Nichts gelernt aus der Fichenaffäre
Vor 30 Jahren wurde der grösste Überwachungsskandal der Schweizer Geschichte aufgedeckt. Heute zeigt sich: Das war erst der Anfang.
Auslöser der Fichenaffäre war ein Damenopfer: Elisabeth Kopp wurde auch als Bundesrätin über ihren umstrittenen Mann Hans W. Kopp definiert. Sie hatte zwar auch selbst kleine Fehler gemacht. Über die Klinge springen musste sie aber, weil ihre Partei, die FDP, sie unter öffentlichem Druck schnöde fallenliess. Am 12. Dezember 1988 gab sie ihren Rücktritt bekannt und demissionierte darauf vorzeitig am 12. Januar 1989. Das System geriet kurzfristig etwas aus den Fugen. Die Linke hat diesen Chaosmoment genutzt und aus dem imaginären «Kopp-Skandal» die reale Fichenaffäre gemacht.
1989 war das Jahr der Wende: Die DDR implodierte, im Osten Berlins stürmten Bürgerinnen und Bürger die Stasi-Zentrale. In Bern wurden an der Taubenstrasse 900 000 Fichen offengelegt. 30 000 Bürgerinnen und Bürger aller Couleur verlangten vor dem Bundeshaus den «Schluss mit dem Schnüffelstaat»; eine reife politische Leistung der Bewegung und der damaligen linken Akteure. Um die Offenlegung der Schwärzungen auf den Karteikarten musste zwar hart gerungen werden, am Ende aber war eine weitgehende Einsicht in die Fichen möglich. In der Folge flog auch die Geheimarmee P26 auf, deren Vorgängerorganisation sich 1979 rechtswidrig vom regulären Spezialdienst abgekapselt hatte und die 1990, nach der Bekanntmachung der Affäre durch eine weitere Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK), vom Bundesrat aufgelöst wurde. Gelöst sind die Probleme damit bei weitem noch nicht. Wer weiss, ob es nicht längst wieder neue Geheimarmeen gibt. Jedenfalls wird weiter am Fichenstaat gebaut – neu untermauert von einer rechtlichen Grundlage, was die Sache aber nicht besser macht.
Vor einem Jahr stellte ich ein Gesuch an den Nachrichtendienst des Bunds (NdB) um Offenlegung meiner persönlichen Daten. Die Bearbeitung des Gesuchs dauerte ein volles Jahr; dann erhielt ich neun Seiten zu meiner Person. Die Durchsicht meiner Fiche beinhaltet banale Medienberichte, zeigt aber auch, dass vertrauliche Protokolle von Parlamentskommissionen vor den Staatsschnüfflern nicht sicher sind. Gelernt hat das VBS aus dem Fichenskandal offenbar wenig.
Inzwischen hat sich die Welt der Datensammlungen total verändert. Nicht mehr nur der Staat ist am Drücker, sondern auch Private. Google und Co. verfolgen uns auf Schritt und Tritt. Sie wissen aufgrund von intelligenten Rechnern und Verknüpfungen auf vielen Feldern mehr über uns als wir selbst. Mit den US-amerikanischen Geheimdiensten, die über Milliardenbudgets verfügen, arbeiten sie nicht selten zusammen. Eines der Resultate: Edward Snowden, der in Genf für die CIA spionierte, sitzt seit seinen Whistleblower-Enthüllungen im Jahr 2013 im russischen Asyl. Julian Assange schmort in britischen Kerkern und wartet auf ein Urteil im Auslieferungsprozess mit den USA. Die beiden haben schonungslos aufgezeigt, wie der weltumspannende US-amerikanische Schnüffelstaat funktioniert. Wer setzt sich für sie ein?
Historische Erfahrungen belegen, dass die ganze Überwacherei nur wenig bringt. Sie kann politische Erdbeben vielleicht verzögern, aber nicht verhindern. Am Ende, so zeigt die Geschichte, brechen autoritäre Staaten immer wieder in sich zusammen. Im Dunkeln agierende Nachrichtendienste gehören abgeschafft; der Staat soll zumindest nicht wieder flächendeckend seine eigenen Bürgerinnen erfassen. Es reicht, wenn er versucht, die für die Schweiz relevanten Veränderungen auf einer weltweiten Ebene zu begreifen. Das ist umso wichtiger, seit Medienhäuser wie die SRG oder die NZZ das Netz ihrer Korrespondenten ausdünnen.
Der Ausblick für die wenigen Freundinnen und Freunde einer liberalen Welt bleibt negativ. Mit den geplanten polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) droht der Schweiz eine weitgehende Anti-Terror-Gesetzgebung, bei der selbst 15-Jährigen bereits präventiver Hausarrest, 12-Jährigen ein Rayon- oder Ausreiseverbot droht. Das geht viel zu weit und gefährdet Menschenrechte; Jugendorganisationen ergreifen zu Recht das Referendum dagegen. Die Abstimmung über die PMT wird zeigen, ob es bei uns noch Gen-Reste der Bewegung «Schluss mit dem Schnüffelstaat» gibt.