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Nirvana

Nirvana


Es ist spät, und ich kann nicht schlafen. Ich schiebe ein Fenster hoch, um etwas Palo-Alto-Frühlingsluft hereinzulassen, doch auch das hilft nicht. Mit offenen Augen im Bett liegend höre ich ein Flüstern, was mich an den Präsidenten denken lässt, weil wir oft im Flüsterton miteinander sprechen. Ich weiss, dass das Flüstern nur von meiner Frau stammt, Charlotte, die die ganze Nacht lang Nirvana über ihre Kopfhörer hört und die Texte im Schlaf mitmurmelt. Charlotte hat ihr eigenes Bett, ein elektrisch gesteuertes Klinikbett.

Ja, den Präsidenten flüstern zu hören ist gruselig, weil er seit genau jetzt schon drei Monaten tot ist. Noch gruseliger ist es, wenn ich die Augen schliesse: Dann sehe ich nämlich meine Frau vor mir, die Selbstmord begeht. Beziehungsweise das versucht, sie ist nämlich von den Schultern abwärts gelähmt. Die Lähmung ist vorübergehend, aber viel Glück beim Versuch, Charlotte davon zu überzeugen! Sie hat heute auf der Seite geschlafen, damit die wundgelegenen Stellen nicht schlimmer werden, und das Geländer neben der Matratze auf so eine Art angestarrt. Das Bett steuert sie mit der Stimme, wenn sie also ihren Kopf irgendwie zwischen die Stäbe des Sicherheitsgitters bekäme, bräuchte sie nur noch «hoch» zu sagen. Hätte sich das Bett erst einmal in Bewegung gesetzt, wäre sie in Sekundenschnelle erstickt. Auch die Schlaufe im Kabel des Hoyer-Lifters, mit dem sie aus dem Bett hinaus- und wieder hineingehoben wird, starrt sie so ähnlich an.

Was einen wirklich nachts wachhalten kann, ist der Gedanke, dass sie gar keine exotische Ausstiegsstrategie braucht, nicht, wenn sie dir das Versprechen abgeknöpft hat, dass du ihr helfen wirst, wenn es so weit ist.

Ich stehe auf und trete an ihr Bett, aber sie hört noch gar nicht Nirvana – das hebt sie sich meist für die Augenblicke auf, in denen sie es am dringendsten braucht, nach Mitternacht, wenn ihre Nerven richtig zu knistern anfangen.

«Ich hatte das Gefühl, ich hätte etwas gehört», sage ich zu ihr, «eine Art Flüstern.»

Kurz abgeschnittene Haare umranden ihr abgehärmtes Gesicht, ihre Haut ist weiss wie Kühlschranklicht.

«Ich habe es auch gehört», sagt sie.

In den Monaten zwei, vier und sieben hat sie sehr viel und heftig geweint – ich kann dir sagen, hilfloser kann man sich als Mann nicht fühlen. Aber die Phase seitdem ist noch schwerer zu ertragen: Ihre Augen sind weit aufgerissen, keine Regung ist ihnen abzulesen, und man weiss nicht, was sie denkt. Als ob sie Dinge betrachten würde, die nicht in diesem Zimmer sind.

In der Metallschale liegt neben ihrer sprachgesteuerten Fernbedienung ein halb gerauchter Joint. Den zünde ich ihr an und halte ihn an ihre Lippen.

«Und wie ist das Wetter da drin?», frage ich.

«Windig», sagt sie, als sie den Rauch ausatmet.

Windig ist besser als Hagel oder Blitz oder, Gott bewahre, Hochwasser, das Gefühl, das sie hatte, als ihre Lungenfunktion wieder einsetzte. Aber Wind ist nicht gleich Wind.

Ich frage: «Windig wie das Wispern im Fliegengitter oder windig wie das Rattern von Klappläden?»

«Eine starke Bö, die wirbelt und zischt wie ein Mikrophon im Wind.»

Sie raucht. Charlotte will nicht bekifft sein, aber es beruhigt ihr Inneres, sagt sie. Sie hat das Guillain-Barré-Syndrom, eine Krankheit, bei der das Immunsystem die Leitbahnen der eigenen Nerven angreift, und wenn das Gehirn Signale an den Körper schickt, dann verenden die elektrischen Impulse irgendwo, bevor sie bei den Muskeln ankommen. Eine Milliarde Nerven in ihr senden Impulse aus, die überall und nirgendwo verglühen. Das ist jetzt der neunte Monat und am Rand des medizinisch bisher Beschriebenen. Ein Zustand, in dem die Ärzte sich nicht mehr befähigt fühlen, uns zu sagen, ob Charlottes Nervenfunktionen wiederhergestellt werden oder ob sie für immer gelähmt sein wird.

Hustend atmet sie aus. Ihr rechter Arm zuckt, was heisst, dass ihr Gehirn versucht hat, ihrem Arm mitzuteilen, dass er die Hand heben und den Mund zuhalten soll.

Sie nimmt noch einen Zug und sagt durch den Rauch: «Ich mache mir Sorgen.»

«Worüber?»

«Dich.»

«Du machst dir Sorgen um mich?»

«Du musst aufhören, mit dem Präsidenten zu reden. Du kannst die Realität nicht ewig verweigern.»

Ich versuche es mit Humor. «Aber er redet mit mir, nicht ich mit ihm.»

«Dann hör nicht mehr hin, okay? Er ist nicht mehr da. Wenn er tot ist, dann hat er zu schweigen.»

Ich nicke, widerwillig. Sie versteht das nicht. Den dritten Lähmungsmonat hat sie mit dem Anschauen von Videos verbracht, was sie verrückt gemacht hat. Danach hat sie allen Bildschirmen abgeschworen, weswegen sie wahrscheinlich der einzige Mensch in Amerika ist, der das Video seiner Ermordung nicht gesehen hat. Hätte sie den Ausdruck in den Augen des Präsidenten gesehen, als ihm das Leben genommen wurde, würde sie verstehen, warum ich spät nachts mit ihm spreche. Könnte sie das Zimmer verlassen und spüren, wie eine ganze Nation zu trauern versucht, wüsste sie, warum ich unseren obersten Befehlshaber reanimiert und wieder zum Leben erweckt habe.

«Und was den Präsidenten angeht», sage ich, «wollte ich dich nur dran erinnern, dass du ein Drittel deines Lebens mit Nirvana verbringst. Die Lieder stammen von einem Typen, der sich das Hirn weggepustet hat.»

Charlotte legt den Kopf schräg und sieht mich an, als sei ich ein Fremder, als ob ich nichts über sie wüsste. «Kurt Cobain hat den Schmerz seines Lebens in etwas verwandelt, das zu anderen Menschen spricht, das ihnen wirklich etwas bedeutet. Weisst du, wie selten so was ist? Und was hat der Präsident hinterlassen? Ungewissheiten, Leere, tausend Fehlschläge.»

Wenn sie bekifft ist, redet sie so. Ich sage nichts. Ich drücke den Joint aus und halte ihre Kopfhörer hoch. «Willst du jetzt dein Nirvana?», frage ich.

«Dieses Geräusch. Da ist es wieder», sagt sie.

Sie versucht mit dem Finger zu zeigen, gibt auf und nickt in Richtung Fenster.

«Es kommt von da», sagt sie.

Ich strecke den Kopf aus dem Fenster und blicke hinaus in die Dunkelheit. Es ist eine ganz normale Nacht in Palo Alto – das Zischen von Beregnungsanlagen, blaue Recyclingtonnen, ein Waschbär, der im Gemeinschaftsgarten gräbt. Dann bemerke ich sie, direkt vor meinen Augen: eine kleine schwarze Drohne, die vor unserem Fenster in der Luft steht. Die winzigen Servomotoren surren, als sie mich betrachtet. Blitzschnell, als würde ich mir ein Plätzchen von einem heissen Backblech stibitzen, klaube ich die Drohne aus der Luft und bringe sie ins Zimmer. Ich schliesse Fenster und Vorhang und untersuche das Ding: Der Korpus besteht aus schwarzer Folie, die über winzige Streben gestreckt ist, wie die Knochen in einem Fledermausflügel. Hinter einem Propeller aus durchsichtigem Zellophan verbreitet ein winziger Infrarotmotor pulsierende Wärme.

Ich sehe Charlotte an.

«Und glaubst du mir jetzt?», fragt sie, «hörst du jetzt mit diesem Präsidentenquatsch auf?»

