Nonkonform in Uniform
Individualismus, Eigenverantwortung und Libertinage? Nicht beim Kleidungsstil: hier regieren die rigiden Codes des Establishments. Ein politisches Lager im Style-Check.
Der (oder die) Liberale ist ein freier Mensch, der frei denken und frei handeln will. Aus meiner Warte des politisch nur mässig engagierten Modebeobachters würde ich das mit einem sehr individualistischen Kleidungsstil zusammenbringen, mit einer Gruppe von Menschen, die sich nicht nur voneinander, sondern auch von allen anderen völlig unterscheiden. Vor meinem geistigen Auge erscheint etwa eine verwitterte Gestalt, die auf alle Regeln pfeift, langes graues Haar trägt und deren Klamotten ein Potpourri der Weltkulturen ist – auf dem Rücken ein Stoffbeutel voller privater Überzeugungen und Anekdoten.
Die Realität jedoch sieht anders aus: der klassische Liberale wirkt nämlich überhaupt nicht wie jemand, der aus der Reihe tanzt, sondern eher wie einer, der sich den vom Liberalismus beargwöhnten Regeln von Feudalismus, Konservativismus und monarchistischer Hoheit verbunden fühlt. Er kleidet sich gemäss klassischen Regeln, folgt Konventionen und will offenbar nicht besonders aussehen – sondern nur durchschnittlich. Mit seiner geordneten Einheitsgarderobe ist er den Idealen des von ihm verachteten Sozialismus näher, als ihm bewusst ist.
Anständig und wohlgesittet
Wie ein Liberaler sich zu kleiden hat, ist zwar nirgends explizit festgeschrieben – dies würde ja gegen die Idee des Individualismus und der Eigenverantwortung verstossen. Implizit jedoch ist es bestens bekannt. Dass es diesbezüglich Normen und Regeln gibt, haben die deutschen Julis (Jungliberale) 2009 in einem Wahlwerbespot namens «Die reine Wahrheit» festgehalten. Selbstironisch heisst es dort: «Wir sind bereits in Anzug und Kostüm auf die Welt gekommen. Wir gehören zu denen, die damals auf der Schule schon einen Aktenkoffer hatten. (…) Wir wissen nicht, dass es auch Oberteile ohne Polokragen gibt. (…) Wir gehen regelmässig zum Friseur und benutzen gerne ein bisschen zu viel Gel. Wir bügeln unsere Jeans, und unsere Hemden, die wir in die Hosen stecken, sowieso.»
Wer Liberale im Netz sucht, stösst zuerst einmal auf die alten Helden aus Zeiten, in denen Porträts von Würdenträgern noch gemalt wurden. Mit dunklen Anzügen und ernster Miene sind die Urväter des Liberalismus zu sehen. Manche von ihnen haben zwar komische Frisuren wie John Stuart Mill, doch scheinen sie alle einer klassischen vestiären Ordnung verpflichtet. Wer länger scrollt, stösst auf liberale Lichtgestalten des 20. Jahrhunderts wie Hans-Dietrich Genscher im gelben Pullunder oder die akkurat frisierte Hildegard Hamm-Brücher. Aktueller wird es erst spät im blau-gelben Bilderstrom, mit dem deutschen Chefliberalen Christian Lindner, dem kanadischen Premier Justin Trudeau und seinem niederländischen Kollegen Mark Rutte. Letztere geben schöne Vorzeigeliberale ab: smart, auch in mittleren Jahren noch jugendlich, dem «guten Stil» verpflichtet. Aber eben auch ein bisschen «safe», bisweilen auch langweilig.
Letzte Bastion der Krawatte
Das gebügelte Hemd bzw. die Bluse sowie das Jackett bzw. die taillierte Blazerjacke sind das Grundgerüst des liberalen Kleiderschranks. Klassische Liberale kommen kaum je in T-Shirt oder Strickjacke daher – diese haben die Grünen und Sozis gepachtet. Oft dagegen sieht man Anzüge in den Schreibtischtäterfarben Anthrazit, Mittelgrau und Marine, seltener expressivere Varianten. Vestons haben öfter ein staubig-englisches Flair, selten wirken sie italienisch oder gar sexy. Chinos sieht man wesentlich häufiger als Jeans, die der Liberale wohl privat trägt, aber vermutlich eher dem linken Lager bzw. den Bauern zuordnet. Mit einer Mischung aus Faszination und Mitleid erkennt man: Liberale werden bald zur letzten Bastion von Würdenträgern, die noch an die Autorität von Krawatten glaubt.
