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Natoisierung Europas – und die Schweiz?
Ulrich Zwygart. Bild: Bilifotos.ch

Natoisierung Europas – und die Schweiz?

Die Schweiz muss nicht zwingend der Nato beitreten, aber annähern sollte sie sich ihr. Um wenigstens beistandswürdig zu werden, muss sie in die eigene Armee investieren.

 

Den Begriff der Natoisierung Europas hat US-Präsident Joe Biden anlässlich der Tagung der Nato-Staaten Ende Juni in Madrid geprägt. Wenn in absehbarer Zeit die Aufnahme von Schweden und Finnland in das westliche Verteidigungsbündnis formell bestätigt sein wird, ist diese Aussage verständlich, weil nun, mit Ausnahme von Österreich und der Schweiz im Herzen Europas, von Irland im Nordwesten sowie von diversen kleineren Staaten im südöstlichen Teil Europas (Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Moldawien, Serbien, Zypern, Malta), sämtliche Staaten unseres Kontinents Nato-Mitglieder sind.

Folgende Fragen ergeben sich: Weshalb will die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung nicht in die Nato, würde die Nato-Mitgliedschaft die Sicherheit der Schweiz erhöhen und was ist zu tun, wenn wir an der Neutralität festhalten?

Erstmals wurde die Neutralität der Alten Eidgenossenschaft im Jahre 1515, nach dem Scheitern der expansiven Aussenpolitik, erwähnt, dann 1648 im Rahmen des Westfälischen Friedens und schliesslich 1815 auf dem Wiener Kongress, der Europa nach dem napoleonischen Zeitalter definierte. Es war im Interesse der europäischen Mächte, dass sich die Schweiz nicht einem Bündnis anschloss und sich aus kriegerischen Auseinandersetzungen fernhielt. Hinzu kam, dass der Kleinstaat über keine wesentlichen Rohstoffvorkommen verfügte und sich infolge seiner Topografie (Alpen, Jura und viele Seen und Flüsse) als Durchmarschland wenig eignete. 1907 unterzeichnete die Schweiz die Haager Konvention, welche die Neutralität völkerrechtlich verankert und den neutralen Staaten verbietet, Kriege auszulösen, Truppen an kriegführende Staaten zu senden oder ihnen die Nutzung des eigenen Territoriums zu erlauben; zudem sollen kriegführende Staaten bezüglich der Lieferung von Kriegsmaterial gleichbehandelt werden. In Artikel 185 der Bundesverfassung steht, dass der Bundesrat Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz trifft. Die Neutralität ist ein Verfassungsbegriff.

Wenn wir den Prolog zum Nato-Vertrag vom 4. April 1949 und die Präambel zu unserer Bundesverfassung vergleichen, so fällt auf, dass Demokratie, Freiheit, Recht und Sicherheit zentrale Werte sind. Wir, die Nato und die Schweiz, verfolgen ähnliche Ziele und können durchaus als Wertegemeinschaft bezeichnet werden. Die Schweiz ist Teil der westlichen Welt mit ihren demokratischen, freiheitlichen und rechtsstaatlichen Prinzipien.

Keine Einmischung in «fremde Händel»

Als Nato-Mitglied würde die Schweiz einerseits davon profitieren, dass sie im Falle eines Angriffs auf ihr Gebiet automatisch vom gesamten Bündnis unterstützt wird; andererseits müsste die Schweiz Truppen zur Verfügung stellen, wenn irgendein Mitgliedstaat, ob im hohen Norden, im Mittelmeerraum oder sogar ausserhalb Europas, angegriffen würde, weil die Nato mit Ländern wie Australien, Südkorea, Japan und Neuseeland partnerschaftlich verbunden ist. Die in Artikel 5 des Nato-Vertrags stipulierte Beistandspflicht behagt vermutlich Schweizerinnen und Schweizern nicht; es fühlt sich an wie «Einmischung in fremde Händel». Die Vorstellung, dass Schweizer Soldaten in fremden Ländern kämpfen, anstatt die eigene Heimat zu verteidigen, ist noch nicht in breiten Kreisen akzeptiert. Ich erinnere mich an die Referendumsabstimmung vom 10. Juni 2001, als die Bewaffnung von Truppenkontingenten in multinationalen Friedensoperationen nur mit einer hauchdünnen Mehrheit angenommen worden ist. Seither erfüllen Schweizer Soldatinnen und Soldaten ihre Pflicht innerhalb der internationalen Schutztruppe im Kosovo mit einer angemessenen Bewaffnung und sind so in der Lage, sich selber zu schützen und ihren Auftrag zu erfüllen.

Der hohe Stellenwert, den die Neutralität bei den Schweizerinnen und Schweizern nach wie vor geniesst, scheint sich aus dem kollektiven Vertrauen auf ihre Wirksamkeit zu ergeben: «Die Neutralität hat uns in der Vergangenheit genützt, sie wird es auch weiterhin.» Oder: «Wieso Bewährtes, das unserer Kultur und Tradition entspricht, ohne Not aufgeben?» Das mögen Sätze sein, die in unseren Köpfen stecken, wie die letzte ETH-Umfrage vom Juni 2022 bestätigt: 89 Prozent von insgesamt 1003 befragten Stimmberechtigten wollen an der Neutralität festhalten.