«Dafür ist es zu spät», antworte ich und lasse die Drohne frei. Wir sehen ihr beide zu, wie sie desorientiert gegen die Wände brummt und an den Hoyer-Lifter knallt. Ist sie autonom? Wird sie von jemandem gesteuert, jemandem, der unser Haus beobachtet? Ich pflücke sie aus der Luft, drehe sie um und schalte sie aus.

Charlotte dreht den Kopf zu ihrer Sprachsteuerung. «Musik an», befiehlt sie.

Mit geschlossenen Augen wartet sie darauf, dass ich ihr die Kopfhörer auf die Ohren setze und sie sich den wieder zum Leben erwachten Kurt Cobain anhören kann.

Später in der Nacht erwache ich. Die Drohne hat sich irgendwie von selbst eingeschaltet, schwebt über mir und vermisst meinen Körper mit einem nicht sehr hellen, roten Lichtstrahl. Ich werfe einen Pullover über das Ding, und es fällt zu Boden. Nachdem ich nachgesehen habe, ob Charlotte schläft, hole ich meinen iProjector heraus. Ich schalte ihn ein, und der Präsident erscheint, dreidimensional und in Lebensgrösse, sein Rumpf umgeben von einem gelblichen Schein.

Er begrüsst mich lächelnd. «Es freut mich, wieder zurück in Palo Alto zu sein», sagt er.

Mein Algorithmus hat auf den GPS-Chip im iProjector zugegriffen und die Datenbank des Präsidenten nach Ortsbezügen durchsucht. Dieser Satz stammt aus einer Rede, die er vor Stanford-Absolventen gehalten hat, damals, als er noch Senator war.

«Mr President», sage ich, «es tut mir leid, dass ich Sie wieder stören muss, aber ich habe immer noch Fragen an Sie.»

Er blickt nachdenklich in die Ferne. «Nur zu», sagt er.

Ich stelle mich in seine Blickachse, kann ihn aber nicht dazu bringen, mir in die Augen zu sehen. Es ist eins der grundlegenden Probleme mit meinem Programm. Hoffentlich kann ich es in der Betaversion beheben.

«Habe ich einen Fehler begangen, als ich Sie geschaffen und in die Welt entlassen habe?», will ich wissen, «meine Frau behauptet, dass Sie der Bevölkerung das Trauern unmöglich machen. Dass dieses Sie uns daran hindert zu akzeptieren, dass das echte Sie nicht mehr da ist.»

Der Präsident reibt sich die Stoppeln an seinem Kinn. Er blickt zu Boden, dann weg.

«Die Geister, die man einmal gerufen hat, wird man nicht wieder los», sagt er.

Was unheimlich ist, da er diesen Satz auf «60 Minutes» gesagt hat – als er zum Ausdruck brachte, wie leid es ihm tat, dass er den zivilen Einsatz von Drohnen legalisiert hatte.

«Wissen Sie denn, dass ich derjenige bin, der Sie geschaffen hat?»

«Jeder Mensch wird frei geboren», sagt er, «und niemand hat das Recht, mit anderen zu handeln.»

«Aber Sie sind ja nicht geboren worden», kläre ich ihn auf, «ich habe einen Algorithmus nach dem Muster des Linux-Kernels geschrieben. Sie sind eine Open-Source-Suchmaschine, die ich mit einem Dialogbot und einem Video-Compiler gekoppelt habe. Das Programm ist ein Webcrawler, der Bilder, Videos und Daten einer bestimmten Person findet und archiviert – alles, was Sie sagen, haben Sie früher bereits gesagt.»

Zum ersten Mal schweigt der Präsident.

Ich frage: «Wissen Sie denn … dass Sie tot sind?»

Der Präsident zögert nicht.

«Das Ende des Lebens stellt eine andere Art der Freiheit dar», sagt er.

Der Anschlag taucht vor meinem inneren Auge auf. Ich habe das Video so oft gesehen, dass es mir auch gegen meinen Willen immer wieder vor Augen steht – der Autokorso bewegt sich im Schritttempo voran, während der Präsident zu Fuss an der Menschenmenge hinter den Absperrungen vorbeigeht. Eine Person in der Menge fällt dem Präsidenten auf. Er bleibt stehen, wendet sich demjenigen zu, hebt grüssend die Hand. Da trifft ihn das Geschoss in den Bauch. Unter der Wucht des Einschlags krümmt er sich zusammen, und sein Blick hebt sich, um den Schützen anzusehen, eine Person, die nie von der Kamera erfasst wird. Ein Bewusstwerden breitet sich in den Augen des Präsidenten aus, ein klares Erkennen – einer bestimmten Person, einer bestimmten Wahrheit, hat er es womöglich vorhergesehen? Der zweite Schuss trifft ihn ins Gesicht. Man sieht, wie der Schalter in ihm umgelegt wird – seine Beine geben nach, er liegt am Boden. Männer in Anzügen werfen sich auf ihn, schirmen ihn ab und der Videoclip ist vorbei. Ein paar Tage wird der Präsident noch an eine Maschine gehängt, aber sein Leben ist bereits zu Ende.

Ich werfe einen Blick hinüber zur schlafenden Charlotte. Ich flüstere trotzdem: «Mr President, haben Sie mit der First Lady je über solche Eventualitäten, die Zukunft gesprochen?»

Ich frage mich, ob die First Lady die Maschine abgeschaltet hat.

Der Präsident lächelt. «Die First Lady und ich haben ein ausgezeichnetes Verhältnis. Wir sprechen über alles miteinander.»

«Aber haben Sie ihr genaue Anleitungen hinterlassen? Hatten Sie beide einen Plan?»

Seine Stimme wird leiser, klangvoller. «Fragen Sie nach dem Bund der Ehe?»

Ich zögere. «Ja.»

«In dieser Hinsicht», sagt er, «haben wir nur eine Pflicht, nämlich unserem Ehepartner in jeder Hinsicht zur Seite zu stehen.»

Meine Gedanken kreisen um die Vorstellung, wie ich Charlotte womöglich noch zur Seite werde stehen müssen.

Der Präsident blickt ins Weite, als flattere dort eine Fahne im Wind.

«Ich als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika», sagt er, «stehe hinter dem, was Sie gerade gehört haben.»

An diesem Punkt weiss ich, dass unser Gespräch vorbei ist. Als ich die Hand ausstrecke, um den iProjector auszuschalten, blickt mir der Präsident geradewegs in die Augen, ein perspektivischer Zufall, vermute ich. Wir betrachten einander, er mit tiefsinnigem, melancholischem Blick, und mein Finger mag den Schalter nicht betätigen.

«Stärken Sie Ihre innere Entschlossenheit», fordert er mich auf.

Wie sind wir in diese Situation geraten? Kann man eine Geschichte erzählen, die nicht damit anfängt: Auf einmal geschah das und das? Die Frau, die du liebst, hat die Grippe. Ihre Finger sind taub, ihre Beine fühlen sich an wie Gummi. Am nächsten Morgen kann sie die Kaffeetasse nicht mehr halten. Ins Krankenhaus geht sie am Ende nur, weil sie pinkeln muss. Sie muss unbedingt, der Harndrang macht sie wahnsinnig, aber die Lähmung hat eingesetzt: Die Blase kann das Gehirn nicht mehr hören. Nachdem der Notarzt ihr einen Foley-Katheter gesetzt hat, lernst du eine Menge neuer Worte: Axon, Areflexie, Dendrit, Myelin, akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie.

Charlotte sagt, sie sei voller «Lärm». In ihr wüte ein «Sturm». Der Arzt hat eine grosse Spritze. Er fordert Charlotte auf, sich auf die Tragbahre zu legen. Charlotte hat Angst, sich auf die Tragbahre zu legen. Sie hat Angst, dass sie nie wieder aufstehen wird. «Bitte, meine Liebste», sagst du, «leg dich auf die Bahre.» Kurz darauf musst du dir den Glyzerinschimmer einer frischgezapften Phiole Rückenmarksflüssigkeit ansehen. Und sie hatte recht. Sie stand nicht wieder auf.

Um mit der Plasmapherese anfangen zu können, muss ein Oberschenkelstent gesetzt werden. Das wird von einem tätowierten Phlebologen durchgeführt, aus dessen Kopfhörern Rage against the Machine dröhnt.

Als nächstes ist die Therapie mit Immunglobulin in hohen Dosen dran.

Die Ärzte lassen beiläufig das Wort Beatmungsgerät fallen.

