das Baby eigentlich auch. Aber das wäre natürlich unmenschlich. Es war wieder einmal ein unhaltbarer Zustand eingetreten. Alles, wirklich alles, was bisher passiert war, war Grund genug, um dieser Agentur zu kündigen. Nur – ob eine gute oder eine schlechte Pflegekraft kommt, ist auch in jeder anderen Agentur ein Glücksspiel. Das Wichtigste im Augenblick war, dass der Junkievater unverzüglich das Grundstück verlassen musste. Ich rief bei der Agentur an und sagte, sie sollten ihn abholen, andernfalls würde ich die Polizei rufen. Immerhin: Sie holten ihn ab.

Illustration von Sünne van der Meulen.

Ich hielt Ausschau nach Alternativen. Mit der Chefin einer anderen Agentur traf ich mich im Haus meines Onkels, damit sie sich vor Ort ein Bild machen konnte. Gabriela wurde klar, dass ihre Tage hier gezählt waren. Sie fragte bei ihrer Agentur, ob sie mit dem Baby vorzeitig nach Hause fahren dürfe. Es wurde ihr gestattet. Ich hatte nichts einzuwenden. Zumal ich anhand ihrer Einkaufsbons sah, dass sie jeden einzelnen Tag fünf Kilo Wurst, drei Kilo Fleisch und zwei bis drei Duschgele gekauft hatte. Sie rechtfertigte sich für diese absurden Ausgaben: «Ich kaufe auch schon für die Pflegerin ein, die nach mir kommt! Oder wollen Sie etwa, dass es Ihrem Onkel schlecht geht?» Auch mein Onkel fand, dass es besser wäre, wenn die nächste Pflegerin sich nicht um ein Baby kümmerte, sondern um ihn. Ich bereitete die Papiere vor. Er unterschrieb den Betreuungsvertrag mit der neuen Agentur und auch gleich die Kündigung der alten Agentur. Die Kündigungsfrist betrug 14 Tage, es mussten also noch zwei Wochen überbrückt werden. Die Agentur schickte Radka. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte: Die zweite Agentur kam gar nicht mehr zum Einsatz.

Als ich das nächste Mal bei meinem Onkel zu Besuch war, stellte ich fest, dass Gabriela nicht nur ihr Baby, sondern auch den halben Hausstand – hauptsächlich Töpfe, Schüsseln und Pfannen – in die zerstörte Wohnung nach Brno mitgenommen hatte. Ausserdem noch eine Gitarre. Iva senior hatte bereits den Schmuck meiner Tante mitgenommen. Ich verstehe, dass 24-Stunden-Pflege ein Knochenjob ist. Verdammt harte Arbeit. Aber das ist noch kein Grund, die Patienten zu bestehlen. Vielleicht hätte ich die Pflegerinnen anzeigen sollen. Aber viel wichtiger war mir im Moment, dass endlich Ruhe einkehrte.

Als ich das nächste Mal bei meinem Onkel zu Besuch war, stellte ich fest, dass Gabriela nicht nur ihr Baby, sondern auch den halben Hausstand – hauptsächlich Töpfe, Schüsseln und Pfannen – in die zerstörte Wohnung nach Brno mitgenommen hatte. Ausserdem noch eine Gitarre.

Radka war kaum angekommen, als sie auch schon ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Nicht etwa mein inzwischen 92jähriger Onkel hatte einen Herzinfarkt, sondern seine Pflegerin. Es war wie verhext. Als ob es sich um eine einzige, riesige Farce-Matrjoschka handelte: In jeder Farce steckte schon wieder eine neue Farce. Es war klar, dass es nun nicht wieder zwei Wochen dauern konnte, bis eine neue Pflegekraft kam. Die Agentur musste sofort einen Ersatz schicken. Jetzt kam Pavel.

Mein Onkel hatte erneut einen Termin im Oberbergendorfer Krankenhaus. Pavel hatte die Aufgabe, ihn im Taxi dorthin zu begleiten. Ich bestellte das Taxi, sagte Pavel telefonisch und schrieb ihm via WhatsApp – wie ich dachte: idiotensicher – die genaue Adresse des Krankenhauses, 2. Stock, Zimmer Nummer 228, wohin er meinen Onkel bringen müsse. Vierzig Minuten nachdem das Taxi losgefahren war, rief der Hausarzt meines Onkels mich an und sagte vorsichtig: «Äh, wir haben hier so eine Situation. Ihr Onkel ist mit seinem Pfleger bei mir. Er hat aber gar keinen Termin.» Ich war verwirrt. Wieso waren sie zur Praxis des Hausarztes gefahren? Wieso waren sie nicht ins Krankenhaus gefahren? Der Hausarzt machte einen Vorschlag, wie man elegant aus der Situation herauskommen könnte: Er werde meinem Onkel einfach Blut abnehmen. «Damit», wie er sich so höflich ausdrückte, «die Fahrt wenigstens nicht ganz umsonst war.» Danach fuhren Pavel und mein Onkel im Taxi wieder nach Hause.

Meinem Onkel ging es nun immer schlechter. Das Palliativteam kam. Einen Tag später starb er am frühen Vormittag in seinem Pflegebett. Die Schwester vom ambulanten Pflegedienst war dabei, als er starb, und informierte mich. Ich rief in der Praxis des Hausarztes an und fuhr sofort nach Oberbergendorf. Der Hausarzt war krank, also kam seine Vertretungsärztin Frau Dr. Pfirsich.