Wenn die Schweiz auch nicht Mitglied eines Bündnisses ist, so bedeutet das nicht, sich nicht für den Ernstfall zu wappnen. So hat General Guisan nach seiner Wahl 1939 geheime Beziehungen zu Frankreich aufgenommen, dem einzigen demokratisch regierten Nachbarstaat. Es ging ihm darum, Absprachen zu treffen für den Fall einer Invasion unseres Landes durch Nazideutschland. Sollte die Schweiz von Hitler angegriffen werden, so würde Frankreich unseren Verteidigungskampf unterstützen.

 

«Für den Fall eines Angriffs auf die Schweiz muss unsere Armee instande sein, allein zu kämpfen und für eine gewisse Zeit standzuhalten.»

 

Jetzt Vorkehrungen treffen

Wenn wir nicht Nato-Mitglied werden wollen – und es besteht keine unmittelbare Notwendigkeit dazu –, so heisst das aber für uns nicht, einseitig darauf zu vertrauen, das westliche Verteidigungsbündnis werde uns im Ernstfall nicht im Stich lassen. Vielmehr müssen wir Vorkehrungen treffen, damit wir «beistandswürdig» sind:

  1. Für den Fall eines Angriffs auf die Schweiz muss unsere Armee imstande sein, allein zu kämpfen und für eine gewisse Zeit standzuhalten. Das bedeutet, dass das Material, also Flugzeuge, Panzer, Waffen und Geräte, den Anforderungen moderner militärischer Operationen gewachsen ist sowie Kader und Truppen im Gefecht der verbundenen Waffen gut ausgebildet sind. Wir brauchen eine Dok­trin, die auf heutige und künftige militärische Gefährdungen unseres Landes ausgerichtet ist und den Truppen klare Ziele für ihre Ausbildung und Weiterentwicklung vorgibt. Unsere Armee muss glaubwürdig sein aus der Sicht von externen Beobachtern und als Gesamtsystem so stark erscheinen, dass ein potentieller Aggressor es sich mehr als einmal überlegt, ob sich ein Angriff lohnt. Die Nato soll Gewissheit haben, dass nicht in ihrer Mitte ein Vakuum entsteht, weil die Schweiz zu wenig grosse Anstrengungen unternimmt, sich selbst zu verteidigen – und damit auch die gemeinsame Wertebasis.
  2. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass viele moderne Bedrohungen unterhalb der Kriegsschwelle – ich denke an Angriffe mit ballistischen Raketen, aus dem Weltall oder an den «Cyber War» – nicht autonom, sondern nur in Kooperation abgewehrt werden können und dass die Zusammenarbeit bereits in Zeiten des relativen Friedens gesucht werden muss.
  3. Seit 1997 gehört die Schweiz, auf Initiative des damaligen Verteidigungsministers, Bundesrat Adolf Ogi, der «Partnerschaft für den Frieden» (PfP) an. Es handelt sich um eine Zusammenarbeit der Nato mit Ländern, die nicht der Nato angehören. Jeder Staat kann selber bestimmen, in welchen militärischen Bereichen und wie weit er sich im Rahmen von PfP engagieren will. Nach 1997 wurde versucht, die damit verbundenen Chancen aktiv zu nutzen. So wurde das in der höheren Kaderausbildung der Armee in den Nullerjahren etablierte Kommando Internationale Lehrgänge, welches auch Teilnehmer aus Nato-Staaten in Kurse aufnahm, später auf «höheren Befehl» wieder geschlossen. Es scheint, dass das VBS während einer gewissen Phase die Kontakte zur Nato auf ein niedriges Mass reduzieren wollte. Heute, nach dem Einmarsch von Putins Armee in die Ukraine, ergibt sich die Gelegenheit eines grösseren PfP-Engagements, das über friedensfördernde Aktivitäten hinausgeht und für unsere Armee von Vorteil ist: Ich denke an die Entsendung von Offizieren in wichtige Führungs- und Stabsfunktionen der Nato und an die Teilnahme an Truppenübungen.

Es ist an der Armeeführung und am VBS, den Rahmen von PfP rasch neu zu definieren und vom Bundesrat und den Sicherheitspolitischen Kommissionen der beiden Räte absegnen zu lassen. Unsere Armee, wichtigstes Element der schweizerischen Sicherheitspolitik und Garant des staatlichen Gewaltmonopols, kann so ihre Verteidigungsfähigkeit stärken und unter Beweis stellen. Daraus entsteht gegenseitiges Vertrauen, das nicht zu einem Nato-Beitritt der Schweiz führt, aber im Ernstfall zu einer raschen Unterstützung unserer eigenen Verteidigung von Land, Volk, Demokratie, Recht und Freiheit, weil wir «beistandswürdig» sind.

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