Nie wird Frau Blum den Milchmann kennenlernen
Peter Bichsel: «Heute kommt Johnson nicht». Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008
Diese Sammlung von Kolumnen kann als privates Buch gelesen werden. Dann ist man verführt, den Autor zu umarmen und wünscht sich, ihm regelmässig in der Beiz zu begegnen, um die sich nicht wenige seiner Geschichten drehen. Die Sammlung kann aber auch als öffentliches Buch gelesen werden, in dem ein früher politisch Engagierter die Gegenwart bespiegelt. So genommen, bieten die meisten Beobachtungen und Reflexionen eine erschreckende Diagnose der Resignation. Wie Mehltau liegt sie auf den Kinder- und Jugendlichenepisoden, in denen die erste Rolltreppe gefahren oder die erste Elvisplatte gehört wird. Der Gegenwart wird mit grösster Skepsis begegnet.
Peter Bichsel ist ein Modernisierungskritiker der alten Schule. Wie die Kritik von Weber oder Adorno, richtet sich auch die seine gegen die technologische und bürokratische Effizienz und Planbarkeit. Der zweckrationalen Welt gegenüber preist er das Warten an, sogar das Warten auf nichts, sowie die Fluchten aus dem Geplanten. Schreiben kann er nur im fahrenden Zug ohne Ziel. Rentner und Obdachlose sind für ihn die Vertreter der Menschlichkeit, weil sie ihre Existenz in die endlos fahrenden Züge verlegt haben. Anderseits will Bichsel niemanden wirklich beissen, er ist ein netter Kritiker. Schematisiertes Verhalten kommt, mit der fast liebevollen Ausnahme der sich allzu früh aufreihenden Fahrgäste beim einfahrenden Zug, so gut wie nicht vor. Technologen und Bürokraten treten nicht auf. Leider bleibt die Kritik dadurch selbst nostalgisch. Kann man heute noch ernsthaft über Kartenautomaten oder Bankomaten wehklagen?
Was aus diesen Beobachtungen führt in die Zukunft? Da gibt es Bewunderung für die zunehmend durch Ausländer praktizierte Vielsprachigkeit in der Schweiz, ein Bewusstsein für den falschen Nationalstolz über die Alinghi, eine mindestens halbe Akzeptanz des Fussball- statt Nationalpatriotismus und einen schüchternen Kommunikationsversuch mit einem abweisenden Turbanträger. Bichsels Humanismus äussert sich in der Identifikation mit dem zum Schlachthaus geführten Stier und mit den geistig Behinderten, die im Bus laut grüssend die soziale Isolation der Fahrgäste durchbrechen. Wiederum sind diese Szenen freilich mit Nostalgie verbunden, mit dem Wunsch, die von der grossen Maschine Verdrängten zu retten. Als blinde Maschine kann die Gesellschaft nicht eigentlich humanisiert werden.
Schwermütig im Unmöglichen zu verharren mag eine persönliche Eigenart Bichsels sein. Vor vielen Jahren hat in den ersten Geschichten Bichsels Frau Blums Unvermögen berührt, den allzufrüh am Morgen liefernden Milchmann kennenzulernen. Damals bestand zumindest die Hoffnung, dass aus einer verkrusteten Gesellschaft etwas Neues, Niedagewesenes entstehen könnte. An diese Hoffnung wird jetzt nicht einmal mehr erinnert. Bichsel produziert nur noch Rührung aus dem Verlorengegangenen und Verklärten, ein ungeschönter Blick in die Vergangenheit ist sowenig möglich wie einer in die Zukunft. Soweit sich ein Bekenntnis zur sozialen Demokratie andeutet, bleibt es lustlos und ebenso abstrakt wie die Modernisierungskritik. Das Leben konkretisiert sich in dem, was sich ungewollt angesammelt hat: der verrosteten Bratengabel, von der man sich nicht mehr trennen kann, weil man sie schon zu lange hat. Johnson kommt heute nicht mehr. Aber warum sollte er – bei solchen Aussichten – auch kommen?