Charlottes Mutter kommt. Sie bringt ihr Cello mit. Sie weiss alles über die Leningrader Blockade. Darüber hat sie ein Buch geschrieben. Als Charlotte in das künstliche Koma versetzt wird, füllt sie die Neuro mit den traurigsten Klängen der Welt. Sieben Tage lang ist nichts als das Zischen der Luftklappen, das Trillern des Vitaldatenmonitors und Schostakowitsch, Schostakowitsch, Schostakowitsch zu hören. Niemand sagt ihr, dass sie aufhören soll. Gehetzte Schwestern huschen, auf Tagalog flüsternd, umher.

Zwei Monate Physiotherapie in Santa Clara. Dort gibt es Tauchbecken, Sonarstimulatoren, Exoskelett-Trainer. Charlotte werden Beinprothesen und ein Elektrodenhelm angemessen. Sie wird die Person im Raum, bei deren Anblick sich die Opfer anderer Krankheiten glücklich schätzen. Sie macht keine Fortschritte, sie «kämpft» nicht «tapfer» und schlägt sich auch nicht «wacker».

Charlotte redet sich ein, dass ich sie für eine «arbeitende» Frau verlassen werde. In der Reha schreit sie mich an, ich solle mich sterilisieren lassen, damit diese andere Frau und ich mit Kinderlosigkeit geschlagen sein würden. Meine Weigerung ist für sie der Beweis, dass diese andere Frau und unsere Zukunftspläne existieren.

Zur Beruhigung lese ich ihr Joseph Hellers Memoiren vor, der ebenfalls am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt war. Das Buch sollte uns eigentlich aufheitern. Stattdessen berichtet es ausführlich, wie wunderbar Hellers Freunde sind, wie optimistisch er in die Zukunft blickt und wie glücklich Heller ist, als er seine Frau verlässt und die schöne Krankenschwester heiratet, die für ihn sorgt. Besonders das Ende verdirbt Charlotte die Laune: Joseph Heller wird wieder gesund.

Wir stürzen in einen Abgrund der Verzweiflung, der schmal und tief ist, uns einschliesst, bis nur noch der Widerhall unserer eigenen Stimmen zu hören ist, und dort paddeln wir in einer schwarzen, durchsichtigen Flüssigkeit im Kreis. Alles ist mit uns im Abgrund – Beruf, Ziele, Wünsche, Reisen, Kinderpläne – und so dicht bei uns, dass wir es ertränken können, um uns selbst zu retten.

Ein Arzt möchte Charlotte auf ein Floss aus Antidepressiva hieven. Sie will keine Pillen schlucken. Der Arzt erwidert scherzeshalber: «Dafür gibt es ja den Tropf.» Charlotte blickt Richtung Horizont und sagt: «Nächster Arzt.»

Der nächste Arzt empfiehlt ihre Entlassung.

Zuhause ist es unerwartet surreal. Die vertraute Umgebung unterstreicht die Unmöglichkeit eines normalen Lebens nur noch. Aber die Katze ist froh, so froh, Charlotte wieder zu Hause zu haben, dass sie eine ganze Nacht quer über dem Luftröhrenschnitt in Charlottes Hals liegend verbringt. Das war’s dann wohl, Katze! Darauf folgt eine seltsam übermütige Woche burlesken Humors, in der Bettpfannen und verdorrende Gliedmassen auf einmal urkomisch, ein Popel, den man sich nicht aus der Nase bohren kann, zum Totlachen sind, in der Alltagsgegenstände plötzlich Anlass zu Klamauk bieten – ich setze Charlotte einen Hut auf und wir lachen uns halb tot. Einen BH starrt sie voller Verblüffung an, und wir reissen viele Katzenwitze!

Auch das geht vorbei und das normale Leben weiter. Die Plastikkappe einer Spritze, die unbemerkt ins Bett fällt, drückt ein Loch in Charlottes Rücken. Während ich in der Garage bin, beobachtet Charlotte eine Spinne, die sich an einem einzigen Faden von der Decke herunterlässt. Charlotte versucht, sie wegzublasen. Sie pustet und pustet, aber die Spinne verschwindet in ihren Haaren.

Zu beschreiben sind Tests, Tobsuchts- und Trotzanfälle. Die Entdeckungen von Kurt Cobain, Ma­rihua­­na und immer kürzeren Haarschnitten stehen uns noch bevor. Aus diesen Zeiten gibt es nur eine Episode, von der ich berichten muss. Es war eine normale Nacht. Ich lag neben Charlotte in dem Klinikbett, hielt ihr eine Zeitschrift vor die Augen und blätterte um, sah ihr also nicht ins Gesicht.

Sie sagte: «Du weisst nicht, wie ich mich danach sehne, aus diesem Bett rauszukommen.»

Ihre Stimme klang ausdruckslos. Etwas in der Art hatte sie schon tausend Mal gesagt.

Ich blätterte um und lachte über ein Foto mit der Schlagzeile: «Stars sind Menschen wie wir!»

«Ich würde alles tun, um hier rauszukommen», sagte sie.

Charlottes Part war es, mir die verworrenen Lebensgeschichten der Promis zu erklären und zu beweisen, dass diese Dramen ihren Platz in der Sixtinischen Kapelle amerikanischer Kultur verdienten. Mein Part war es, über dieselben Promis zu lästern und so zu tun, als wäre ich nicht auch längst besessen von ihren Liebeskämpfen und Scheidungen.

«Aber ich könnte dir das nicht antun», sagte sie.

«Was antun?», fragte ich.

«Nichts.»

«Wovon redest du, was geht dir durch den Kopf?»

Ich drehte ihr das Gesicht zu. Sie war wenige Zentimeter entfernt.

«Wenn ich dir damit nicht so weh tun würde», sagte sie, «würde ich einfach verschwinden.»

«Wohin verschwinden?»

«Weg, weg von hier.»

Seit der Nacht, in der sie mir das Versprechen abverlangte, hatten wir es beide nicht mehr erwähnt. Ich versuchte, so zu tun, als stünde das Versprechen nicht im Raum – doch da stand es.

«Ob du’s willst oder nicht», sagte ich und zwang mich zu lächeln, «von mir kommst du nicht weg. Es ist Schicksal, wir gehören einfach zusammen. Und bald bist du wieder gesund und alles ist wie früher.»

«Mein Leben besteht aus diesem Kopfkissen.»

«Das stimmt überhaupt nicht. Du hast deine Freunde, deine Familie. Und die Technik. Die ganze Welt ist zum Greifen nah.»

Mit Freunden meinte ich ihre Pflegerinnen und Physiotherapeuten. Mit Familie meinte ich ihre distanzierte, grüblerische Mutter. Aber es machte nichts: Charlotte war zu weit weg, um mich auf ihre gelähmten Hände und deren Unmöglichkeit, nach irgendetwas zu greifen, hinzuweisen.

Sie drehte den Kopf zur Seite und starrte das Sicherheitsgitter an.

«Schon in Ordnung», sagte sie, «ich würde dir so was nie antun.»

 

Am Morgen, bevor die Pflegekräfte eintreffen, öffne ich die Vorhänge und betrachte die Drohne im frühen Morgenlicht. Antrieb und Tarnkappe sind grösstenteils Standardbauteile, aber die halb unter einem Kevlarschutz verborgenen Prozessoren kenne ich noch nicht. Um die Drohne zum Sprechen zu bringen und herauszufinden, wer das Ding auf mich losgelassen hat, muss ich mir den Hash Reader von der Arbeit besorgen.

Als Charlotte aufwacht, stecke ich ihr ein Kissen unter den Kopf und massiere ihre Beine. Das ist unsere Morgenroutine.

«Lass uns ein paar Schwann-Zellen erzeugen», sage ich zu ihren Zehen. «Es wird Zeit, dass Charlottes Körper ein paar Myelinscheiden produziert.»

«Da hat aber jemand gute Laune», sagt sie, «wenn du so gut drauf bist, hast du bestimmt mit dem Präsidenten geplaudert. Deswegen redest du doch mit ihm, oder? Um dich inspirieren zu lassen? Das Licht am Ende des Tunnels und so weiter.»

Ich hebe ihren rechten Fuss hoch und massiere die Achillessehne. Letzte Woche hat Charlotte einen wichtigen Test nicht bestanden, den DTRE, bei dem die Responsivität des kollagenen Bindegewebes gemessen wird, Anzeichen für eine beginnende Heilung. «Machen Sie sich keine Sorgen», hat der Arzt zu uns gesagt, «ich kenne einen anderen Fall, in dem es ebenfalls neun Monate gedauert hat, bis die erste Reaktion kam, und der Patient wurde vollständig geheilt.» Ich frage, ob wir vielleicht mit diesem Patienten sprechen könnten, um zu erfahren, was er durchgemacht hat, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was uns bevorsteht. Der Arzt teilte uns mit, dass dieser Fall aus Frankreich stamme, aus dem Jahr 1918.

