Nicht Ball werden, sondern Spieler
Die Informatik digitalisiert und automatisiert. Nun erfasst sie die Welt der Atome. Welche neuen Geschäftsmodelle entfesselt das Internet der Dinge? Und welche Risiken birgt die Verschmelzung von Informatik und Menschen?
Herr Fleisch, Sie forschen an der Front der informatischen Welterneuerung: Wo sehen Sie die spannendsten Entwicklungen von digitaler Technologie, die uns dereinst das Leben erleichtern könnten?
Das Faszinierende in all den Vorgängen, die ich beobachte und mitgestalte, ist die Verschmelzung zweier Welten. Bisher gab es auf der einen Seite die physische Welt und auf der anderen die informatische: den Computer, an den wir uns hinsetzten. Die Informatik war also etwas Additives, eine zusätzliche Komplexität. Das wird sich insofern ändern, als die informatische Komponente immer stärker mit der äusseren Welt der Dinge verschmelzen und den Menschen dort auf vielfältige Weise unterstützen, ihm also die Welt und das Leben darin vereinfachen wird.
«Verschmelzung» ist ein häufig verwendetes und selten definiertes Wort. Was bedeutet es abseits populärer Science-Fiction-Vorstellungen von technisch aufgerüsteten Robotermenschen?
Es gibt verschiedene Formen der Verschmelzung, grundsätzlich unterscheiden würde ich zwei: jene, die Computer in den Menschen integriert – wobei hier mit Instrumenten wie Hörgeräten oder Herzschrittmachern viele Schritte bereits vollzogen worden sind. Die zweite Variante kombiniert die Informatik mit Gegenständen der physischen Welt. Hier verlässt also das Internet den Bildschirm und springt hinaus in die Welt der Dinge – weshalb man dabei auch vom «Internet der Dinge» spricht. Der Begriff beschreibt im Kern eine Vision, in der jeder Gegenstand, jeder Platz, der der Physik zuzurechnen ist, mit Chips oder Sensoren ausgestattet, sprich um Informationstechnologie angereichert ist und berührungslos mit dem Kerninternet kommunizieren kann. In dieser Vorstellung hat jedes «Etwas» seine eigene Homepage, eine digitale «Heimat», die zusammen mit der physischen bewirtschaftet werden kann.
Mein Bürotisch, um das konkret zu denken, erhielte also gewissermassen eine eigene digitale Identität – worin besteht der Nutzen eines solchen Digitalheims für Dinge?
Nehmen wir das Beispiel der Rheintaler Firma SFS. Sie verkauft Schrauben, die ihre Kunden in tausenden blauer Kisten lagern. Waren diese Kisten leer, musste bis anhin ein Mensch an sie herantreten, einen Barcode einscannen und die Schrauben manuell nachbestellen. Heute ist in die Kiste ein Chip integriert, der den Nachbestellauftrag automatisch an SFS sendet, sobald ein Mensch die Kiste umdreht, was er ohnehin tun muss. Das heisst: die Informatik nimmt dem Menschen Arbeit ab, ohne dass der Mensch mit Computern in Berührung kommt.
Man hat sich angewöhnt, die Entwicklungen in der digitalen Welt als «revolutionär» zu bezeichnen. Wie ordnen Sie als Wissenschafter das eben Erzählte ein: Sind das folgerichtige Schritte oder handelt es sich um einen Regimewechsel?
Revolutionen sind Umstürze in kurzer Zeit, und das Thema «Internet der Dinge» entwickelt sich insgesamt nicht sehr schnell: Die physische Welt ändert sich nun mal langsam. Von Revolution kann man also nicht sprechen, «folgerichtig» möchte ich die Vorgänge aber auch nicht nennen, denn darin ist ein Urteil – «richtig» – enthalten, das ich mir nicht anmasse. Für mich ist die Entwicklung schlicht zwingend: Sie folgt aus dem, was ist.
Was heisst das konkret?
Nun, die Informatik hat in den vergangenen Jahren fortlaufend Dinge digitalisiert und automatisiert, und dieser Prozess erreicht nun einfach den nächsten Level, indem er die physische Welt, die Atome, erfasst. Und er wird so weit gehen, dass er all jene Atome, die durch Bits abgelöst werden können, auch tatsächlich ablöst. Erstaunlich viele Dinge, die heute Hardware sind, können durch Software ersetzt werden. Wann haben Sie den letzten Taschenrechner gekauft?
