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Nackte Mathematik statt Wunschpolitik

Die «Altersvorsorge 2020»-Reform ist mutlos und tastet die grundsätzlichen Schwächen des heutigen Systems nicht an. Die Politik sucht Kompromisse zwischen links und rechts – und nicht zwischen den Generationen.

Nackte Mathematik statt Wunschpolitik

Die Politik befindet sich im Zeitalter des Pragmatismus. Ein Zeitalter, in dem Reformen aufgegleist werden, die Flickwerk sind. Der Vorschlag des Bundesrats zur Altersvorsorge ist ein Paradebeispiel dafür. Die vermeintliche «Reform» ist doppelt gefährlich, denn sie verschiebt nicht nur ein Problem elegant in die Zukunft, sondern suggeriert auch noch falsche Sicherheit. Sie betoniert einen Status quo, welcher der Realität längst nicht mehr entspricht. Spätere Anpassungen werden für die junge Generation umso schmerzhafter. Dieses starre System kann nur mit einer Entpolitisierung durchbrochen werden.

Doch wieso sind wir Jungen nicht längst schon auf der Strasse? Interessiert es uns überhaupt? Die Herausforderung liegt darin, die komplexe Thematik verständlich zu vermitteln. Setzt man sich mit Sozialversicherungen nicht vertieft auseinander, sind Diskussionen um «Mindestzinssätze», «technische Zinssätze», «Umwandlungssätze» und «erste, zweite und dritte Säule» so komplex, dass man lieber weghört. Selten führten Flyerverteilungen zu mehr Ratlosigkeit als bei der BVG-Referendumsabstimmung im Jahr 2010 – und zwar sowohl bei den Passanten als auch bei den Verteilenden, den Autor dieses Textes eingeschlossen. Soll ein Passant von einem Anliegen überzeugt werden, hat man dreissig Sekunden Zeit. Im Jahr der BVG-Abstimmung blieb jedoch auch nach mehrminütigen Erklärungsversuchen häufiger ein «Hä?» als ein «Aha!» zurück. Allein die Erklärung der zweiten Säule nimmt locker dreissig Sekunden in Anspruch.

 

Willkür, im Winter auf offener Strasse erklärt

Die finanzielle Stabilität der zweiten Säule hängt von zwei politisch festgelegten Parametern ab: dem Mindestzinssatz und dem Umwandlungssatz. Mit dem Mindestzinssatz bestimmt der Bundesrat einen Zinssatz für die Mindestverzinsung der Guthaben. Die Anpassung erfolgt jährlich und trägt der Entwicklung der Finanzmärkte Rechnung. Der Umwandlungssatz als zweiter entscheidender Parameter bestimmt den Prozentsatz des angesparten Alterskapitals, der jährlich als Rente ausbezahlt wird. Ein Umwandlungssatz von fünf Prozent bedeutet, dass der angesparte Kuchen in zwanzig Stücke aufgeteilt wird. Wenn wir bei unserer 2010er Unterschriftensammlung, die im tiefen Winter stattfand, dann jeweils die Sache mit den Kuchenstücken erläutert hatten, leuchtete es den meisten ein, dass sich die Anzahl der Kuchenstücke ungefähr mit der zu erwartenden Lebenserwartung bei Rentenantritt decken muss. Doch ein gewisses Unverständnis blieb, weil die Senkung als politische Massnahme wahrgenommen wurde und nicht als demographische. Misstrauen war spürbar und bildete den Nährboden für die Linke, die mit ihrer plakativen Rentenklau-Polemik gleich drei von vier Schweizern überzeugte – in weit weniger als dreissig Sekunden. 

Der Sinn einer Senkung des Umwandlungssatzes wird zwar meist anerkannt, doch ist die konkrete Ausgestaltung zu wenig verständlich. In der nun angestrebten Reform der Altersvorsorge ist eine Senkung des Umwandlungssatzes auf 6,0 Prozent enthalten. Aus der Niederlage von 2010 wurde nichts gelernt. Es braucht nicht bloss eine Senkung, sondern ein Umdenken, einen Systemwechsel zu einem technischen und transparenten Automatismus, der den Umwandlungssatz von der Politik entkoppelt und an die Lebenserwartung andockt. Alle Diskussionen um Rentenpolitik haben stets gezeigt, dass politische und emotionale Aspekte die ökonomischen und demographischen Fakten übertönen. Eine Entpolitisierung könnte Akzeptanz schaffen, die Thematik versachlichen und der Schlüssel zu einer erfolgreichen Volksabstimmung sein.