Als der Arzt weg war, ging ich in die Garage und fing an, am Präsidenten zu arbeiten. Ein Psychologe würde wahrscheinlich sagen, dass das Projekt etwas mit dem Versprechen zu tun hat, das ich Charlotte gegeben habe, und der Tatsache, dass der Präsident ebenfalls einen Bezug zu der Person hatte, die ihm das Leben nahm. Aber es ist noch simpler: Ich musste einfach jemanden retten, und beim Präsidenten spielt es keine Rolle, dass ich zu spät komme.

Ich klopfe auf Charlottes Kniescheibe, kein Reflex. «Tut irgendwas weh?»

«Und was hat der Präsident nun gesagt?»

«Welcher Präsident?»

«Der tote», gibt sie zurück.

Ich drücke die Daumen in die Aponeurosis plantaris. «Und wie sieht’s hier aus?»

«Fühlt sich an wie kühles Diamantengeschmeide», sagt sie, «na komm, ich weiss, dass du mit ihm geredet hast.»

Heute wird offensichtlich ein schlechter Tag, das merke ich jetzt schon.

«Lass mich raten», insistiert Charlotte, «der Präsident hat dir geraten, in die Südsee zu ziehen und Maler zu werden. Das ist doch inspirierend.»

Ich sage nichts.

«Aber du würdest mich ja mitnehmen, oder? Ich kann deine Assistentin werden. Ich kann dir die Palette mit den Zähnen halten. Und wenn du ein Modell brauchst – liegender Akt ist meine Spezialität.»

Sie hat Durst. Wir benutzen eine Nasendusche als Schnabeltasse. Charlotte kann im Liegen Wasser aus der Tülle trinken. Als sie trinkt, sage ich: «Wenn du’s unbedingt wissen willst: Der Präsident hat mir gesagt, ich solle meine innere Entschlossenheit stärken.»

«Innere Entschlossenheit», erwidert sie, «davon könnte ich auch gut was gebrauchen.»

«Niemand hat mehr innere Entschlossenheit als du.»

«Was für ein Gesülze. Siehst du nicht, was hier vor sich geht? Ist dir nicht klar, dass ich den Rest meines Lebens so verbringen werde?»

«Nichts überstürzen, meine Hübsche. Der Tag ist erst ein paar Minuten alt.»

«Ich weiss», sagt sie, «und ich sollte mittlerweile wahrscheinlich einen Zustand erleuchteter Hinnahme erreicht habe. Glaubst du etwa, mir macht das Spass, dass ich niemand anderen habe, den ich anmeckern kann? Ich weiss, dass es idiotisch ist – du bist das Einzige auf der Welt, das ich liebe.»

«Du liebst Kurt Cobain.»

«Der ist tot.»

«Schade, dass er nicht mehr lebt, dann könntest du ihn anmeckern.»

«Mann, der würde was von mir zu hören kriegen», sagt sie.

Draussen fährt gerade Hector vor, der Morgenpfleger – sein altes Auto, das noch einen Verbrennungsmotor hat, ist nicht zu überhören.

«Ich muss was von der Arbeit holen», sage ich, «aber dann komme ich gleich wieder.»

«Versprich mir etwas», sagt sie.

«Nein.»

«Komm schon. Dann brauchst du auch das andere Versprechen nicht einzuhalten.»

Seltsamerweise empfinde ich es als eine gewisse Erleichterung, dass sie das Versprechen erwähnt.

Trotzdem schüttle ich den Kopf. Ich weiss genau, dass sie es nicht ernst meint – sie wird mich nie davon befreien.

Sie redet weiter: «Würdest du bitte aufrichtig mit mir umgehen? Du musst mich nicht aufheitern, du brauchst dich nicht zu verstellen und ständig Optimismus zu versprühen. Das bringt mir nichts.»

«Aber ich bin optimistisch.»

«Dazu besteht kein Anlass», entgegnet sie, «immer so tun als ob, das hat Kurt Cobain umgebracht.»

Ich glaube eher, dass es die Schrotflinte war, die er sich an den Kopf gehalten hat, sage aber nichts.

Ich kenne nur eine Nirvana-Liedzeile. Ich singe sie Charlotte im Karaokestyle vor:

«With the lights on», singe ich, «she’s less dangerous.»

Sie verdreht die Augen. «Falsch, falsch», protestiert sie. Aber sie lächelt.

Ich will mehr davon. «Was, für den Versuch gibt’s keine Punkte?»

«Hörst du das nicht?», fragt Charlotte.

«Was?»

«Das bin ich, beim Klatschen.»

«Ich gebe auf», sage ich und gehe zur Tür.

«Bett kippen», sagt Charlotte zur Fernbedienung. Ihr Oberkörper hebt sich langsam. Der Tag kann losgehen.

Ich fahre auf dem Freeway 101 Richtung Mountain View. Dort arbeite ich als Programmierer bei der Firma Reputation Curator. Das Unternehmen besticht beziehungsweise nötigt Yelp- und Facebooknutzer dazu, Negativkommentare über windige Anwälte und miserable Zahnärzte zurückzuziehen. Das ist relativ arbeitsintensiv, deswegen wurde ich angeheuert, um einen Webcrawler zu schreiben, der das Internet durchsucht und aus den gewonnenen Daten Kundenprofile erstellt. Die Erschaffung des Präsidenten war nur der nächste Schritt.

Im Auto auf der Nebenspur fährt eine Frau, auf dem Beifahrersitz neben ihr der iProjector, und sie führt beim Fahren eine lebhafte Unterhaltung mit dem Präsidenten. Auf der nächsten Autobahnbrücke sehe ich einen älteren Schwarzen in einer beigen Windjacke stehen, der auf den Verkehr hinunterblickt. Neben ihm steht der Präsident. Die beiden unterhalten sich nicht, sondern stehen nur nebeneinander und sehen schweigend den vorbeifahrenden Autos hinterher.

Ein fahrerloses schwarzes Auto holt auf der Nachbarspur zu mir auf. Wenn ich schneller fahre, fährt es auch schneller. Durch die getönten Scheiben hindurch ist ersichtlich, dass nichts darin transportiert wird – es ist leer, abgesehen von dem Batteriepark, der dafür sorgt, dass es von niemandem abgehängt werden kann. Ich fahre zwar gern Auto und finde es entspannend, schalte jetzt aber trotzdem auf Selbstfahren um und hüpfe rüber in die Google-Spur, in der ich das Lenkrad loslassen und mich ins Internet einloggen kann. Zum ersten Mal, seit ich den Präsidenten vor einer Woche freigesetzt habe. Ich gehe zu meiner Site und stelle fest, dass vierzehn Millionen Menschen den Präsidenten heruntergeladen haben. Ich habe ausserdem siebenhundert neue E-Mails. Die erste ist von dem Typ, der Facebook gegründet hat, und es ist kein Spam – er will mir einen Burrito ausgeben und über die Zukunft reden. Ich springe direkt zur letzten Message, von Charlotte: «Ich will ja nicht fies sein. Aber ich habe mein Gefühl verloren, falls du dich erinnerst. Ich kriege es wieder. Ich bemühe mich, wirklich.»

Ich sehe den Präsidenten schon wieder, auf der Rasenfläche vor einer koreanischen Kirche. Der Pfarrer hat den iProjector auf einen Stuhl gestellt, und es sieht so aus, als würde der Präsident in einer Bibel blättern, die vor ihm auf einem Pult liegt. Er ist ein Gespenst, das herumspuken wird, bis unsere Nation ihren Frieden mit dem gemacht hat, was geschehen ist: Dass er nicht mehr da ist, dass er uns genommen wurde und dass dies nie rückgängig gemacht werden kann. Und ich bin nicht blöd. Ich weiss, was mir langsam und unwiederbringlich unter meinen Augen abhandenkommt. Ich weiss, dass ich mitten in der Nacht nicht beim Präsidenten Zuflucht suchen sollte, sondern bei Charlotte.

Aber wenn ich mit Charlotte zusammen bin, dann ist eine Membran zwischen uns, eine Schicht, die mein Hirn zwischen uns aufbaut, die mich vor ihrer zittrigen Stimme schützen soll, vor dem sichtbaren Pochen in ihrem ausgetrockneten Puls, vor den Schicksalsschlägen, die sie sarkastisch erwähnt. Erst wenn ich von ihr weg bin, überwältigt es mich – in der Garage wird mir klar, wie unglaublich verängstigt sie sein muss, im Laden, wenn ich die Tampons von der Einkaufsliste streiche, denke ich darüber nach, wie grausam ihr das Leben erscheinen muss.