Mit ihrem klassisch-bourgeoisen Kleiderkodex geben sich die Liberalen oft konservativer, als es ihre politische Haltung vermuten liesse. Viele sehen aus wie die mittleren Kader von Grossbanken und Versicherungskonzernen oder wie Marketingverantwortliche mittelprächtiger Automarken, die sich für den Autosalon aufgetakelt haben. Der liberale Dresscode ist auch sehr nahe an den Standards der Immobilienbranche, die bemüht werden, wenn irgendwo ein «sympathischer und vertrauenswürdiger Makler» für eine familienfreundliche Überbauung im mittleren bis oberen Preissegment benötigt wird.
Schweizer Liberale stramm auf Linie
Alles nur Klischees? Vielleicht. Es mag nonkonformistische Exoten geben, die sich optisch eher dem liberalen Urvater John Locke verpflichtet fühlen, der aus heutiger Optik wie der Anführer einer unter einem spirituellen Deckmäntelchen getarnten Sex-Sekte aussieht. So einer würde heute aus dem Rahmen fallen. Denn die meisten Liberalen pflegen einen Stil der braven Akkuratesse: eine abgemilderte Businesskleidung, die man bestenfalls noch «Smart Casual» nennen könnte.
Es drängt sich der Eindruck auf, dass viele jener, die sich als Liberale verorten, profitieren und sich profilieren wollen, nicht aber brillieren oder etwas riskieren. Bestätigt wird dies nicht zuletzt, wenn man sich durch die politischen Kader der tonangebenden liberalen Parteien in der Schweiz arbeitet. Didier Burkhalter und Johann Schneider-Ammann sind die beiden prominentesten Volksvertreter, die als Mitglieder der Freisinnig-Demokratischen Partei die liberalen Werte im Bundesrat vertreten. Sie mögen politisch recht profilierte Männer sein, optisch sind sie der teflonbeschichtete Normalfall von Biederkeit – der ältere etwas ausgeprägter als der jüngere. Ihr Outfit entspricht Normen und Konventionen – mehr aber auch nicht. Dasselbe darf gesagt werden über den Fraktionspräsidenten Ignazio Cassis, die FDP-Präsidentin Petra Gössi oder die Zürcher FDP-Fahnenträgerin Doris Fiala.
Etwas über dem Schnitt liegt die ästhetische Performance der Ständeräte Ruedi Noser (Zürich) und Karin Keller-Sutter (St. Gallen). Beide haben, das weiss der Schreibende aus einem persönlichen Austausch, durchaus Spass an Qualität und Stil, fügen sich aber dem Konsens des Gewöhnlichen. «Wahrscheinlich tun wir dies, weil wir in Beruf und Politik gerne professionell wirken und wissen, dass diese Kleidung das ausstrahlt», kontert Ständerat Andrea Caroni eine Anfrage, warum der Freiheitliche in Modefragen kein totaler Freigeist sei. Ausserdem diene die «Schale» in der Politik auch «zur Abgrenzung von der Linken». Er habe dies just nach seiner Ankunft im Nationalrat erleben müssen, als er aus Versehen keine Krawatte dabeihatte und deswegen von der «Rennleitung» die Anweisung erhielt, sich in Zukunft doch dem bürgerlichen Konsens des Schlipses zu fügen und so seine «Couleur» zu zeigen.
Laisser-faire? Ah, mais non!
Eine dem Liberalen vertraute Maxime ist die des «Laisser-faire» – jeder so, wie es ihm beliebt. Verbal wird dieser Verzicht auf Regulierung, Grenzen, Normen und Vorgaben gerne postuliert – mit modischen Mitteln wird ihm aber kaum je entsprochen. Ein Blick auf den liberalen Nachwuchs offenbart, dass sich das so schnell auch nicht ändern wird. So wie die Vermögen (und damit die Chancen) von einer Generation Liberaler zur nächsten vererbt werden, wird das Stilverständnis den Nachfolgenden übertragen. So erinnert Andri Silberschmidt, Präsident der Schweizer Jungfreisinnigen, fast etwas an die Karikatur des Internet-Jungkarrieristen «BWL-Justus» – freilich überdurchschnittlich gutaussehend, eine Art junger Schweizer Kennedy. Wer heute postuliert, dass der brave Biedermeierstil den Liberalen noch ein paar Jahrzehnte eigen bleiben dürfte, muss also kein Prophet sein.