Das dürfte ein halbes Leben her sein…
…und seither haben Sie nicht mehr gerechnet?
Äusserst sporadisch. Aber wenn, dann mit Rechen- oder Formelfunktionen des Computers.
Sehen Sie, so ist das: Taschenrechner, Reisewecker, Dictionnaires, CDs, Zeitungen, Bücher – das sind allesamt Atome oder Moleküle der Physik, die es nicht mehr gibt oder geben wird. Wann immer es möglich ist, etwas Materielles durch Nichtmaterielles, also Digitales, abzulösen, wird das gemacht. Weil es billiger ist, weil es einfacher ist, weil die Lagerkosten geringer und die Transportgeschwindigkeiten höher sind – kurz: Die digitalen Geschäftsmodelle werden überall ziehen, so dass es irgendwann keine rein physische Welt mehr geben wird.
Der Toggenburger Dorfschreiner wird doch wohl aber weiter mit Holz arbeiten?
Ja. Und früher oder später wird es auf seiner Maschine einen Serviceknopf geben, der im Störungsfall automatisch ein Signal an den Hersteller sendet – das ist wieder das Verschmelzen der Welten, das eben auch zahlreiche neue Geschäftsmodelle ermöglicht. Nehmen wir wieder die Kisten mit den Schrauben. Dadurch, dass die mit Chips ausgestattet sind, hat die Herstellerfirma plötzlich zehntausende kleiner Sensoren bei ihren Kunden – und damit einen zeitnahen, durchdringenden Blick auf die physische Welt. Wie der Ultraschall einst der Medizin ermöglicht hat, hinein ins pulsierende Leben zu schauen, liefert das Internet der Dinge heute eine Technik, um die Vorgänge in der Welt schärfer zu beobachten. Was man früher nicht sehen konnte – dass die Schraubenkiste leer und eine Liefermöglichkeit da ist –, sieht man dank dieser neuen Messtechnik, und da «messen» und «managen» laut BWL miteinander einhergehen, tun sich damit logischerweise neue Geschäftswelten auf.
Was dieser durchdringende Blick kundenorientierten Firmen bringt, ist unschwer zu erkennen, für Private hingegen…
…ist der Nutzen in vielen Fällen ebenso evident! Ein Projekt, an dem wir gerade arbeiten, dreht sich etwa ums Messen von freien Parkplätzen. Das ist heute unmöglich: Nie weiss ich, ob ich mein Auto in St. Gallen am Bahnhof abstellen kann. Wäre nun in jedes Parkfeld ein Chip integriert, der spürt, ob ein Auto über ihm steht oder nicht, könnte ich diese Information online abrufen und bestenfalls gleich einen Platz reservieren. Hier würde also jeder Autofahrer vom scharfen Blick der Sensoren profitieren.
Einverstanden. Unbestreitbar macht einen die verbesserte Beobachtbarkeit aber auch (noch) gläserner und manipulierbarer.
Man kann jede Technologie für verschiedene Sachen einsetzen, ein Messer etwa dazu nutzen, ein Brot zu streichen oder einen Menschen niederzustechen. Das Verändern des Menschen – hoffentlich zum Guten – ist ein Thema, das mit zum Internet der Dinge gehört: Die herkömmliche Verhaltenspsychologie können wir heute in IT kleiden und über Messung und Kommunikation das menschliche Kleinhirn so ansprechen, dass sich Verhaltensweisen ändern. Beispielsweise haben wir ein System erfunden, das den Wasserverbrauch beim Duschen misst und über entsprechende Darstellungen erreicht, dass die Leute, die es installiert haben, im Schnitt 20 Prozent weniger Wasser benutzen.
Das ist ein verhältnismässig harmloses Beispiel. Tatsache ist: Wer die Technologie beherrscht, prägt die Richtung des Menschen.
Natürlich: Wir könnten das System auch so einrichten, dass die Duscher 20 Prozent mehr Wasser verbrauchen.
Wer oder welche Dynamik entscheidet, wo es «zum Guten» langgeht?