Beim Fahren denke ich darüber nach, dass sie sich seit kurzem schon zur Wand umdreht, bevor das letzte Stück des Nirvana-Albums vorbei ist, und bald sogar Marihuana und Kopfhörer nicht mehr wirken werden. Die Abfahrt vor mir ist verschwommen, und mir wird klar, dass ich Tränen in den Augen habe. Ich fahre einfach an meiner Ausfahrt vorbei und lasse mich von der Google-Spur davontragen.

Als ich nach Hause komme, wartet mein Chef schon auf mich, Sanjay. Ich hatte ihm gemailt, ein Praktikant solle mir den Hash Reader vorbeibringen, aber hier ist The Man höchstpersönlich, um mir das Teil zu überreichen. Theoretisch kann es einen Hash Reader gar nicht geben. Theoretisch ist es unmöglich, Hash-Verschlüsselung mit hundert Schlüsseln zu knacken. Aber ein Typ in Indien hat es geschafft, ein Typ, den Sanjay kennt. Sanjay wird nicht gern auf seine indische Herkunft angesprochen und findet es ein echtes Klischee, dass jemand mit seinem Namen Besitzer eines Start-up in Palo Alto ist. Deswegen nennt er sich «SJ» und trägt Klamotten, als käme er von der Design School. Er besitzt einen Stanford MBA, hat aber im Grunde einfach nur die Geschäftsidee einer anderen Firma geklaut, Reputation Defender heisst sie. Irgendwie kann man’s dem Guten nicht übelnehmen – die Hoffnungen und Träume eines ganzen indischen Dorfs hängen an ihm.

SJ folgt mir in die Garage, wo ich die Drohne andocke und ihre Festplatte von Slaves durchkämmen lasse. Er reicht mir den Hash Reader, in Bangalore gemacht, handgelötet, aus einem alten Motherboard. Andächtig betrachten wir das raffinierteste Stück Kryptografie der Welt, das wir in unseren unwürdigen Händen halten. Aber wenn man im Silicon Valley den guten Ruf «kuratieren» will, muss man schon ein paar Codes knacken können.

Er sagt nichts, während ich die Drohne hochfahre und eine Diagnose laufen lasse.

«Schön, dass man sich mal wieder sieht», sagt er schliesslich.

«Ich musste mal raus», antworte ich.

«Schon klar», sagt SJ, «ich sage ja nur, dass du uns gefehlt hast. Du holst den Präsidenten zurück, bringst fünfzehn Millionen Besucher auf unsere Site, und dann lässt du dich eine Woche lang nicht blicken.»

Die Drohne weiss, dass irgendwas nicht ganz astrein ist – sie schaltet sich einfach ab. Ich erzwinge einen Kaltstart.

«Wo hast du denn das Teil abgegriffen?», fragt SJ.

«Ich adoptiere sie», sage ich, «gebe ihr ein neues Zuhause.»

SJ nickt. «Der Geheimdienst war übrigens da.»

«Um mich zu suchen?», frage ich, «klingt nicht besonders geheim.»

«Der Präsident hat sie garantiert beeindruckt. Mich auf jeden Fall.»

SJ hat lange Wimpern und grosse braune Manga-Augen, die er jetzt wie Scheinwerfer auf mich richtet.

«Ganz ehrlich, Alter», sagt er, «der Präsident, das ist hohe Kunst, das ist ein echter Game Changer. Eine nahtlos integrierte Datenschnittstelle. Total beeindruckend. Weisst du, was ich mir vorstelle?»

Seine schicke neue Brille fällt mir auf. «Ist die Android?», frage ich.

«Ja.»

«Darf ich mal ausleihen?»

Er reicht sie mir rüber und ich suche nach der IP-Adresse der Google Glass.

SJ macht ausladende Gesten. «Meine Vision ist, dass dein Algorithmus auf Reputation Curator läuft. Hinz und Kunz in aller Welt könnten ihr Profil animieren, die Leute direkt ansprechen, wirklich personalisieren und steuern, wie sie vom Rest der Welt wahrgenommen werden. Dein Programm ist Google, Wikipedia und Facebook in einem. Jedermann, der einen Ruf zu verlieren hat, würde dich dafür bezahlen, dass du ihn animierst, ihn zum Sprechen bringst … und unsterblich machst.»

«Kannst es haben», sage ich zu SJ, «das Kernstück des Algorithmus ist Open Source – ich habe ein Freeware-Protokoll benutzt.»

SJ sieht mich mit einem schiefen Grinsen an. «Haben wir uns schon angeguckt», sagt er, «sieht so aus, als hättest du das Ganze in siebenfacher Verschlüsselung verpackt.»

«Ja, das habe ich wohl, was? Aber du hast ja den Hash Reader. Knack sie einfach.»

«Das will ich aber nicht», wendet SJ ein, «lass uns Partner werden. Deine Idee ist Spitze – ein Algorithmus, der das Web durchforstet und das Gefundene zu einer persönlichen Animation zusammenstellt. Der Präsident ist der Machbarkeitsnachweis, verrät aber natürlich zugleich das Konzept. Wenn wir jetzt in die Startlöcher gehen, gehört die Idee uns und wir können sie noch schützen lassen. In ein paar Wochen hat jeder so was.»

Ich weise SJ nicht darauf hin, wie ironisch es ist, dass ausgerechnet er ein Geschäftsmodell schützen lassen will.

«Für dich ist der Präsident nichts als eine Animation?», frage ich, «hast du mit ihm gesprochen? Hast du dir angehört, was er zu sagen hat?»

«Du kannst Firmenanteile haben», sagt SJ, «schubkarrenweise Aktien.»

Die Drohne bietet mir ihre Firewall dar wie eine schöne Frau ihre Kehle. Ich setze den Hash Reader auf sie an, sein Prozessor summt, und er blinkt rot. Auf Klappstühlen sitzend sehen wir dem Gerät bei der Arbeit zu.

«Ich brauche deine Meinung», sage ich ihm.

«Schiess los», sagt er und zieht ein Beutelchen Gras heraus. Er rollt sich einen Joint und gibt mir den restlichen Beutel. Er versorgt uns seit ein paar Monaten, Fragen werden keine gestellt.

«Was hältst du von Kurt Cobain?», frage ich.

«Kurt Cobain», wiederholt er, während er das Papierchen zwischen den Fingern rollt. «Der Mann war ein Genie», sagt er und leckt den Rand an, «zu rein für diese Welt. Kennst du das Patti-Smith-Cover von ‹Smells Like Teen Spirit›? Unübertroffen, Mann.»

Er zündet den Joint an und hält ihn mir hin, aber ich winke ab. Er sitzt da und starrt zum offenen Rachen unserer Garage hinaus in das Konsumeinerlei Palo Altos. Apple, Oracle, PayPal und Hewlett-Packard wurden alle in Garagen im Umkreis einer Meile von hier gegründet. Ungefähr einmal im Monat kriegt SJ Heimweh und kocht Litti Chokha für die ganze Belegschaft. Er lässt Sharda Sinha laufen und hat einen Ausdruck im Gesicht, als ob er wieder zu Hause in Bihar wäre, dem Land des Buddhabaums und der Hinduracke. Jetzt hat er auch wieder diesen Blick. Er sagt: «Stell dir vor, meine Familie hat sich den Präsidenten heruntergeladen. Sie haben keine Ahnung, was ich hier in Amerika mache, ich kann ihnen nicht verklickern, dass ich schlechten Sushi-Restaurants dabei helfe, Twitter-Trolls loszuwerden. Aber den amerikanischen Präsidenten, das verstehen sie.»

Der Bürgermeister läuft barfuss an uns vorbei. Kurz darauf rollt eine fahrende Werbetafel durch die Strasse.

«Hey, kannst du den Präsidenten Hindi sprechen lassen?», fragt SJ. «Wenn du den amerikanischen Präsidenten dazu bringen kannst, ‹Und jetzt eine Pepsi› auf Hindi zu sagen, mache ich dich zum reichsten Mann der Welt.»

Die LED des Hash Readers schaltet auf Grün um. Und damit gehört die Drohne mir. Ich trenne die Kabel und synchronisiere sie mit der Datenbrille. Die Drohne nutzt ihren Moment der Freiheit, um aufzusteigen und SJ zu betrachten.

