Nacht des Monats
mit Pema Wangyal
«Ich bin ein richtiger Schweizer geworden. Nie habe ich genug Zeit.» Ein tiefes, rundes Lachen bebt durch Pema Wangyals Körper, und unvermittelt erinnert der zurückhaltende Mönch mit den Mandelaugen an einen kleinen, spitzbübischen Weihnachtsmann. Der ehrwürdige Acharya ist Mitglied der tibetisch-buddhistischen Klostergemeinschaft, die seit fünfzig Jahren im Tösstal angesiedelt ist. Um das Jubiläum zu feiern, kam vor wenigen Tagen der Dalai Lama zu Besuch, sass auf dem erhobenen Ehrenplatz im Gebetssaal, an dem heute ein Grossporträt seine Stelle einnimmt. «Er hat mit uns gegessen, aber gesagt habe ich nichts. Nur zugehört.» Wangyal lächelt unprätentiös. Als Kind einer tibetischen Flüchtlingsfamilie im indischen Orissa geboren, wurde er mit elf Jahren ordiniert, lebt seit 2006 hier. Die Mönchsgemeinschaft in Rikon, dieses diplomatisch kunstvoll arrangierte Amalgam, besteht aus je zwei Vertretern der vier grossen Schulen des tibetischen Buddhismus.
Wie es sich hier lebe, frage ich etwas vage, innerlich bezweifelnd, dass man dank eines allumfassenden Mitgefühls als Zielvorgabe den psychologischen Mechanismen entkommt, die das menschliche Miteinander versäuern. Pema Wangyal überlegt. «Es ist nicht perfekt», meint er schliesslich. Auch an einem Ort wie diesem träfen, weil vier Traditionen vertreten seien, unterschiedliche Interessen aufeinander. Es gehe also um philosophische Meinungsverschiedenheiten, hake ich nach. «Ah», jetzt lacht er wieder, «manchmal gibt es Fragen wie: wer räumt dieses Geschirr weg? Eine gute Übung, um Angelegenheiten nicht persönlich zu nehmen.» Wünschen würde er sich vor allem eine bessere Infrastruktur, um die Tibeter in der Schweiz geistlich und kulturell zu betreuen. Das Klostergebäude und die Bibliothek, die sich übereinander an den Hügel schmiegen, sind dafür bei weitem nicht ideal, was Grösse und Lage betrifft. Hierher gelangt nach zwanzigminütigem Fussmarsch, wer hinter der Kuhn AG, Produktionsstätte von Kochutensilien gehobener Machart, in den Wald abbiegt. Die Gebrüder Kuhn waren es auch, die das Kloster ursprünglich gründeten – als «Tibet-Institut», um nicht gegen die Bundesverfassung zu verstossen. Bis heute vermitteln seine Bewohner den Tibetern in der Schweiz, die nach dem Aufstand von 1959 flohen und hier aufgenommen wurden, ein Heimatgefühl. «Dass wir ebenfalls aus den Bergen stammen, war den Schweizern wohl sympathisch», scherzt Wangyal.
Er hat Tibetisch studiert, mit mir unterhält er sich in einem charmant akzentuierten Deutsch mit englischen Einsprengseln. Dreimal im Monat lehrt er die Grundpfeiler des Buddhismus, auch Urschweizer mit Appetit auf östliche Weisheit kommen zu ihm. Heute abend bin das ich. Wie verbringt er den Rest seines Alltags? Er bete, meditiere und bilde sich weiter, sehr gerne auch naturwissenschaftlich. Wer sich länger hier aufhält, darf sich in die Aussenwelt wagen – Wangyal hat an der Uni Zürich Psychologie studiert. Die Ordensregeln erlauben sogar milde Vergnügungen. «Solange man vom Sinnesgenuss nicht weggetragen wird, ist es okay. Zum Beispiel tanzen wir, auch zu westlicher Musik, und dieses Glück widmen wir allen fühlenden Wesen.» Ansonsten führt Pema Wangyal ein sehr einfaches Leben. «Aber ohne Reis geht es nicht», fügt er beinahe entschuldigend hinzu.
Bevor wir mit den Übungen beginnen, erhalte ich eine Einführung in die Geschichte der tibetischen Ideengebäude, stolpere über eine mir unvertraute Terminologie und numerische Systematik: sechs Yogas, vier Körper, achtzehn Freiheitsqualitäten? Ich nicke und mache ein Gesicht, als läge mir eine intelligente Frage auf der Zunge, da endet Wangyal diesen Teil mit einem fröhlichen «Jetzt üben wir Vergänglichkeit von Menschenleben». Das dann Folgende immerhin scheint nachvollziehbar: als Mensch geboren zu werden, ist das ganz grosse Los. Nicht wiedergeboren zu werden der Jackpot. Als ich meine Gedanken wie Wölkchen habe vorüberziehen und verpuffen lassen, meine Leiber als vergänglich, glückselig, leer visualisiert, ein Ei aus Licht zwischen meinen Raucherlungen, einen Buddha auf meinem Scheitel platziert, bringt Pema Wangyal seine Weltanschauung auf einen Punkt: «Heute da, morgen nicht da.» Er strahlt mich an. Dann gibt es Reis.