Die Frage, was richtig und was falsch ist, ist wahrscheinlich eine Frage des Jahrhunderts. In der Forschung haben wir unsere Experimente, schauen, was rauskommt, und hoffen, dass es was Gutes ist – in der heutigen Zeitmessung. Ob das, was wir heute als gut empfinden, auch in 100 Jahren noch gut ist, weiss man natürlich nie.
Der durchdringende Blick der Technologie ist in Zeiten des Datensammelfiebers auch in kürzeren Zyklen problematisch: Wenn alle Dinge dank Sensoren Augen, Ohren und Münder erhalten, wie wird dann der Schutz der Privatsphäre gewährleistet?
Es ist fraglos: Eine grosse Gefahr der neuen Technologie besteht in ihrer Unsichtbarkeit. Früher sah man, dass in einem Raum eine Kamera installiert ist und man gefilmt wird. Heute sitzt die Kamera in einer Brille oder einem Knopf, und gerade eben bauen wir einen Bilderrahmen – da sind Dinge drin, die wollen Sie gar nicht wissen.
Doch bitte, ganz gerne!
Nun, wir verstauen im Rahmen von Warhols Marilyn Monroe einen CO2-Sensor, einen Temperatur- und einen Luftfeuchtigkeitssensor und bauen ein Radar mit Anwesenheitssensorik ein. Wenn jemand den Raum betritt, ändert sich der CO2-Wert schlagartig – und da die zugehörigen Daten übers Internet abgerufen werden können, funktioniert der ganze Bilderrahmen als elegantes Hausüberwachungssystem. Aber egal was in einem Rahmen oder einem anderen Ding untergebracht ist: Wir müssen auf jeden Fall sicherstellen, dass die Leute, die mit den Dingen in Berührung kommen, jederzeit wissen, welche Daten gesammelt werden. Das heisst: Ich müsste an meiner Bürotür ein Schild anbringen, wenn ich Sie durch meinen Bilderrahmen filmen würde.
Wir werden hier drin also nicht gefilmt?
Nein, das heisst, ich weiss es nicht, oder: jedenfalls nicht von mir. Betriebsspionage kann ich selbstverständlich nicht ausschliessen! (lacht) Hinge aber an meiner Tür ein Schild, müsste es Ihre individuelle Entscheidung sein, das Büro zu betreten oder eben nicht. Auszeichnungspflicht und Wahlfreiheit müssen also sichergestellt sein, und dazu braucht es klare Regeln. Ich glaube zwar, dass sehr viele Leute bereit sind, Privacy gegen Geld und Bequemlichkeit zu verkaufen, aber sie sollten das immer wissentlich tun.
Was beflügelt die weitere Ausbreitung dieser Technologien: Ist es sinkende Skepsis, wissenschaftlicher Fortschritt oder ganz einfach das Fallen der Preise?
Die Kosten sind nie alleine ausschlaggebend, oder mehr noch: Sobald der subjektiv wahrgenommene Nutzen einer Sache grösser ist als die wahrgenommenen Kosten und Risiken, wenden Menschen eine Technologie an. Einerseits sorgen betriebswirtschaftliche Gesetze dafür, dass sich die Dinge nicht rasant ausbreiten, Stichwort Netzwerkökonomie: Zahlreiche Anwendungen sind erst dann sinnvoll, wenn viele Leute sie nutzen, und bis die Akzeptanz so hoch ist, kann es bisweilen lange dauern. Der zweite Faktor ist dann tatsächlich technischer Natur. Die Ausgangslage ist im Grunde einfach: Damit er etwas leisten und kommunizieren kann, braucht jeder Minicomputer Energie, und die bereitzustellen, ist häufig kompliziert oder wenig ökologisch. Ziel ist deshalb, energieautonome Computer zu bauen, und das ist nicht gerade einfach.
Wie nahe ist die Forschung an einer Lösung dieser Problematik dran?
An den Themen rund um Energiegewinnung, -speicherung und energiearme Kommunikation arbeiten weltweit zehntausende Forscher. Es ist eine Frage der Zeit, bis irgendwo wieder ein Durchbruch erreicht und dadurch eine Welle neuer Applikationen ermöglicht wird. Der Fortschritt entwickelt sich immer wellenförmig.
Bleiben wir beim Bild der Welle: die kann einen entweder überrollen oder man kann auf ihr reiten – wozu tendiert die Schweiz, wie beurteilen Sie deren Offenheit gegenüber neuen digitalen Technologien?
