Mill sticht Rousseau aus: Nein, die Freiheit des Einzelnen endet nicht an der Freiheit des anderen
Befürworter von Pandemie- oder Klimaschutzmassnahmen rechtfertigen diese mit der Freiheit. Ihre Definition davon ist jedoch oft problematisch.
Während der Covid-19-Pandemie gewann eine jahrhundertealte philosophische Debatte unerwartete Popularität. Selbst Bundesräte liess sie nicht kalt; Guy Parmelin etwa wurde von den Medien wie folgt zitiert: «Die Freiheit des Einzelnen endet da, wo die Freiheit des anderen beginnt.»
Wie lässt sich die unglaubliche Anziehungskraft dieses Arguments in der Pandemie erklären? Vielleicht so: Für eine breite Mehrheit waren Massnahmen wie die Masken- und Zertifikatspflichten eindeutig gerechtfertigt. Deshalb wollte man mit einem Satz ausdrücken: Wer seine Freiheit durch diese Massnahmen bedroht sieht, hat den politischen Wert der Freiheit nicht wirklich verstanden.
Aber sagen wir dann den Freiheitstrychlern wirklich, dass sie die Freiheit in ihrem Namen missverstanden haben, weil sie sich den gesellschaftlichen Notwendigkeiten während einer Pandemie widersetzten? Wer behauptet, die Freiheit des Einzelnen ende an der Freiheit des anderen, definiert den Konflikt zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Notwendigkeit bereits auf begrifflicher Ebene weg, indem er Freiheit als per se durch gesamtgesellschaftliche Anliegen begrenzt versteht. Diese begriffliche Engführung ist problematisch und widerspricht dem Freiheitsverständnis der Bundesverfassung.
Überraschendes Argument
Betrachten wir zunächst die verschiedenen Seiten der Freiheitsidee, die während der Covid-19-Pandemie hervortraten. Diese beschäftigen uns aktuell ebenso in den Debatten über einschneidende Klimaschutzmassnahmen. Auch diese werden von vielen als eindeutig notwendig erachtet und es begegnet uns häufig das Argument: «Die Freiheit des Einzelnen endet an der Freiheit zukünftiger Generationen.»
Wenig überraschend wird in beiden Auseinandersetzungen das Freiheitsargument gegen staatliche Interventionen ins Feld geführt. Gegner staatlicher Interventionen betonen jeweils, dass eine Verminderung individueller Handlungsoptionen durch staatlichen Zwang eine Freiheitseinbusse darstelle. Wenn etwa Hauseigentümer im Kanton Zürich ihre Elektroheizungen bis 2030 austauschen müssen, verlieren sie die Freiheit, diese weiter zu betreiben.
Überraschender ist, dass das Freiheitsargument oft auch von den Befürwortern staatlicher Interventionen eingesetzt wird. Ihre Argumentation lautet: Staatliche Interventionen schränken die Freiheit nicht nur ein, sondern sie schützen auch jene Freiheiten, die ohne staatliche Intervention zu kurz kommen würden. An dieser Auffassung orientierte sich das deutsche Bundesverfassungsgericht, als es im April 2021 betonte, dass eine unzureichende Klimapolitik Freiheitsrechte von morgen beeinträchtige.
All diese Argumente sind legitim in einem pluralistischen demokratischen Diskurs. Beide Argumentationslinien gibt es aber auch in einer zugespitzten Form, die auf einem problematischen Freiheitsbegriff basiert.
Die zugespitzte Form des Arguments der Gegner staatlicher Interventionen basiert auf einem libertären Freiheitsbegriff, der die individuelle Handlungsfreiheit als das absolut höchste Gut behandelt und deren Einschränkungen generell als unzulässig betrachtet. Dieser Freiheitsbegriff ist problematisch, weil er nicht anerkennt, dass es auch andere politische Werte gibt, die der individuellen Freiheit entgegenstehen können – unter anderem die Freiheit und Gleichheit der anderen.
Die zugespitzte Version des Arguments der Befürworter staatlicher Interventionen basiert dagegen auf einem vergesellschafteten Freiheitsbegriff, der verneint, dass Freiheit mit den Handlungen eines gerechten Staats in Konflikt stehen könne. Wenn die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo die Freiheit des anderen beginnt, heisst das nämlich: Nicht alle Handlungsoptionen müssen erlaubt sein, damit die Freiheit an sich intakt bleibt.
Man darf diese begriffliche Engführung der Freiheitsidee aber nicht zu weit treiben. Warum? Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage führt zu den Hintergründen des liberalen Freiheitsbegriffs.
Mill gegen Rousseau
Der Satz «Die Freiheit des Einzelnen endet an der Freiheit des anderen» wird in den medialen Kommentarspalten meistens Immanuel Kant zugeschrieben. Aber wer in Kants Werk sucht, wird höchstens den Grundgedanken finden. Alternativ wird der Satz beim englischen Philosophen und Ökonomen John Stuart Mill verortet. Aber obwohl Mill ähnliche Sätze geschrieben hat, war der liberale Punkt ein anderer. Um dies zu sehen, müssen wir reale Einschränkungen der Freiheit von definitorischen Begrenzungen des Freiheitsbegriffs unterscheiden.