 

Zurück ins Kapitaldeckungsverfahren

Ein entpolitisierter Umwandlungssatz wäre nicht mehr von der politischen Grosswetterlage, sondern von der demographischen Realität abhängig. Eine technische Definition stellt sicher, dass im Durchschnitt nicht mehr berufliche Rente ausbezahlt wird, als einbezahlt wurde. Genau das ist die ursprüngliche Idee des Kapitaldeckungsverfahrens, auf dem die zweite Säule aufbaut.

Das Rentenalter für Männer wurde seit 1948 nicht mehr angepasst. Die Rentendauer hat sich seither gemäss Bundesamt für Statistik von durchschnittlich sieben auf achtzehn Jahre erhöht. Bei einer Rentendauer von 18 Jahren müsste der Umwandlungssatz um 5,6 Prozent betragen – davon sind wir weit entfernt. Das dänische Modell führt zu einem weitgehend konstanten Umwandlungssatz, der das Leistungsniveau erhalten und damit Rentensicherheit für alle Generationen garantieren kann.

Die beabsichtigte Senkung des Umwandlungssatzes auf 5,6 Prozent ist überfällig. Sie schafft aber letztlich ohne die notwendige Entpolitisierung bloss einen neuen starren Parameter,1 der vergangenen Entwicklungen Rechnung trägt, nicht aber künftigen. Ein Satz von 6,0 Prozent ist bereits für heutige Verhältnisse zu optimistisch bemessen. Wie aber soll er sich entwickeln, wenn die Bevölkerung weiter altert? Die Politik zementiert mit dem fixen Umwandlungssatz die Inflexibilität des Systems. Es wird ein bereits jetzt veralteter Umwandlungssatz beschlossen, der über Jahre konstant bleibt und sich von einem demographisch realistischen Wert entfernt. So entsteht ein Ungleichgewicht, das jeden Eingriff noch unpopulärer und schmerzhafter macht. Eine Entpolitisierung hingegen bringt Flexibilisierung und erlaubt eine laufende Anpassung an demographische Entwicklungen. Solche jährlichen automatischen Aktualisierungen sind sanfter und sozialverträglicher als der absehbare schwere Einschnitt, den die junge Generation mit der aufgegleisten Reform irgendwann um 2030 vornehmen darf2.

 

Stossende Antwort vom Bundesrat

Doch ist es realistisch, eine Entpolitisierung der Altersvorsorge erreichen zu wollen? Eine Motion von BDP-Nationalrat Martin Landolt forderte eine automatische Anpassung des Rentenalters an die Lebenserwartung. Der Nationalrat folgte der Motion gegen den Widerstand des Bundesrats, der Linken und einer Mehrheit der CVP. Doch der Ständerat versenkte sie mit Verweis auf die bereits fortgeschrittene «Altersvorsorge 2020»-Reform. Die BDP hat mit einer parlamentarischen Initiative nachgedoppelt, doch es ist zweifelhaft, ob diese noch rechtzeitig in die Vorlage einfliessen kann.

Speziell die Verwaltung scheint absolut kein Interesse an grundlegenden Reformen zu haben. Dies zeigt die Antwort des Bundesrates auf die Motion Landolt: «Ein Mechanismus zur automatischen Anpassung des Rentenalters an die Lebenserwartung ist aus Sicht des Bundesrates zudem kein taugliches Instrument, um das Rentenalter zu regulieren. Demographische Faktoren können hier nicht alleine ausschlaggebend sein. Im Gegenteil, es müssen auch andere entscheidende Aspekte mit einbezogen werden, wie die gesellschaftlichen Realitäten oder die Kapazität des Arbeitsmarktes, freigewordene Arbeitskräfte zu absorbieren.»

