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Nieder mit den autoritären Ehemännern – hoch lebe der autoritäre Wohlfahrtsstaat!
Der US-amerikanische Blues- und Folksänger Leadbelly, Bild: Wikimedia.

Nieder mit den autoritären
Ehemännern – hoch lebe der
autoritäre Wohlfahrtsstaat!

Eine feministische Elite zelebriert ihren Opferstatus und verhindert damit eine eigenständige weibliche Identität.

Erhöhte Wachsamkeit, auch als Hypervigilanz bezeichnet, ist ein häufiges Symptom posttraumatischer Belastungsstörungen. Sie hält den Körper in einer andauernden Reaktionsbereitschaft aufgrund eines ständigen Gefühls der Bedrohung. Der Blues- und Countrymusiker Leadbelly erlebte diese Situation als marginalisierter Afroamerikaner in den 1920er- und ’30er-Jahren, als Tausende von Wanderarbeitern durch die USA vagabundierten, und verarbeitete seine Erlebnisse in tieftraurigen Liedern. Einer dieser Songs hiess «Stay Woke».

Wokeness ist also in ihrer ursprünglichen Bedeutung eine emotionale Reaktion auf traumatisierende, gesellschaftliche Umstände und keine konsistente Theorie. Dies verdeutlicht das Buch «Why We Matter» der französischen Politologin Emilia Roig von 2021, in dem sie auf die Critical Race Theory zurückgreift, dann aber einen anderen Kriegspfad beschreitet: «Sollten wir versuchen, den Rat von Audre Lorde1 umzusetzen, müssten wir jede Form der Bewertung oder Beurteilung von Ideen ablehnen und davon ausgehen, dass alles relativ ist.» Laut Roig verhindern gerade der Liberalismus und der ihm verpflichtete Rechtsstaat aufgrund ihrer strukturellen Gegebenheiten eine eigentliche Gerechtigkeit. Deshalb fordert sie die persönliche Betroffenheit aller und eine kollektive Wachsamkeit.

Fortwährende Abhängigkeit vom männlichen Ernährer

Roigs Kampf gilt dem westlichen, weissen Patriarchat, das durch den Staat und in Form des Ehevertrags zementiert werde. Roig will die Flexibilisierung der Geschlechterrollen. Sie stellt fest, dass diese Entwicklung sehr schleichend und ausschliesslich in eine Richtung voranschreite; die Frauen befreiten sich, indem sie höhere Bildungsabschlüsse anstrebten und eine berufliche Laufbahn einschlügen. Sie verkennt aber, dass sich dadurch die Situation junger Männer verschlechtert, was diese verständlicherweise nicht widerstandslos hinnehmen.

Erstaunlicherweise billigt Roig weiterhin die Ehe als einzig gangbaren Weg der finanziellen Absicherung bei einer allfälligen Mutterschaft. Sie rechtfertigt diese Haltung als legitime Angst vor der Befreiung, als Zurückschrecken vor zu hohen Kosten und vor dem unnötigen Verzicht auf Annehmlichkeiten. Alternativ dazu soll künftig der Wohlfahrtsstaat die Rolle des Ehemannes als Absicherung der Frau und Mutter übernehmen und gleichzeitig für kostenlose externe Kinderbetreuung sorgen. Da Männer in allen westlichen Staaten die Hauptlast des Steueraufkommens tragen, bleiben sie auch in diesem Modell die Familienernährer.

«Da Männer in allen westlichen Staaten die Hauptlast des
Steueraufkommens tragen, bleiben sie auch in diesem Modell die Familienernährer.»

Überhaupt sind Kinder aus Sicht von Roig das entscheidende Problem, denn ihretwegen müssten Frauen auf Geld, Status und Macht verzichten. Statt dieses Problem aber gemeinsam anzugehen, diskreditiert Roig diejenigen Frauen, die ihre Mutterrolle schätzen. Sie gelten gewissermassen als Opfer des Patriarchats. Erstaunlich nur, dass unter diesen Umständen weiterhin weisse Männer brav die Ernährerrolle übernehmen und damit beispielsweise schweizweit in 80 Prozent der Ehen die unliebsame Carearbeit «woker» Frauen bezahlen, notabene ohne dafür wertgeschätzt zu werden.

