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Nostalgie ist auch nicht mehr, was sie mal war

Die schlechte Nachricht: Technologie vernichtet Ihren Job. Die gute: Sie werden ihm nicht nachtrauern.

Nostalgie ist auch nicht mehr, was sie mal war
Ein Flugblatt warnt 1929 vor Tonfilm, Rundfunk und Grammophon, die Musiker arbeitslos machen würden. Bild: blog.musikalienhandel.de

Elektromobilität, künstliche Intelligenz, selbstfahrende Autos: Wann immer eine neue Technologie auftaucht, warnen Technikpessimisten und ökonomische Ignoranten vor dem Verlust von Arbeitsplätzen.

Sie liegen nicht falsch, zumindest auf den ersten Blick. Neue Technologien verändern die Arbeitswelt. Neue Fähigkeiten werden benötigt, neue Jobs entstehen, andere werden obsolet. Das ist kein neues Phänomen. Und das Erstaunliche ist, wie wenig diese Arbeitsplätze vermisst werden.

Bei der NZZ arbeitete ich mit einem Grafiker zusammen, der in seiner Laufbahn zwei Berufe – Stereotypeur und Reprograf – erlernt hatte, die es nicht mehr gibt. Und auch in seiner neuen Tätigkeit hat sich mehr verändert, als gleichgeblieben ist.

Er ist keine Ausnahme. In der Geschichte sind zahlreiche Berufe verschwunden oder fast verschwunden. Zum Beispiel:

  • Fuhrmann: Einst waren sie unverzichtbar für das Transportwesen und die Wirtschaft. Mit dem Aufkommen der Eisenbahn und des Automobils wurden Pferdekutschen mehr und mehr zu einem Nischenprodukt für besondere Anlässe oder wohlhabende Nostalgiker.
  • Köhler: In ihren Kohlenmeilern stellten sie in schweisstreibender Arbeit Holzkohle her. Die grossindustrielle Kohleherstellung vernichtete ihr Geschäft.
  • Abtrittanbieter: In vielen europäischen Grossstädten begegnete man bis im frühen 19. Jahrhundert Leuten, die mit Eimern und Umhängen durch die Strassen gingen. Die Eimer boten sie Passanten an, die ihre Notdurft verrichten mussten. Mit den Umhängen schützten sie ihre Kunden vor neugierigen Blicken. Mit öffentlichen Toiletten ging das einfacher und bequemer.
  • Harzer: Sie waren im Wald unterwegs, um Harz von Bäumen zu gewinnen. Dieses wurde zur Herstellung von Pech, Teer und Terpentin verwendet – bis sich billigere und bessere Alternativen fanden.
  • Kaffeeriecher: Sie verdankten ihren Beruf dem autoritären preussischen Staat. König Friedrich der Grosse hatte den Kaffee monopolisiert; das Kaffeerösten war nur staatlichen Röstereien erlaubt. Um die Regulierung durchzusetzen, mussten die Kaffeeriecher durch die Strassen ziehen und durch Riechen herausfinden, ob jemand verbotenerweise Kaffee röstete.
  • Ritzenschieber: Sie säuberten mit speziellen Schaufeln Schienen von Strassenbahnen von Dreck. Dann kamen dafür Reinigungsfahrzeuge zum Einsatz, und der Beruf verschwand.
  • Aufwecker: Mit der Industrialisierung begann auch die Schichtarbeit. Damit die Arbeiter rechtzeitig in die Fabrik kamen, gingen sogenannte Aufwecker von Haus zu Haus und weckten sie. Mit der Verbreitung des mechanischen Weckers wurden auch sie obsolet.

Manche dieser Berufe mögen noch einen gewissen nostalgischen Wert haben. Aber die grosse Mehrheit von uns dürfte froh sein, nicht mit einer Schaufel die Ritzen von Tramschienen reinigen zu müssen. (Okay, Kaffeeriecher wäre vielleicht eine ganz angenehme Tätigkeit.)

Die neuen Arbeitsplätze, die entstehen, sind meist sicherer, bequemer und produktiver, ergo besser bezahlt. Durch die höhere Effizienz entstehen zusätzliche Einnahmen, die ausgegeben werden – was wiederum Nachfrage nach Arbeitsplätzen schafft.

«Die neuen Arbeitsplätze, die entstehen, sind meist sicherer, bequemer und produktiver, ergo besser bezahlt.»

1995 veröffentlichte der Ökonom Jeremy Rifkin das Buch «Das Ende der Arbeit», in dem er auf über 200 Seiten auflistet, welche Jobs alle der Automatisierung zum Opfer fallen. Seither ist die Arbeitslosenrate in Rifkins Heimat USA gefallen, von knapp 6 auf rund 4 Prozent.

Natürlich ist es möglich, dass diesmal alles anders ist und die KI (fast) alle Jobs zerstört. Andererseits: Seit man Musik nicht mehr nur live an Konzerten, sondern auch ab Schallplatte, CD oder über Streaming hören kann, ist die Zahl der Musiker nicht etwa gesunken, wie das zu erwarten gewesen wäre, sondern gestiegen. Und dank Spotify sind wir in der Lage, mehr verschiedene Songs zu hören als der fleissigste Konzertbesucher vor hundert Jahren.

Bei der technologischen Veränderung der Arbeitswelt ist Nostalgie ein schlechter Ratgeber. Wann merken das auch die Politiker, die mit Technologieverboten, Subventionen und Zöllen Arbeitsplätze in verschwundenen Industrien wieder zum Leben zu erwecken versuchen?


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