SJ mustert die Drohne genauso eingehend.

«Was meinst, wer dir das Ding auf den Hals gehetzt hat?», fragt er, «Mozilla? Craigslist?»

«Das erfahren wir gleich.»

«Lautlos. Schwarz. Radarabgeschirmt», sagt SJ, «ich wette, wir haben es mit schwarzer Magie Marke Microsoft zu tun.»

Das neue Betriebssystem fährt hoch, die Drohne reagiert und ich schicke sie per Netzhautbefehl auf einen Rundflug durch die Garage. «Na, wer hätte das gedacht», sage ich, «wie es scheint, spricht unser kleiner Freund Google.»

«Wow», sagt SJ, «don’t be evil oder was?»

Als die Drohne von ihrem Rundflug zurückkommt, richtet sie einen grünen Laserstrahl auf SJs Schläfe.

«Hey, was soll der Scheiss?», sagt SJ.

«Keine Bange», beruhige ich ihn, «sie misst nur deinen Puls und deine Temperatur.»

«Wozu?»

«Vielleicht will sie deinen Gefühlszustand ablesen», antworte ich, «wahrscheinlich eine noch übriggebliebene Subroutine.»

«Und du bist dir sicher, dass du das Ding unter Kontrolle hast?»

Ich verdrehe die Augen, und die Drohne macht einen Rückwärtssalto.

«Mein Gefühlszustand lässt sich leicht zusammenfassen», meint SJ, «ich will, dass du zurück zur Arbeit kommst.»

«Tue ich», verspreche ich ihm, «ich muss mich nur noch um ein paar Sachen kümmern.»

SJ sieht mir in die Augen. «Ich verstehe, wenn du nicht über deine Frau reden willst. Aber du brauchst nicht alles mit dir allein auszumachen. Bei der Arbeit sorgen wir uns alle um dich.»

Im Haus hängt Charlotte in einem Tragesitz am Hoyer-Lifter, der ans Fenster geschoben wurde, damit sie hinausschauen kann. Sie trägt eine alte, vormals hautenge Yogahose, die jetzt schlabberig sitzt, und riecht nach dem Zedernöl, mit dem ihr Masseur sie einreibt. Ich gehe zu ihr und öffne das Fenster.

«Genau daran habe ich auch gerade gedacht», sagt sie und atmet die frische Luft tief ein.

Ich setze ihr die Google Glass auf, und sie muss erst ein wenig die Augäpfel kreisen lassen, bevor die Drohne schliesslich von meiner Hand abhebt. Ein glückliches Lächeln breitet sich auf Charlottes Gesicht aus, als sie die Drohne ihre Tricks vorführen lässt – in der Luft stehen, rotieren,
Kamera schwenken. Und weg ist die Drohne. Ich sehe ihr hinterher, wie sie über den Rasen gleitet, einen Bogen um die Komposthaufen schlägt und dann auf den Gemeinschaftsgarten zufliegt. Sie lässt sich durch die Reihen treiben, und auch wenn ich nicht denselben Blick wie Charlotte mit der Datenbrille habe, sehe ich, dass die Drohne die Kürbisblüten und die roten Rundungen der Romatomaten inspiziert. Sie fliegt an den Bohnenspalieren empor und folgt den Nabelschnüren der Wassermelonen. Als sie bei ihrem Gärtchen ankommt, keucht Charlotte.

«Meine Rosen», sagt sie, «sie sind immer noch da. Jemand kümmert sich um sie.»

Sie lässt jede Knospe und Blüte von der Drohne untersuchen. Behutsam steuert sie das Fluggerät zwischen den bunten Blütenblättern hindurch, streift die Staubfäden und dirigiert es dann zurück nach Hause. Kurz darauf schwebt die Drohne wieder vor uns. Charlotte streckt die Nase ein wenig vor und riecht daran. «Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Rosen je wieder riechen würde», sagt sie mit vor Aufregung geröteten Wangen, und mit einem Mal fliessen die Tränen.

Ich nehme ihr die Brille ab und lasse die Drohne in der Luft stehen.

Sie betrachtet mich. «Ich will ein Kind», sagt sie.

«Ein Kind?»

«Es sind jetzt neun Monate. Wir hätten jetzt schon eins haben können. Ich hätte die lange Zeit irgendwie sinnvoll nutzen können.»

«Aber deine Krankheit», wende ich ein, «wir wissen nicht, was uns bevorsteht.»

Sie schliesst die Augen, als würde sie etwas umarmen, als klammere sie sich verzweifelt an einer Wahrheit fest.

«Mit einem Kind hätte ich hinterher was vorzuweisen. Es gäbe einen Grund. Und im schlimmsten Fall würde ich wenigstens etwas hinterlassen.»

«So was darfst du nicht sagen», erinnere ich sie, «wir haben darüber geredet, dass du nicht so reden darfst.»

Aber sie will mir nicht zuhören, will die Augen nicht aufmachen.

Sie sagt nur: «Und heute abend möchte ich damit anfangen.»

 

Später am Tag bringe ich den iProjector nach hinten in den Gartenschuppen. Dort im goldenen Nachmittagslicht erwacht der Präsident wieder von den Toten. Er zupft seinen Kragen und seine Manschetten zurecht und fährt mit dem Daumen an seinem schwarzen Revers hinunter, als existiere er nur in dem Augenblick, bevor ihn eine Kamera live in die Welt beamen wird.

«Mr President», sage ich, «es tut mir leid, dass ich Sie wieder stören muss.»

«Unfug», versichert er mir, «ich stehe dem Volk zur Verfügung.»

«Erinnern Sie sich an mich?», will ich wissen, «erinnern Sie sich an die Probleme, von denen ich Ihnen erzählt habe?»

«Immerwährend ist die Natur der Probleme, die den Menschen plagen. Individuell ist nur die Stimme, mit der sie jeden einzelnen von uns rufen.»

«Mein heutiges Problem ist sehr privater Natur.»

«Dieses Gespräch geniesst das Siegel meiner Verschwiegenheit.»

«Ich habe schon sehr lange nicht mehr mit meiner Frau geschlafen.» Er hält eine Hand hoch, um mich zu unterbrechen, und lächelt auf väterlich-wissende Art.

«Anfechtungen sind unausweichlicher Bestandteil des Pakts jeder ehelichen Gemeinschaft.»

«Es geht um die Kinderfrage.»

«Kinder sind die Zukunft», verkündet er.

«Hätten Sie Ihre Kinder auch dann bekommen, wenn Sie gewusst hätten, dass nur einer von Ihnen da sein wird, um sie aufzuziehen?»

«Alleinerziehende Eltern haben es in der heutigen Welt schwer», sagt er, «deswegen verabschiede ich ein Gesetz, das unseren hart arbeitenden Eltern den Alltag erleichtern soll.»

«Und wie ist es mit Ihren Kindern? Fehlen sie Ihnen?»

«In Gedanken bin ich stets bei meinen Kindern. Die häufige Trennung von ihnen ist das grösste Opfer, das mir mein Amt abverlangt.»

Der im Schuppen schwebende Staub bringt seine Erscheinung zum Flirren und Flimmern. Er erzeugt den Eindruck, als könnte der Datenstrom abreissen und der Präsident jeden Augenblick verschwinden. Eine gewisse Dringlichkeit überkommt mich.

«Wenn alles vorbei ist», frage ich, «wohin gehen wir dann?»

«Ich bin kein Prediger», sagt der Präsident, «aber ich glaube daran, dass wir dahin gehen, wohin wir gerufen werden.»

«Und wohin wurden Sie gerufen? Wo sind Sie jetzt?»

«Versuchen wir nicht alle, uns zwischen den Pfeilern ungewohnter Verhältnisse wiederzufinden?»

«Sie wissen also nicht, wo Sie sind, verstehe ich das richtig?», frage ich den Präsidenten.

«Ich bin mir sicher, dass mein Gegner Sie gern in dem Glauben lassen möchte.»

«Nicht so schlimm», sage ich, mehr zu mir selbst, «ich hatte nicht erwartet, dass Sie das wissen.»

«Ich weiss haargenau, wo ich bin», entgegnet der Präsident. Dann fügt er mit einem Tonfall hinzu, der wie aus vielen Schnipseln zusammengesetzt wirkt: «Ich befinde mich derzeit an den Koordinaten dreisieben Grad viervier Minuten Nord und einszweizwei Grad einsvier Minuten West.»