Diese Antwort des Bundesrates ist stossend bis erschreckend. Sie zeigt den fehlenden Reformwillen und verknüpft Themen, die nichts miteinander zu tun haben. Die gesellschaftlichen Realitäten wandeln sich doch gerade wegen der Demographie. Mit der Bemerkung zur «Kapazität des Arbeitsmarktes» stellt sich der Bundesrat kritisch zu jeder Anhebung des Rentenalters, ohne auf die Idee eines Automatismus einzugehen. Dabei wird der Arbeitsmarkt von einer verstärkten finanziellen Schieflage des Rentensystems viel stärker beeinträchtigt als von einer schrittweisen Anpassung des Rentenalters. Zwei Faktoren können sogar dazu führen, dass es in Zukunft mehr als genug Arbeit geben wird. Wenn in den nächsten fünfzehn Jahren äusserst geburtenstarke Jahrgänge in Rente gehen, wird es auf dem Arbeitsmarkt alle brauchen, besonders erfahrene Ältere. Zusammen mit der vom Volk verlangten Begrenzung der Zuwanderung droht Mangel an Arbeitskräften, nicht an offenen Arbeitsstellen.

 

Die Jungen, eine Quantité négligeable?

Die Hoffnung in die Schweizer Politik ist beschränkt. Die Mitte-links-Allianz aus CVP und SP lenkte die Reform im Ständerat in eine ganz andere Richtung und attackierte mit ihren sozialpolitisch unverantwortlichen Ausbauvorschlägen die Generationengerechtigkeit. Die Jungen sind für die Politik zu einer vernachlässigbaren Minderheit geworden. Jeder zweite Wähler ist dem Pensionsalter nahe. Die Politik sucht Kompromisse zwischen links und rechts, nicht zwischen den Generationen.

Gerade deshalb bündeln die Jungen ihre Kräfte. Die bürgerlichen Jungparteien JCVP, Jungfreisinnige und JSVP haben sich bereits im Vernehmlassungsverfahren gemeinsam geäussert und werden 2016 mit einer Resolution Druck auf das Parlament ausüben. Die junge Generation hat eine besondere Legitimation, sich zu dieser Thematik zu äussern, durchläuft sie doch das System als Ganzes, heute als Einzahler, morgen als Bezüger.

Die heutige Situation, in der die Politik den Umwandlungssatz losgelöst von der Lebenserwartung bestimmt, ist absurd und genauso paradox, wie wenn ein Wissenschafter Naturkonstanten so definiert, wie sie ihm passen. Eine Entpolitisierung und nackte Mathematik könnten dieses sozialpolitische Wunschkonzert beenden.


Jean-Pascal Ammann
aus Emmenbrücke LU, Bauingenieur ETH, ist ehemaliger Präsident JCVP Schweiz.


 

1 Alles fliesst: Bevölkerungsstruktur, Aktienmärkte, Zinssätze … Einzig in Stein gemeisselt, dekretiert von einer Kommission, konstituiert aus den usual suspects der Bereiche Lobby, Versicherungen und Behörden: der vom Bundesrat festgesetzte Mindestzinssatz auf den Altersguthaben. Die Festschreibung der Zinssätze läuft, wie süffig dargestellt von Beat Kappeler (SM Sonderthema 20, 2014), darauf hinaus, zu versprechen, man könne zweimal in denselben Fluss steigen. Kann man aber nicht. Zu dumm.

2 Zwölf Beitragszahler stehen heute hinter einem Hochbetagten. Im Jahr 2030 wird sich dieses Verhältnis halbiert haben. Der Generationenvertrag lässt sich nicht ohne echten Reformwillen in die Nahzukunft retten. Das Problem: zahlen künftige Beitragszahler gleich viel ein wie die heutigen, reicht das akkumulierte Kapital längstens nicht aus, um einen Lebensabend in Würde zu -garantieren. Wenn künftige Rentner so hohe Rentenzahlungen verlangen wie die heutigen, kann diese kumulierte Nachfrage nicht mehr von den Beitragszahlern gestemmt werden (Cosandey, SM Sonderthema 20, 2014).

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