Nation der Zeigefinger
Es scheint zum Volkssport zu werden, moralische Verfehlungen anzuprangern.
Ich habe einen Freund, der sich schwertut mit dem Leben. Es scheint ihm zu eng, zu wenig frei, trotzdem kann er nicht ausbrechen aus dem Korsett, in das er sich selbst aufgrund der gesellschaftlichen Erwartungen gequetscht hat. Mein problembelasteter Freund tut nun das, was einige meiner problembelasteten Freunde tun: Er lässt sich zum Coach ausbilden, um Leuten mit Problemen zu helfen.
So kam es, dass er an mir üben wollte. Die Anforderung, die ich für das Test-Coaching erfüllen musste: Ich brauchte ein Problem. Weil mir kein anderes einfiel, entschied ich mich für meine Rückkehrhemmung, wie ich sie nenne; mein Problem, dass ich nicht nach Hause reisen mag, wenn ich länger weg war.
Mein Freund suchte nach Gründen. Ob es an den Schweizerinnen und Schweizern liege? Ich verneinte. Ich bin selbst Schweizerin, viele meiner Freundinnen und Freunde stammen aus der Schweiz und nach Monaten in Afrika schätze ich es sehr, dass hier alles wohlorganisiert und sauber ist.
Tatsächlich, so kamen wir im Gespräch darauf, gibt es aber einen Vorbehalt: Betrachte ich mein Land von aussen, merke ich, dass ich mich zunehmend schwertue mit der hiesigen Mentalität oder eher mit der Richtung, in die sie sich entwickelt. Die Schweiz wird mehr und mehr zu einer Zeigefingernation. Es scheint zum Volkssport zu werden, mit dem Zeigefinger auf den anderen zu zeigen und moralische Verfehlungen anzuprangern. Man zeigt empört auf den Lehrer, der mit dem Flugzeug in die Ferien fliegt, auf den Sänger, der mit Dreadlocks rockt, auf den Nachbarn, der in der Dürre seinen Swimmingpool füllt, auf den Mieter, der den Kehrichtsack auf dem Balkon stehen lässt, auf den Ex-Kollegen, der mehr lebt und weniger arbeitet… man zeigt auf jeden, nur nicht auf sich selbst. Mit dem für schuldig Befundenen wird nicht das Gespräch gesucht – man redet über ihn statt mit ihm.
Wenn jeder mehr auf sich selbst achten und an seinen eigenen Verfehlungen arbeiten würde, statt sich um die Angelegenheiten anderer zu kümmern, dann würden wir uns in der engen Schweiz vielleicht ein wenig freier fühlen und wären weniger problembelastet.