Ich habe das Gefühl, dass die Schweiz, wie Europa insgesamt, im Bereich Internet der Dinge ganz gut dasteht. Im Maschinenbau ist Europa ja relativ führend, und im Bereich der Telefonie war es das lange Zeit auch. Die Phase dazwischen, in der Computing und Internet zum Thema wurden, war zwar insofern eine Niederlage, als hier fast alles erfunden, aber fast nichts kommerzialisiert wurde. Im Unterschied zu den USA, die die Hardwareproduktion weitgehend verloren haben, ist in Europa aber das gesamte Know-how vorhanden, das für das Internet der Dinge relevant ist, das heisst: Wissen im Bereich der physischen Welt ebenso wie in den Technologien der Bits und Bytes. Das einzige, was fehlt, sind Techniker. Hier leiden wir unter einem akuten Mangel.
Mit Blick auf die richtungsweisenden Einflussmöglichkeiten, die sich den Beherrschern der Technik bieten, ist das erstaunlich. Worauf führen Sie den Mangel zurück?
In meiner Wahrnehmung wurde die dunkle Seite der Technik – das Messer als Mordinstrument – in den letzten Jahrzehnten überbetont. Zudem hat der Ingenieur seine Magie verloren und ist fast schon suspekt geworden in einer Gesellschaft, die das trügerische Gefühl hat, von Dienstleistungs-, Finanz- und Gesundheitswesen leben zu können. Man hat vergessen, dass all diese Dinge Geld kosten und von einem Kern getragen werden: von Gewerbe und Industrie. Wir wenden uns stark dem Schönen und Leichten zu, in den Schulen stehen die Naturwissenschaften auf dem Stundenplan irgendwo weit hinten an – und bei dieser Prägung ist nicht verwunderlich, dass zu wenige etwas «Hartes» wie Maschinenbau oder Informatik studieren.
Ob es nun mehr oder weniger Techniker gibt: Die grosse Mehrheit der Menschen wird die Komplexität der vernetzten Umgebung je länger, je weniger verstehen. Hinter der vordergründigen Vereinfachung, die die Technologie den Nutzern bringt, steht eine enorme technische Verkomplizierung im Hintergrund, der sich der einzelne mehr oder weniger fraglos ausliefert. Wo verläuft in Ihren Augen die Grenze zwischen Unterstützung durch und Abhängigkeit von Technik?
Die ist längst überschritten – mit so banalen Dingen wie der Verkehrsampel: Da bestimmt ein kompliziertes System, wann der Mensch die Strasse überqueren darf, macht ihm also das Leben einfacher, nimmt ihm aber auch Entscheidungskraft ab. In der Technologieabhängigkeit befinden wir uns also schon lange, und zweifellos lassen wir uns immer tiefer in sie hineinmanövrieren.
Wie kommt man aus ihr heraus?
Indem man in die Höhle reingeht! (lacht)
Einen Mittelweg gibt es nicht?
Zumindest sollte sich ein disziplinierter Umgang mit der IT lernen lassen: Viele Leute sind ja komplette Digital-Junkies, die brauchen ihre Geräte fast wie Zigaretten! Und daneben gibt es natürlich persönliche Strategien. Ich ziehe mich beispielsweise partiell zurück, in eine Hütte ohne Wasser und Strom, und lese vier Wochen im Jahr keine E-Mails.
Zurück in der smarten Welt, umgeben von intelligenten Dingen und Systemen: Wo wird da der Mensch auch in Zukunft unersetzlich bleiben?
In der Systemgestaltung. Ich habe vier kleine Kinder und frage mich häufig, was sie lernen müssen, um das Leben in unserer Welt gut zu meistern. Ich glaube, eines der wichtigsten Dinge sind Interesse und Freude am Gestalten: Ich wünsche ihnen, dass sie im Leben nicht Bälle werden, sondern Spieler. Natürlich gibt es in unserem Leben viel mehr Bälle als Spieler, aber nur dort, wo man Spieler ist, ist man «am Ball». Ganz egal, in welchem Bereich man arbeitet, ob als Jurist, als Techniker oder Tischler: Wichtig ist die aktive Mitgestaltung der Dinge. Und die erreicht man, indem man Neugier und ein bisschen Biss entwickelt und mit innerer Freude sein Handwerk perfektioniert.