Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
Marina Meister und Daniel Straub, zvg.

Nicht nur fürs Alter vorsorgen, sondern fürs Leben

Das Sozialsystem ist starr und wird den heutigen Lebensrealitäten nicht mehr gerecht. Das Modell der Lebensvorsorge könnte AHV, Sozialhilfe & Co. durch ein einfaches, bedarfsgerechtes System ersetzen.

Die soziale Infrastruktur in der Schweiz hat sich über die vergangenen hundert Jahre entwickelt und bildet das Fundament unserer Gesellschaft. Einerseits wurde die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) 1948 eingeführt und später zum Dreisäulenmodell ergänzt. Andererseits wurde ein breites soziales Sicherungsnetz aufgespannt. Neben obligatorischen Versicherungen wie der Kranken-, Unfall-, Invaliden- (IV) sowie der Arbeitslosenversicherung (ALV) existieren verschiedene finanzielle Hilfen, die im Laufe der Jahre geschaffen wurden, zum Beispiel Kindergelder, individuelle Prämienverbilligung, Ergänzungsleistungen und viele weitere.

Der Dschungel an Sozialleistungen ist mittlerweile kaum mehr zu überblicken. Dies führt zu Verwirrung und Überforderung sowohl bei den Leistungsempfängern als auch bei den Verantwortlichen. Die bestehenden Systeme sind wenig ­aufeinander abgestimmt, was bedeutet, dass Änderungen in ­einem Bereich oft negative Auswirkungen auf Leistungsempfänger anderer Bereiche haben. Um Leistungen wie Prämienverbilligung oder Krippenbeitragszahlungen zu erlangen, werden gar Arbeitspensen reduziert, was auf (falsche) Anreize zurückzuführen ist. Insbesondere ist die Finanzierung verschiedener Sozialkassen, wie beispielsweise der AHV, nicht verlässlich gesichert.

«Der Dschungel an Sozialleistungen ist mittlerweile kaum mehr zu

überblicken. Dies führt zu Verwirrung und Überforderung.»

Ein neuer Gesellschaftsvertrag

Entsprechend ist es wichtig, Reformen zu diskutieren, welche die soziale Infrastruktur in der Schweiz modernisieren. Wir sind eine kleine Gruppe aus der Zivilgesellschaft, die sich für ein zukunftstaugliches Modell engagiert: die Lebensvorsorge. Dieser Vorschlag findet zunehmend Unterstützung in Wissenschaft und Wirtschaft und präsentiert einen neuen sozialen Gesellschaftsvertrag für die Schweiz.

Ein neues einheitliches System, welches die bisherigen Sozialleistungen vereinigt und bedarfsgerecht diejenigen stützt, die in eine finanziell prekäre Situation geraten sind: das ist die Lebensvorsorge. Wer fünf bis sieben Jahre in das System einbezahlt respektive Steuern bezahlt hat, bekommt eine nach Alter abgestufte Auszahlung. Diese erfolgt für Personen in der Schweiz automatisch auf monatlicher Basis. Die meisten Menschen benötigen diese finanzielle Unterstützung nicht, und aufgrund der Beitragszahlungen an die Lebensvorsorgekasse bleibt für diese das Einkommen unter dem Strich gleich hoch. Ein Nettogewinn bleibt lediglich für Personen in finanzieller Not, also jene, die kein oder wenig Einkommen haben (und, wie oben erwähnt, fünf bis sieben Jahre Beitragszahlungen respektive Steuerabgaben geleistet haben).

Die Lebensvorsorge ersetzt die zahlreichen Sozialleistungen wie AHV, Sozialhilfe, individuelle Prämienverbilligung, die Grundsicherung der IV und weitere. Einerseits basiert die Finanzierung somit auf den freiwerdenden Mitteln aus den derzeitigen Sozialzahlungen.

Andererseits wird die Lebensvorsorge finanziert durch ­einen Unternehmensbeitrag von 40 Prozent des Lohnes bis zu einem Maximalbetrag, welcher der Höhe der monatlichen Lebensvorsorgezahlung entspricht. Diese Abgabe kann das Unternehmen bei der Lohnauszahlung in Abzug bringen. ­Damit ist es für Arbeitgeber ein Nullsummenspiel. Genauso resultiert es für Arbeitnehmende in einem Nullsummenspiel (sobald sie sich in das System eingekauft haben) – für niedrige Lohnsegmente ergibt sich sogar eine Einkommensaufbesserung.

