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Narzissten in der Konformitätsfalle
Caravaggio: Narcissus, Öl auf Leinwand, 1597–1599. Bild: Wikimedia.

Narzissten in der Konformitätsfalle

Im Mythos gab es für Narziss aus der göttlichen Strafe kein Entrinnen. Heutzutage passen sich Narzissten gesellschaftlichen Erwartungen an. Sie sollten sich davon befreien.

Die Figur des Narziss stammt ursprünglich aus der griechischen Mythologie und wurde ca. 8 n. Chr. vom römischen Dichter Ovid im dritten Buch seiner Metamorphosen ausführlich beschrieben. Narziss ist der 16-jährige Jüngling, der im Teich sein Spiegelbild sieht und sich in dieses verliebt. Er kann es jedoch weder berühren noch küssen, weil es sich ihm zwar nähert, im Moment der Berührung jedoch entzieht.

Narziss wird als mythische Gestalt gemeinhin als jemand missverstanden, der im Bann der Selbstliebe steht. Aber das ist nicht zutreffend. Um den wahren Grund für Narziss’ Verliebtheit in sein Spiegelbild zu verstehen, müssen wir zunächst die Geschichte verstehen, die hinter seinem Tod steht, bei dem er an diesem Teich kläglich verkümmern musste.

Im antiken Griechenland war die Päderastie weit verbreitet. Da Narziss ein Junge war, wurde von ihm erwartet, dass er mit älteren Männern schlief, als Zeichen der sozialen Konformität und um ein Gefühl von Wert und Identität innerhalb der Gemeinschaft zu erlangen. Narziss rebellierte jedoch gegen diese Erwartungen und weigerte sich, mit älteren Männern zu schlafen. Das erzürnte nicht nur seine Mitbürger, sondern auch die Götter. Die Göttin des Zorns bestrafte ihn daraufhin und ordnete Folgendes an: «So soll es auch ihm in der Liebe ergehen, so soll auch er, was er liebt, nicht bekommen.» Mit anderen Worten: Die Göttin hat Narziss von den Beziehungen zu anderen ­abgeschnitten und ihn dazu verdammt, nur sich selbst als ­Gesellschaft zu haben. Von zwischenmenschlichen Bindungen abgeschnitten, war er sozusagen sein eigenes Gefängnis – auf Lebenszeit in der Isolationshaft.

Die Strafe der Isolation

Wichtig ist, dass Narziss seine Strafe nicht mochte und die ­Götter ihm damit Schmerzen zufügen wollten. Als Mensch wünschte er sich natürlich, mit anderen in einer liebevollen Beziehung zu sein. Da dies nicht mehr möglich war, verliebte er sich in sein eigenes Spiegelbild in einem Teich und hielt es für einen anderen Menschen. Erst später erkannte er, dass er in Wirklichkeit sich selbst umwarb. Da ihm durch göttlichen Beschluss die Möglichkeit verwehrt wurde, sein eigenes Spiegelbild für eine vielversprechendere zwischenmenschliche Beziehung aufzugeben, verkümmerte er an der ihm aufgezwungenen seelischen Misere und starb.

Die Strafe war deshalb grausam, weil sie keinen Ausweg ­offenliess. Man erinnere sich daran, dass in einigen Ländern die Isolationshaft abgeschafft wurde, weil sie als Foltermethode anerkannt wird. Sie bedeutet zudem, dass es die Pflicht des Narziss gewesen wäre, das Begehren von Nymphen und Männern zu befriedigen, sein eigenes dagegen ausser Acht zu lassen.

Neu ist dieses Epos als die Geschichte eines Rebellen zu ­lesen, der sich den Wünschen und Erwartungen der sozialen Obrigkeiten seiner Zeit nicht unterzuordnen gewillt war und dafür bestraft wurde. Diese Strafe – das Eingeschlossenwerden in sich selbst – kommt einer Todesstrafe gleich, weil wir Menschen Wesen sind, die des Anderen bedürfen. Ohne Bindung werden wir verrückt oder sterben. Daher fürchten wir Menschen vor allem das eine, nämlich sozial ausgeschlossen zu werden. Deshalb passen wir uns immer wieder an, selbst wenn es unseren tiefsten Wünschen zuwiderläuft.