Ich vermute, damit hat er für heute alles gesagt. Ich warte darauf, dass er gute Nacht und «Gott segne Amerika» sagt. Doch stattdessen streckt er den Arm aus, um meine Brust zu berühren. «Mir wurde berichtet, dass Sie grosse persönliche Opfer gebracht haben», sagt er, «Ihr Pflichtgefühl ist stark.»

Ich glaube nicht, dass ich das so ausdrücken würde, erwidere aber: «Jawohl, Sir.»

Seine leuchtende Hand klopft mir auf die Schulter, und dass ich nichts davon spüre, macht überhaupt nichts.

«Diese Medaille, die ich jetzt an Ihre Uniform hefte, ist weit mehr als nur ein Stück Silber. Sie ist ein Symbol dafür, wie viel Sie geopfert haben, nicht nur im bewaffneten Kampf, nicht nur im Dienst an unserem Land. Sie signalisiert anderen, wie viel mehr Sie noch in sich tragen. Damit sind Sie auf ewig als jemand ausgezeichnet, auf den Verlass ist, der in schwierigen Zeiten die Gestrauchelten aufheben und tragen wird.» Stolz blickt er in den leeren Raum über meiner Schulter. Er sagt: «Und jetzt kehren Sie zurück zu Ihrer Frau, Soldat, und beginnen Sie ein neues Kapitel Ihres Lebens.»

 

Mit Einbruch der Nacht gehe ich zu Charlotte. Der Spätdienst hat ihr ein Negligee angezogen. Als ich auf sie zukomme, lässt Charlotte das Bett herunter. Der Elektromotor ist das einzige Geräusch im Zimmer.

«Ich habe meinen Eisprung», verkündet sie, «ich spüre es.»

«Wie, du kannst es spüren?»

«Ich brauche es nicht zu spüren», sagt sie, «ich weiss es einfach.»

Sie wirkt seltsam gelassen.

«Bist du so weit?», fragt sie.

«Na klar.»

Ich halte mich an dem Sicherheitsgitter fest, das uns voneinander trennt.

Sie fragt: «Willst du erst oralen Sex?»

Ich schüttle den Kopf.

«Na, dann leg dich zu mir», sagt sie.

Ich will gerade in ihr Bett klettern, da unterbricht sie mich.

«Hey, Sonnenschein», sagt sie, «zieh dich doch erst aus.»

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann sie mich das letzte Mal so genannt hat.

«Natürlich», sage ich und knöpfe mein Hemd auf, ziehe die Jeans herunter. Als ich die Unterhose fallen lasse, fühle ich mich seltsam, ja nackt. Ich weiss nicht genau, ob ich auch die Socken ausziehen soll. Ich lasse sie an. Ich schwenke ein Bein über die Reling und liege halb auf ihr.

Ein Ausdruck der Zufriedenheit breitet sich auf ihrem Gesicht aus. «Ja, so soll es sein», sagt sie, «ich habe dir so lange nicht mehr in die Augen geschaut.»

Ihr Körper ist schmal, aber warm. Ich weiss nicht, was ich mit meinen Händen anfangen soll.

«Willst du mir nicht den Slip ausziehen?»

Ich richte mich auf und ziehe ihr den Slip herunter. Ich sehe die Narbe vom Oberschenkelstent. Ich hebe ihr Gesäss hoch – da sind die wundgelegenen Stellen, gegen die wir ankämpfen.

«Weisst du noch, als wir in Mexiko waren?», fragt sie, «als wir oben auf der Pyramide miteinander geschlafen haben? Das war, als ob wir in dem Augenblick in Vergangenheit und Zukunft zugleich gewesen wären. So ähnlich fühle ich mich jetzt auch.»

«Du bist nicht high, oder?»

«Was?», fragt sie, «du meinst, ich müsste bekifft sein, um mich an das erste Mal zu erinnern, als wir davon gesprochen haben, ein Kind zu bekommen?»

Als die Unterhose ausgezogen ist und ich ihre Beine angewinkelt habe, zögere ich. Es erfordert meine ganze Konzentration, um eine Erektion zu bekommen, und dann kann ich nicht glauben, dass ich tatsächlich eine habe. Ich erlebe den Augenblick seltsam kalt, distanziert, so wie eine Drohne ihn betrachten würde: Unter mir liegt meine gelähmte, invalide, komplett gefühlslose Frau, und obwohl das Ganze das Gegenteil von erotisch ist, bin ich total hart.

«Ich bin nass, oder?», fragt Charlotte, «ich habe den ganzen Tag an nichts anderes gedacht.»

Ich erinnere mich an die Pyramide. Die Steine waren kalt, die Treppe steil. Für mich war die Vergangenheit eine Woche Charlotte in Mayatracht, die mit jedem Baby turtelte, dem sie begegnete. Während wir unter fernen, schläfrigen Sternen miteinander schliefen, versuchte ich mir die Zukunft auszumalen: ein gesichtsloser Jemand, der auf einem Menschenopfer-Altar gezeugt wurde. Ich kam zu früh und versuchte es abzuschütteln. Diesen Jemand würde es wahrscheinlich nie geben. Ausserdem mussten wir uns ziemlich zusammenreissen, wenn wir es die vielen steilen Stufen im Dunkeln nach unten schaffen wollten.

«Ich glaube, ich spüre etwas», sagt sie, «du bist in mir, stimmt’s? Ich bin mir wirklich ziemlich sicher, dass ich es spüre.»

Und damit dringe ich in meine Frau ein und beginne mit dem Liebesakt. Ich versuche mich auf den Gedanken zu konzentrieren, dass Charlotte in Sicherheit sein wird, falls das hier funktioniert, dass ihr neun Monate lang nichts zustossen wird, und vielleicht hat sie ja recht, vielleicht wird das Baby ja etwas auslösen und ihre Genesung einleiten.

Charlotte lächelt. Ein sprödes Lächeln, aber immerhin. «Und was sagst du dazu, von wegen Licht am Ende des Tunnels – wenigstens bekomme ich von den Geburtsschmerzen nichts mit.»

Was mich ins Grübeln bringt, ob eine gelähmte Frau überhaupt gebären kann, oder kommt sie unters Messer, und wenn ja, braucht sie eine Betäubung, und mein Körper ist auf einmal kurz davor, nicht mehr mitzuspielen.

«Hey, bist du noch da?», fragt sie, «ich versuche, dich zum Lächeln zu bringen.»

«Ich muss mich nur gerade kurz konzentrieren», teile ich ihr mit.

«Ich merke schon, dass du nicht richtig bei der Sache bist», sagt sie, «du kannst dir die Vorstellung nicht aus dem Kopf schlagen, ich würde irgendwas Drastisches anstellen, stimmt’s? Nur weil ich manchmal verrücktes Zeug rede, heisst das noch lange nicht, dass ich es auch tue.»

«Und warum musste ich dann versprechen, dir dabei zu helfen?»

Das Versprechen kam früh, ganz am Anfang, noch vor der Beatmungsmaschine. Charlotte hatte einen stundenlang andauernden Brechreflex. Die Ärzte sagten, so etwas gäbe es. Man stelle sich endloses trockenes Würgen vor, und man ist dabei gelähmt. Die Ärzte gaben ihr schliesslich Betäubungsmittel. Benebelt, tote Gliedmassen und Brechreiz – das war der Augenblick, in dem es sie wie eine Faust ins Gesicht traf: Sie hatte die Kontrolle verloren. Ich hielt ihr die Haare aus dem Gesicht und weg von der Schale. Zwischen den Anfällen keuchte sie.

Sie sagte: «Versprich es mir. Wenn ich dich bitte, dass es aufhören soll, dann mach bitte, dass es aufhört.»

«Was aufhört?», fragte ich.

Sie würgte, ausgedehnt, dass es durch Mark und Bein ging. Ich wusste, was sie meinte.

«Dazu wird es nicht kommen», sagte ich.

Sie versuchte, etwas zu sagen, musste aber schon wieder würgen.

«Ich verspreche es», sagte ich.

Jetzt in ihrem Klinikbett gleiten die Träger des Negligees von ihren Schultern und Charlotte sagt: «Ich weiss, dass das für dich schwer zu verstehen ist. Aber ich kann nur deshalb weitermachen, weil ich weiss, dass es einen Ausweg gibt. Ich würde es nie tun. Du glaubst mir doch, oder?»

«Ich finde das Versprechen schrecklich, finde es schrecklich, dass du mich dazu gezwungen hast.»

«Ich würde mir nie etwas antun und dich nie zwingen, mir dabei zu helfen.»

«Dann befreie mich davon», bitte ich sie.

«Tut mir leid», antwortet sie.