Ihre ersten Worte waren: «Ich opfere hier extra meine Mittagspause.» Dann nahm sie die Totenbeschau vor. Anstatt aber wie üblich den gesamten Körper des Leichnams sorgfältig zu untersuchen, sah Frau Dr. Pfirsich nur drei Sekunden lang auf den Rücken meines Onkels. Anschliessend las sie mir die Diagnosen vor, die sie telefonisch von der Praxis des Hausarztes durchgegeben bekommen hatte: «Frühkindlicher Hirnschaden, verminderte Intelligenz, zweimal an Covid erkrankt, Patient war kürzlich zur Untersuchung in Zoppenheim…» Ich unterbrach sie. «Entschuldigung, hier liegt offensichtlich eine Verwechslung vor. Nichts davon stimmt. Absolut nichts! Mein Onkel hatte keinen frühkindlichen Hirnschaden, und er war nicht intelligenzvermindert, sondern er war ganz normal. Er war dreimal gegen Corona geimpft und nullmal an Corona erkrankt. Er war nicht kürzlich in Zoppenheim, sondern die ganze Zeit in Oberbergendorf. Die Arzthelferinnen müssen hier die falsche Karteikarte rausgezogen haben.» Frau Dr. Pfirsich war hörbar genervt: «Das ist ja alles furchtbar hier. Ich komme extra in meiner Mittagspause hierher – und die Auskünfte, die Sie mir geben, sind ganz andere als die offiziellen Auskünfte.» Ich sagte: «Es tut mir leid, aber die offiziellen Auskünfte sind einfach falsch, und dann kann ich schlecht meinen Mund halten, sondern bin verpflichtet, Ihnen das mitzuteilen.» Ich schlug vor, dass wir in der Praxis des Hausarztes anrufen, damit die Arzthelferinnen das Missverständnis aufklären können. Es sprang aber nur der Anrufbeantworter an. Natürlich. Es war ja Mittagspause.

Ich gab der Vertretungsärztin die Handynummer der Schwester vom ambulanten Pflegedienst, die beim Tod dabei gewesen war. Sie gab ihre Diagnosen durch. Das war Frau Dr. Pfirsich nicht vertrauenswürdig genug. Ich gab der Vertretungsärztin die Handynummer des Palliativteams. Es gab ebenfalls seine Diagnosen durch. Auch das war Frau Dr. Pfirsich nicht vertrauenswürdig genug. Sie bestand darauf, dass die Polizei kommen müsse. Ich fragte: «Wieso?» Sie sagte: «Ihr Onkel war nicht mein Patient. Ich habe ihn nie zuvor gesehen, deswegen kann ich jetzt auf dem Totenschein nicht guten Gewissens ankreuzen, dass der Patient eines natürlichen Todes gestorben sei.» Ich fragte, was denn das eine mit dem anderen zu tun habe. Nach dem Tod meiner Tante sei eine Ärztin gekommen, die meine Tante ebenfalls nie zuvor gesehen hätte. Diese Ärztin habe die Verstorbene umfassend untersucht und anschliessend einen natürlichen Tod festgestellt. Sie, Frau Dr. Pfirsich, müsse als Ärztin doch in der Lage sein, auch dann einen natürlichen Tod festzustellen, wenn es sich bei dem Verstorbenen um jemanden handle, der nicht ihr Patient gewesen sei. Frau Dr. Pfirsich entgegnete: «Nach der Mittagspause muss ich wieder in meiner Praxis zurück sein, für eine eingehende Untersuchung habe ich jetzt keine Zeit. Ich bestehe darauf, dass Sie die Polizei rufen.»

Das alles hier war furchtbar, ich konnte ihr nur beipflichten. Ich rief die Polizei an und erklärte die Lage. Der Polizist fragte ungläubig nach: «Sie haben den Notruf gewählt, weil Sie wollen, dass wir kommen, um zu bestätigen, dass nichts passiert ist?» Ich nickte. Auf dem Totenschein kreuzte Frau Dr. Pfirsich das Kästchen «Natürlicher Tod» nicht an. Stattdessen kritzelte sie handschriftlich unter dieses Kästchen: «Angehöriger sagt, Patient sei eines natürlichen Todes gestorben.» Die Ärztin fuhr. Die Kripo kam. Eine junge Polizistin und ein alter Polizist. Good cop, good cop.

Sie sahen sich im Haus um und untersuchten meinen Onkel sehr gründlich. Das Ergebnis ihrer Untersuchung war, dass ich meinen Onkel nicht umgebracht hatte. Dann unterzogen sie mich einer zwei Stunden langen kriminalpolizeilichen Vernehmung. Die beiden Cops sagten recht offen, dass sie diesen Einsatz hier für sinnlos hielten. Und dass sie eigentlich Besseres zu tun hätten. Aber da die bürokratische Maschinerie nun einmal in Gang gesetzt worden sei, müsse sie eben laufen.

Die Polizisten sahen sich im Haus um und untersuchten meinen Onkel sehr gründlich. Das Ergebnis ihrer Untersuchung war, dass ich meinen Onkel nicht umgebracht hatte.

Am Ende diktierte der Polizist seinen Bericht für den Staatsanwalt ins Diktiergerät. Sein letzter Satz war: «92jähriger Palliativpatient, der auch von der 24-Stunden-Pflege und einem ambulanten Pflegedienst umsorgt wurde, durfte durch Frau Dr. Pfirsich nicht eines natürlichen Todes sterben.»

Joseph Wälzholz, zvg.

Der Staatsanwalt ordnete keine Obduktion an, sondern gab am Tag danach den Leichnam zur Bestattung frei. Eine Woche später wurde mein Onkel beerdigt. Ein Geistlicher hat ihn begleitet.

  1. Personen- und Ortsnamen wurden verändert.

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