«Ohne Bindung werden wir verrückt oder sterben. Daher fürchten wir Menschen vor allem das eine, nämlich sozial ausgeschlossen zu werden.»

Der Tod des Narziss war aufgrund göttlicher Kräfte unvermeidlich – er fiel den gekränkten und abgewiesenen Begehrenden zum Opfer: Abgetrennt von den Mitmenschen, konnte er keine Bindungen mit anderen eingehen. Sein erdliches Dasein schmolz dahin wie der Odem in kaltem Wind.

Narzissten in unserer Zeit sehnen sich danach, mit anderen zusammen zu sein, von ihnen geliebt und bewundert zu werden – denn wir alle suchen und brauchen Anerkennung und Bedeutung. Können wir diese jedoch nie erfahren, dann sehnen wir uns ein Leben lang danach und setzen vieles in Bewegung, um dieses Vakuum zu füllen. Für moderne Narzissten, da sie nicht durch göttliche Macht zurückgehalten werden, existiert glücklicherweise ein alternativer Weg: Sie können versuchen, die von ihnen ersehnte Anerkennung und Bedeutung zu erlangen, indem sie sich den Erwartungen der Gesellschaft anpassen – eine Strategie, die Narziss nicht wahrnahm.

Selbstbestimmung als Ausweg

Bei den heutigen Interpretationen und Klassifizierungen narzisstischer Persönlichkeiten verkennen wir, dass Kränkung und Bestrafung den Kern des Mythos bilden. Wir müssen sein Vergehen wieder in unseren Fokus rücken. Wir müssen uns fragen, ob es wirklich wünschenswert ist, dass eine Gesellschaft Erwartungen an den Einzelnen stellt, die er unter Androhung des sozialen Ausschlusses erfüllen muss. Eine Gesellschaft, die das Individuum ständig ihren Erwartungen unterordnet, ist nicht nur narzisstisch, sie nährt auch den Narzissten in uns allen. Heute werden wir in so vielen lebenswichtigen Fragen dafür belohnt, das zu tun, was andere von uns erwarten, dass die narzisstische Seite unseres Charakters die Chance ergreift, den sozialen Tod durch Selbstisolation zu vermeiden, und sich stattdessen den Obrigkeiten fügt.

Wenn uns unsere Gesellschaft nur die Wahl zwischen dem sozialen Tod und der Unterwerfung lässt, sollten wir anfangen, darüber nachzudenken, wie wir die Dinge zum Besseren ­wenden können. Das inhärente Problem, mit dem der Mensch konfrontiert ist, ist die Frage, wie er Sinn und Erfüllung im ­Leben finden kann, ohne dass er sich selbst verleugnen muss. Das Bedürfnis, mit anderen in Verbindung zu treten und etwas Sinnvolles zu erreichen, darf nicht mit unserer Selbstaufgabe einhergehen. Anstatt uns selbst für die Zwecke anderer Leute zu instrumentalisieren, sollten wir beginnen, unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche wahrzunehmen, und uns zum Beispiel Bildung und Wissen um ihrer selbst willen, aus Lust und Neugierde aneignen.

Jeannette Fischer, zvg.

Wenn wir Bindung nicht mehr im Gefälle einrichten, wo der eine die Erwartungen des anderen zu erfüllen hat, sondern auf Augenhöhe arrangieren, indem wir den anderen in seiner Andersartigkeit anerkennen, dann ist der Boden geschaffen für Wachstum, Veränderung und Kreativität. Die Unterwerfung als Kompromisslösung, um nicht ausgeschlossen zu werden, um dazuzugehören, fiele weg und würde der Lust und dem Begehren nach Neuem Raum schaffen.

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