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Nicht Ziege noch Kamel

Armenien gilt nicht selten als Land der Steine. Eine durchaus treffende Bezeichnung. Wie belebt und belebend die starren Riesen und Zwerge sein können, erfährt der Besucher am besten an den zahlreichen Kultstätten und in den vielfältigen Bräuchen. Eine – Art – Pilgerreise.

Nicht Ziege noch Kamel
Armenien aus der Luft, photographiert von Severin Kuhn.

Auf dem Kamelberg sollen sie liegen, die 14 000 Jahre alten Felsenzeichnungen, denen wir heute einen Besuch abstatten wollen. Die Hochebene auf 3300 m ü. Meer hält mehr als 2000 Petroglyphen bereit, deren Grossteil gehörnte Vierbeiner zeigt, so dass sie in Volks- und Forschermund denn auch gerne als «Ziegenschrift» bezeichnet werden. Wir starten unsere Exkursion zu den in Stein gravierten Tieren von «Zorats Karer» aus, einer Kultstätte im Süden des Landes, die auch unter dem inoffiziellen Namen «armenisches Stonehenge» gehandelt wird. Die in einer Reihe aufgestellten Steinriesen am Rande einer ehemaligen Siedlung sollen einst zur Himmelsbeobachtung gedient haben, die kreisrunden Löcher zur Vermessung der Planetenbahnen.

Stein, Religion, Tiere – das Dreigestirn begleitet unsere Reise durch Armenien wie die Schwalben, die wir in jedem Torbogen nisten sehen. Das Land gilt als erster christlicher Staat, die mit Adler-, Löwen- und Ochsenornamenten geschmückten Kirchen stehen an jeder Kreuzung, die Klöster steinern in imposanter Landschaft: mal halb in den angrenzenden Berg hineingebaut, mal am Ende eines Tals auf dem höchsten Hügel thronend, oder mit bester Sicht auf den Ararat gelegen wie das Kloster «Khor Virap». Gregor der Erleuchter soll an dieser Stelle 13 Jahre lang in eine Schlangengrube eingesperrt gewesen sein, bevor er den damaligen Herrscher Tiridat III. von der Vorstellung befreite, ein Wildschwein zu sein. Der geheilte König erklärte daraufhin im Jahre 301 das Christentum zur Staatsreligion.

Ähnlich wie andere Götter und Riten zuvor wurde der neue Glaube mit den bestehenden Bräuchen in Einklang gebracht. Eines der fünf christlichen Hochfeste, Vardavar, geht auf die heidnische Göttin der Liebe und der Rosen, Astlik, zurück. Heute wird das Fest offiziell als «Christi Verklärung» gefeiert, den rituellen Part begehen die Festenden aber lustvoll nach altem Brauch: indem sie sich gegenseitig mit Wasser als Zeichen der Wiederbelebung «besprenkeln». Sprich: in einer ausufernden Wasserschlacht. Die Reservoire werden dabei freundlicherweise von der städtischen Feuerwehr aufgefüllt. Aber auch in ernsteren Angelegenheiten haben sich die alten Bräuche erhalten. Noch heute lassen Väter Hühner, Ziegen oder Kühe von den Priestern segnen und schlachten, wenn ihre Söhne heil aus dem zweijährigen Militärdienst zurückkehren, so wie es der Vater unseres Übersetzers Norayr getan hat. Er selbst blieb beim Besuch des Klosters Geghard bereits an der Eingangswand hängen und warf kleine Steinchen an ihr hoch. Während wir nach eigenen Geschossen Ausschau hielten, erklärte er: «Bleibt der Stein an einem Vorsprung hängen, darf man in naher Zukunft Nachwuchs erwarten.» Steinschlagartig entleerten sich unsere Hände, während der 25jährige Norayr eifrig weiter zielte.

Freudig blicken wir in hingegen in unsere nahe Zukunft, als auf der steinernen Astronomenstätte ein UAZ-Bus vorfährt. Der Kamelberg und seine ausgestellten Vierbeiner sind nämlich nur im vierradbetriebenen Sowjetrelikt aus der Uljanowsker Automobilfabrik zu erreichen. Eigentlich Getreidebauer, verdient sich unser Fahrer ein gutes Zubrot mit dem Touristentransport zu den Petroglyphen, selbst wenn er nach jeder zweiten Fahrt Motor wie Reifen komplett auswechseln muss. Die zweistündige Etappe führt über Schotter, Stein und Wiese am Feld des Fahrers vorbei, wo er den Schafhirten, zum wiederholten Male, wie er betont, alle Schande zuschreit, da die Paarhufer ihm die Ernte niedertrampeln. So sehr wir auch auf unseren Bänken herumrutschen und uns die Köpfe an der Decke stossen, der Fahrstil beunruhigt uns nicht – der Regen, der immer stärker wird, und der Boden, der unter den Rädern immer weniger greift, hingegen sehr. Der Fahrer beschwichtigt, zumindest übersetzt Norayr dementsprechend.

Als wir uns nach eineinhalb Stunden Geholper mitten am Berg über die Umstände unserer Weiterfahrt erkundigen, heisst es immerhin: Umkehr sei noch möglich. Die Petroglyphen zu sehen im Prinzip auch. Nur ohne Garantie auf Heimkehr. Der Fall ist klar: Wir pfeifen auf die gehörnten Vierbeiner, schlittern Kreuze schlagend talwärts, klettern wie auf einem Segeltörn auf eine Seite des Gefährts, um nicht zu kippen, und danken dem Kapitän nach erfolgreichem Ankern im Tal mit Tee und Trinkgeld, den Kamel- und Ziegengöttern mit Gemüse- und Getreideopfern beim letzten – armenischen – Abendmahl.

Wasserschlacht an «Vardavar» vor dem Kloster Garni, photographiert von Severin Kuhn

Kloster über sowjetischem Erholungsheim für Schriftsteller am Sewansee, photographiert von Severin Kuhn.

Astronomisches Beobachtungsuntensil oder einfach nur Stein? «Zorats Karer» im Süden Armeniens, photographiert von Severin Kuhn.

Aussicht beim Kloster Garni, photographiert von Severin Kuhn.

Parkplatz bei «Zorats Karer», photographiert von Severin Kuhn.

Hof in der Nähe von Karashen, photographiert von Severin Kuhn.

Lächelnde Löwengrabsteinplatte bei «Norevank», photographiert von Martina Jung.

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Abenteuer Armenien

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Alexander Iskandaryan, photographiert von Martina Jung.
Vom Altertum in die Moderne

Alexander Iskandaryan spricht gerne in Bildern: Zustände wie im alten Babylon, eine Wirtschaft wie in einem Dickens-Roman, ein Land, das in nur einer Generation einen Jahrtausendsprung genommen hat. Die mitteleuropäische Zeitrechnung gilt für Armenien nicht. Ein Aufklärungsgespräch.

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