«Der Satz ‹Die Freiheit des Einzelnen endet an der Freiheit des anderen› wird in den medialen Kommentarspalten meistens
Immanuel Kant zugeschrieben. Aber wer in Kants Werk sucht,
wird höchstens den Grundgedanken finden.»
Zu den realen Einschränkungen der Freiheit sagt Mill in Kapitel I seines berühmten Werks «On Liberty» (1859): «Der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft rechtmässig ausüben darf, ist, die Schädigung anderer zu verhüten.» Mill geht es hier um die notwendigen Voraussetzungen einer rechtmässigen Einschränkung der Freiheit. In dieser berühmten Passage findet sich keine Definition der Freiheit an sich.
Eine begriffliche Definition der Freiheit findet sich erst in Kapitel V. Dort sagt Mill in einer kaum je zitierten Passage: «Freiheit besteht im Handeln nach den eigenen Bedürfnissen.» Mill nennt das Beispiel eines Mannes, der dabei ist, unwissentlich eine einsturzgefährdete Brücke zu überqueren. Wenn ein Beamter den Mann im letzten Moment mit Gewalt zurückreisst, sieht Mill darin keine Freiheitseinbusse, weil der Mann nicht das Bedürfnis hatte, in den Fluss zu fallen. Freiheit findet ihre begriffliche Grenze an den eigenen Bedürfnissen. Aber diese finden ihre Grenze bekanntlich kaum je an den Bedürfnissen anderer, sondern treten regelmässig mit diesen in Konflikt.
Ein durch die Bedürfnisse anderer inhärent begrenztes Freiheitsverständnis findet sich jedoch in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789. Deren Artikel 4 besagt: «Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet.» Eine mögliche Inspirationsquelle dafür ist Nicolas de Condorcet, für den Freiheit alles umfasste, «was den Rechten anderer nicht zuwiderläuft». Das Kernanliegen geht aber bereits auf Jean-Jacques Rousseau zurück: Wie die französischen Revolutionäre, die er später inspirieren sollte, glaubte Rousseau, dass es keine genuinen Konflikte zwischen individueller Freiheit und gerechtem Staatshandeln geben könne.
Das auf gerechtfertigte Ansprüche verengte Freiheitsverständnis der Französischen Revolution vermischt den politischen Wert der Freiheit mit seiner rechtmässigen Einschränkung. Demgegenüber trennen der liberale Engländer Mill und spätere Wertpluralisten wie Isaiah Berlin oder Bernard Williams diese Aspekte strikt. Das Problem an einem verengten Freiheitsbegriff ist aus liberaler Sicht, dass dadurch der Blick für die mit staatlichen Interventionen verbundenen Freiheitseinbussen verlorengeht. Das ist in einer Demokratie deshalb ein Problem, weil man es dann schwierig finden wird, die Einwände derjenigen ernst zu nehmen, die sich wie die Freiheitstrychler über diese Freiheitseinbussen beklagen.
Wir können eine staatliche Intervention als rechtmässig ansehen, auch wenn sie Freiheitseinbussen mit sich bringt. Wer aber diese Freiheitseinbussen einfach verneint, macht es sich zu einfach. Aus liberaler Sicht ist ein Freiheitsverständnis besser, das die politischen Spannungen zugrunde liegenden Wertkonflikte sichtbar macht und uns so zwingt, die Vor- und Nachteile staatlicher Interventionen transparent abzuwägen.
Freiheitseinbussen anerkennen
Das schweizerische Verfassungsrecht verkörpert diese Einsicht, dass der Wert der Freiheit nicht mit der Idee seiner gerechtfertigten Einschränkung vermischt werden darf. Auch wenn das Bundesgericht eine Maskenpflicht eindeutig als gerechtfertigt betrachtet, behandelt es diese als Einschränkung der persönlichen Freiheit, die einer transparenten Rechtfertigung bedarf.
Die rechtliche Unterscheidung zwischen einer Grundrechtseinschränkung und der Rechtfertigung dieser Einschränkung ist zunächst nur eine formale Schablone. Aber sie lässt sich mit der philosophischen Einsicht füllen, dass der Wert der Freiheit sich nicht per se auf gerechtfertigte Ansprüche begrenzt verstehen lässt. Sogar wer eine Freiheit für sich beansprucht, die einem anderen schadet, bezieht sich oftmals zu Recht auf den Wert der Freiheit (und manchmal sogar zu Recht auf ein Grundrecht), auch wenn der Staat dann zu Recht diesen Anspruch verweigert.
Grosse Bedeutung kommt bei der Anerkennung gerechtfertigter Freiheitseinbussen der Verhältnismässigkeitsidee zu. Sie verlangt insbesondere, dass die Gründe für eine staatliche Handlung in einem angemessenen Verhältnis zu den konkreten dadurch verursachten Freiheitseinbussen stehen. Eine solche Gegenüberstellung erlaubt es dem demokratischen Verfassungsstaat, die Kosten seiner Massnahmen als Freiheitseinbussen anzuerkennen, auch wenn er diese Kosten als gerechtfertigt erachtet.
Die wahre theoretische und praktische Herausforderung ist nämlich, sowohl den Wert der Freiheit als auch den Wert ihrer legitimen Einschränkung anzuerkennen.