Unabhängige Experten haben berechnet, dass die Lebensvorsorge kostendeckend ist, wenn Personen im Alter zwischen 30 und 69 Jahren monatlich 2000 Franken erhalten. Jüngere und Kinder beziehen geringere Beträge, während über 70-Jährige 2450 Franken erhalten (unter der Voraussetzung, dass sie mehrere Jahre ins System einbezahlt haben).

Wie erwähnt, vereinigt die Lebensvorsorge die Sozial­leistungen. Das heisst, dass Versicherungen unverändert bleiben, insbesondere die Krankenkasse, Unfallversicherung, IV-Hilfsmittel, ALV sowie die zweite und dritte Säule der Altersvorsorge.

Zwei Beispiele, wie die Lebensvorsorge sich auswirkt:

  1. Das Einkommen einer 40-jährigen Bürokraft mit einem ­Monatslohn von mindestens 5000 Franken bleibt gleich: Das Unternehmen reduziert die Lohnauszahlung um 2000 Franken, was kompensiert wird durch die Lebens­vorsorge von 2000 Franken.
  2. Eine gleichaltrige Serviceangestellte mit einem Lohn von 4500 Franken pro Monat hingegen bekommt von ­ihrem ­Arbeitgeber den um 40 Prozent reduzierten Lohn von 2700 Franken (weitere Abgaben wie AHV/IV/EO nicht ­berücksichtigt). Zusammen mit der Lebensvorsorge von 2000 Franken kommt ein Einkommen von 4700 Franken ­zusammen. Das Einkommen wird um 200 Franken erhöht.

Arbeit soll sich immer lohnen

Die Lebensvorsorge bietet zahlreiche Vorteile. Zum einen wird ein Modell geschaffen, in dem sich Arbeit immer lohnt. Dies im Gegensatz zur gegenwärtigen Sozialhilfe, bei welcher der Lohn aus Erwerbstätigkeit abgegeben werden muss. Das Auffangnetz bleibt also erhalten, aber die Stigmatisierung von Sozialhilfeempfängern wird abgebaut.

Eine lückenlose Absicherung löst den unübersichtlichen Dschungel an Hilfszahlungen ab. Insbesondere niedrigere Einkommen werden finanziell gestützt, was zu einer grösseren Fairness im System führt. Heute verdient beispielsweise die Hälfte der Erwerbstätigen im Kanton Genf weniger, um ihre Kinder zu ernähren, als eine Familie in der Sozialhilfe an Finanzierung bekommt.

Darüber hinaus fördert die Lebensvorsorge die Chancengleichheit unabhängig von Geschlecht, Zivilstand oder persönlichen Voraussetzungen. Und da die Unterstützung bereits vor dem 65. Lebensjahr fliesst, verliert das Rentenalter an ­Relevanz – die politischen Grabenkämpfe um dieses Thema sind Geschichte.

Auch der Zuwanderungsdruck könnte verringert werden: Zwar können zugewanderte Arbeitskräfte weiterhin Sozialhilfe beantragen, doch über die Unternehmensabgaben kaufen sie sich während mehrerer Jahre in das soziale System der Schweiz ein, in die Lebensvorsorge.

Darüber hinaus ermöglicht das finanzielle Sicherheitsnetz kreative Impulse für neue Geschäftsideen und fördert Weiterbildung. Den aufgrund der Digitalisierung veränderten Anforderungen des Arbeitsmarkts wird besser Rechnung getragen.

Sozial und liberal

Die Lebensvorsorge ist einerseits ein soziales Modell. Zugleich ist sie liberal, da sich jede Arbeit lohnt, die Chancengleichheit verbessert wird und die übersichtliche Verwendung der Mittel es ermöglicht, die Umverteilung einfacher im Auge zu behalten. Die Zusammenführung der verschiedenen sozialen Zahlungen in ein einziges System schafft Transparenz, Akzeptanz und finanzielle Stabilität – sowohl für die Menschen als auch für das System als Ganzes.

Bis zur möglichen Einführung der Lebensvorsorge ist eine breite Debatte in Gesellschaft und Politik notwendig. Das Konzept soll aktiv diskutiert und optimiert werden. Der Wandel durch die Digitalisierung sowie die demografischen Veränderungen erfordern Reformen, weshalb es wichtig ist, jetzt den Diskurs zu führen, um rechtzeitig Lösungen bereitzuhaben.

Die Lebensvorsorge bietet der Schweiz einen neuen sozialen Gesellschaftsvertrag, der allen Ansässigen die Chance gibt, ihr Potenzial zu entfalten. Dies schafft das Fundament für die Zukunft unseres Zusammenhalts.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!