Abarbeiten des kolonialen Traumas

Roigs Buch strotzt vor Neid und Missgunst gegenüber «Privilegierten» – besonders gegenüber der weissen Frau. So soll ihrer Ansicht nach die berufliche Qualifikation für soziale Mobilität sorgen, und nicht ein bürgerliches Sichhochheiraten. Anwendbare, objektiv messbare Kompetenzen, straffe Studiengänge ohne Selektion führten zum Ziel der klassenlosen Herrschaft der Akademikerinnen. In passiv-aggressiver Weise werden Zurückweisungen und Misserfolge als Diskriminierungen umgedeutet und eine Verantwortung für eigene berufliche Misserfolge abgelehnt. Schlussendlich ist ein autoritärer Männerstaat für die Umsetzung ihrer Vorstellung von Chancengerechtigkeit zuständig. Dass dies zur Desavouierung von Karrierebestrebungen qualifizierter Frauen führen könnte, bedenkt Roig nicht.

Trotz der angestrebten Qualifikationen ist die vermeintlich rationale Wissenschaft für Roig nichts wert. Selbst wenn ihre Kritik an der Aufklärung fadenscheinig ausfällt und nur über Sekundärliteratur hergeleitet wird, gelten für sie gefühlt in der Akademie weder Neutralität noch Objektivität, bestimmt doch die Klassenzugehörigkeit das Denken der Forschenden und letztlich deren Erfolg. Klassische Bildung wird ohnehin als imperiales «Veredelungskonstrukt» abgelehnt.

Was also zählt, ist das Abarbeiten des westlichen Traumas, als dessen erleuchtete Elite sich Roig und ihre Mitstreiterinnen verstehen. Sie fordert ein empathisches Einssein mit den von Intersektionalität betroffenen, aufgrund von Rasse, Geschlecht oder Religion mehrfachdiskriminierten Menschen. Ein kollektives Schuldbewusstsein und ein dringender Wunsch nach Wiedergutmachung ersetzen das religiös fundierte Mitleid, welches als billige Projektion eigener Gefühle abgelehnt wird. Dass gerade diese Haltung eine echte «Cultural Appropriation» darstellt und in kolonialen Denkstrukturen verharrt, erkennt Roig nicht.

Desmond Tutu hat mit seiner Wahrheits- und Versöhnungskommission in der südafrikanischen Antiapartheitsbewegung den Weg zur Bewältigung transgenerationaler Traumata vorgezeichnet. Eine Überhöhung der eigenen Opferrolle und der Rückzug in eine aggressive Self-Care-Bewegung bringen keine Heilung. Wer eine kollektive Zugehörigkeit fordert, muss offen sein für das Gespräch und Mitleid zulassen. Traumatisierte gibt es in allen Gesellschaftsschichten, oft verschieben sich die Rollen mit einer Migration. In vielen Kulturen sind solche Traumata nicht aufgearbeitet, sodass der westliche, woke Blick als Indoktrinierung empfunden wird: Afrikanische Historikerinnen und Historiker verschieben gerade die Opfer-Täter-Symmetrie im transatlantischen Sklavenhandel, und vedische Gelehrte negieren den Einfluss des Kolonialismus auf die indische Gesellschaft vehement. Ausserdem sind ein schwärmerischer Kollektivismus und eine undifferenzierte Hyperidentifikation kein Fundament für eine starke Identität oder gar die Emanzipation der Frau.

«Eine Überhöhung der eigenen Opferrolle und der Rückzug in eine
aggressive Self-Care-Bewegung bringen keine Heilung.»

Ich halte subjektive Betroffenheit an sich für nichts Schlechtes, bloss kann man damit keine Politik machen. Sie findet ihren berechtigten Platz in der Kunst, eben beispielsweise in den Bluessongs von Leadbelly.

In diesem Sinne: Stay Woke.

  1. Afroamerikanische, feministische Aktivistin (1934‒1992).

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