Ich beschliesse, einfach alles auszublenden und weiterzumachen. Meine Erektion geht allmählich flöten und meine Gedanken begeben sich auf Wanderschaft: Was passiert, wenn er schlaff wird, schaffe ich es, so zu tun als ob, aber ich verdränge es, mache einfach immer weiter und weiter, hämmere auf Charlotte ein, bis ich fast gefühllos bin. Einsam schlackern ihre Brüste unter mir. Auf dem Nachttisch schaltet sich die Drohne von selbst ein, steigt auf, steht in der Luft. Ein grüner Laserblitz trifft meine Stirn, als wäre das, was ich empfinde, einfach abzulesen, als könnte man es in Worte fassen. Spioniert das Ding mich aus, meine Gefühle, führt es einen alten Code aus? Ich frage mich, ob der Hash Reader vielleicht versagt oder es auf das vorige Betriebssystem zurückgegriffen oder ob Google sich das Ding wieder unter den Nagel gerissen hat oder ob es in irgendeinem autonomen Modus läuft. Oder vielleicht hat jemand die Android-Brille gehackt oder vielleicht … in dem Augenblick blicke ich nach unten und sehe, dass Charlotte weint.

Ich halte inne.

«Nein, bitte nicht», sagt sie, «hör nicht auf.»

Sie weint nicht stark, aber die Tränen sind gross und voll echten Herzeleids.

«Wir können es doch morgen noch mal probieren», tröste ich sie.

«Nein, nein, mach dir nichts draus», sagt sie, «hör einfach nicht auf und tu etwas für mich, ja, bitte?»

«Na gut.»

«Setz mir die Kopfhörer auf.»

«Du meinst jetzt beim Sex?»

«Musik an», sagt sie und ich höre das Summen von Nirvana aus dem Kopfhörer auf ihrem Nachttisch.

«Ich weiss, dass ich es nicht richtig mache», sage ich, «aber wir haben schon so lange nicht mehr, und da…»

«Es hat nichts mit dir zu tun», erwidert sie, «ich brauche einfach meine Musik. Setz sie mir auf.»

«Aber wozu brauchst du Nirvana? Was bedeutet dir das?»

Sie schliesst die Augen und schüttelt den Kopf.

«Was findest du an diesem Kurt Cobain?», sage ich, «was willst du von ihm?»

Ich packe ihre Handgelenke und drücke sie nach unten, aber Charlotte spürt nichts davon.

«Warum brauchst du seine Musik? Was ist mit dir los?», frage ich, «sag mir einfach, was mit dir nicht stimmt.»

 

Ich gehe in die Garage, wo sich die Drohne auf der Suche nach dem Ausgang an den Wänden entlangtastet. Ich setze mich an einen Computer und suche online ein Nirvana-Album. Im Dunkeln sitzend lasse ich das ganze Ding von Anfang bis Ende durchlaufen. Dieser Typ, Kurt Cobain, singt davon, dass er dumm und blöd ist und niemand ihn mag. In einem Lied sagt er, Jesus wolle ihn nicht als Sonnenstrahl. In einem anderen Song verlangt er nach Milch und Abführmitteln und Säureblockern mit Kirschgeschmack. Er hat ein Stück, das «All Apologies» heisst, in dem er ständig dieselbe Zeile wiederholt: «What else can I be? All apologies.» Aber er entschuldigt sich nie richtig. Er sagt nicht mal, was er nun eigentlich falsch gemacht hat.

Die Drohne hat keine Fluchtmöglichkeit gefunden, fliegt zu mir und steht lautlos in der Luft. Ich muss einen ziemlich erbärmlichen Eindruck machen, weil sie mir die Temperatur misst.

Ich hebe die Fernbedienung der Garagentür hoch. «Willst du raus?» frage ich, «kommst du von alleine wieder, oder muss ich dich suchen gehen?»

Die Drohne summt still und ungerührt auf ihrer Säule warmer Luft.

Ich drücke auf die Fernbedienung. Die Drohne wartet, bis die Garagentür ganz oben ist. Dann schiesst sie ein Foto von mir und schnurrt hinaus in die Palo-Alto-Nacht.

Ich stehe auf und atme die kühle, nach Blumen riechende Luft tief ein. Das Mondlicht ist so hell, dass die Blätter ein Schattenmuster auf die Einfahrt werfen. Am Ende der Strasse erspähe ich die leuchtenden Augen unserer Katze. Ich rufe ihren Namen, aber sie kommt nicht. Ich habe sie an unsere Freunde ein paar Häuserblocks entfernt verschenkt, und einige Wochen lang kam die Katze nachts zurück, um mich zu besuchen. Das ist vorbei. So erscheint mir momentan mein ganzes Leben – das Gefühl, etwas für immer verloren zu haben, das aber noch in Reichweite ist. Es ist ein Gefühl, das Charlotte sofort verstehen würde, wenn sie nur bereit wäre, mit dem Präsidenten zu reden. Doch ganz plötzlich wird mir klar, dass er nicht derjenige ist, mit dem sie sprechen muss. Ich gehe zurück an meinen Arbeitsplatz und fahre sämtliche Bildschirme hoch. Ich starre in den blauen Monitorschein und mache mich an die Arbeit. Ich brauche Stunden, den Grossteil der Nacht, bis ich fertig bin.

Es wird schon fast hell, als ich zu Charlotte hineingehe. Im Zimmer ist es dunkel, nur ihr Umriss ist zu sehen. «Bett kippen», sage ich, und das Kopfende hebt sich. Sie wacht auf und starrt mich an, sagt aber nichts. Ihr Gesicht ist so leer, wenn sie nach dem Ansturm der Gefühle völlig erschöpft ist.

Ich stelle den iProjector in ihren Schoss. Sie kann das Ding nicht leiden, sagt aber nichts. Sie neigt den Kopf nur ein klein wenig, als würde sie mich bemitleiden. Dann stelle ich ihn an.

Kurt Cobain erscheint, mit einem Bademantel bekleidet, in sanftes, blaues Licht gehüllt.

Charlotte hält die Luft an. «Oh mein Gott», murmelt sie.

Sie sieht mich an. «Ist er es?»

Ich nicke.

Sie betrachtet ihn.

«Aber was soll ich denn sagen?», fragt sie, «kann er sprechen?»

Ich gebe keine Antwort.

Die Haare hängen Kurt Cobain ins Gesicht. Charlotte versucht, einen Blickwinkel zu finden, mit dem sie ihm in die Augen sehen kann. Während der Präsident es nie recht schafft, einem in die Augen zu sehen, weicht Kurt ihrem Blick absichtlich aus.

«Ich kann nicht glauben, wie jung du bist», sagt Charlotte zu ihm, «du bist ja noch ein halbes Kind.»

Kurt schweigt, dann murmelt er: «Ich bin alt.»

«Bist du wirklich da?», fragt sie.

«Here we are now», singt er, «entertain us.»

Seine Stimme ist rauh und klingt nach einem harten Leben. Für Charlotte ist es eine Art Beweis, dass er wirklich anwesend ist.

Die Augen gross vor Staunen blickt Charlotte mich an. «Ich dachte, er wäre nicht mehr da», sagt sie, «ich kann nicht glauben, dass er wirklich hier ist.»

Kurt zuckt die Achseln. «Mir bedeuten die Dinge immer erst dann etwas, wenn sie nicht mehr da sind», sagt er.

Charlotte wirkt ergriffen.

«Den Satz kenne ich», sagt sie zu mir, «der stammt aus seinem Abschiedsbrief. Wie kann er das wissen? Hat er ihn schon geschrieben, weiss er, was er sich antun wird?»

«Ich weiss es nicht», antworte ich. Diese Unterhaltung muss sie selbst führen. Ich gehe langsam zur Tür, und als ich hinausgehe, höre ich, wie sie mit ihm zu sprechen beginnt.

«Bitte tu das nicht, woran du gerade denkst», fleht sie ihn an, «du weisst ja nicht, wie einzigartig du bist. Du ahnst nicht, wie viel du mir bedeutest. Bitte, bleib bei mir.»

Sie lehnt sich Kurt Cobain zu, als wollte sie ihn in die Arme schliessen und festhalten, als hätte sie vergessen, dass sie die Arme nicht bewegen kann und kein Kurt da ist, den sie festhalten kann.

 


Christina Baeriswyl ist Illustratorin und Designerin. Sie hat die Kurzgeschichte von Adam Johnson exklusiv für dieses Magazin illustriert. Sie lebt in Luzern und Zürich. Web: www.maeusedompteuse.ch

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