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Nehmt ihnen die Kunst weg!

Die neue Diskussion über einen 50-Prozent-Schnitt bei den Kulturinstitutionen geht am Thema vorbei. Statt sich über Promillegrenzen für öffentliche Subventionen zu streiten, sollten Kulturschaffende dem überfälligen Strukturwandel ins Auge schauen – und auf «kreative Zerstörung» setzen.

Nehmt ihnen die Kunst weg!

Für Kunstvermittlerinnen und -vermittler ist Reflexion eine Kernkompetenz. Das sollte man zumindest meinen. Nach der Ankündigung (!) einer Vorschau (!) zum Buch «Kulturinfarkt» im «Spiegel» brannten jedoch bei vielen die geistigen Pferde durch. Wer sich neugierig in einen diskursiven Austausch stürzen wollte, musste zuerst reihum und beinahe tagelang richtigstellen, dass es sich beim Vorschlag der vier Herren aus Deutschland und der Schweiz um einen Um- und nicht Abbau der öffentlichen Kulturgelder handle. Kaum war dies geklärt, klammerten sich die Kritiker umgehend an die nächstbesten Argumente, um nicht über eine Veränderung des Status quo nachdenken zu müssen: Die Absender seien die falschen und deren Vorschläge viel zu vage.

Die Verweigerung, sich überhaupt auf das Gedankenspiel für eine neue Verteilung der öffentlichen Kulturgelder einzulassen, zieht sich quer durch die Kulturlandschaft. Sogar Verlierer im aktuellen System schlagen sich reflexartig auf die Seite der tradierten institutionellen Kunstvermittlung. Die breite Ablehnung manifestierte sich letztendlich durch die fast durchwegs negativen Kritiken in den Medien. Im besten Fall wird ein ganz kleines «bedenkenswert» unter vielen grossen «aber» erstickt. Hätte der Beweis für einen infarktähnlichen Zustand in der Kunstvermittlung gefehlt, spätestens durch all diese Reaktionen wurde er sichtbar. Im Kunstvermittlungswesen herrscht eine alarmierende Kritikunfähigkeit. Diese entstammt einer diffusen Mischung aus Betriebsblindheit, fehlender Neugierde und überheblicher Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Umwälzungen.

Zurück zum Buch «Kulturinfarkt». Vier Herren, die je nach Gesinnung der Kritiker «Kulturbürokraten» oder «Kulturmanager» geschimpft werden, haben ein Gedankenspiel vorgeschlagen: Die Hälfte der Museen und Theater sollen geschlossen und das damit freiwerdende Geld neu verteilt werden. Nichts mehr und nichts weniger. Ein solcher Eingriff würde den Horizont der Kulturlandschaft auf einen Schlag massiv lichten. In Anlehnung an den Slogan der Zürcher 80er Jugendbewegung «Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer!» liesse sich folgender Weckruf formulieren: «Nieder mit den Institutionen, freie Sicht auf das www!»

Weil fünfzig Prozent der Institutionen bestehen blieben, gemäss den Ausführungen der Buchverfasser sogar besser dotiert als bisher, würde unser gewachsenes Kultur- und Kunstverständnis noch lange nicht in Frage gestellt. Mit der Hälfte der Museen und Theater blieben im deutschsprachigen Teil Europas wohl mehr Kunstinstitutionen erhalten als Fabrikbauten, die ans Industriezeitalter erinnern. Dieser Vergleich hinkt überhaupt nicht, denn genau in diesen Zusammenhang müssten die mehr oder weniger etablierten Kunstinstitutionen gestellt werden.

Die Museen und Theater referenzieren in erster Linie auf ein Zeitalter der Maschinen. Kunst wird hier ins immer gleiche enge räumliche Korsett mit denselben festgelegten Vermittlungsabläufen gezwängt. In einer Zeit, in der Wissen fast immer und überall abgerufen werden kann, gibt es wenig Anachronistischeres, als eine Skulptur in einem Haus auf einen Sockel zu stellen (oder ein Stück auf eine Bühne zu bringen) und darauf zu warten, bis die Menschen sich beides anschauen kommen. Und damit die Menschen überhaupt wissen, dass da jemand auf einer Bühne steht oder irgendein Bild an der Wand hängt, muss darüber hinaus auch noch viel Geld in Werbung gesteckt werden; abgesehen davon, dass der Erhalt und Betrieb eines Hauses mit einem solch statischen Kunstvermittlungskonzept Unsummen verschlingt.

Wenn nun Konsens darüber bestehen würde, dass die Schliessung der Hälfte aller Kunstinstitutionen noch lange nicht der Untergang des Abendlandes bedeutet, dann liesse sich trefflich dar­über streiten, wie die restlichen fünfzig Prozent der freiwerdenden Gelder verwendet werden könnten. Genau zu dieser dringlichen Diskussion hat das Buch «Kulturinfarkt» die Türe aufgestossen. Wenn Kunstvermittler auf Biegen und Brechen diese Diskussion über gänzlich neue Formen, Wege, Kanäle und Plattformen verhindern wollen, dann muss man sich fragen dürfen, ob die Kunst bei ihnen gut aufgehoben ist.

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