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Nacht des Monats mit Mehlwurm und Co.

Laut Welternährungsorganisation FAO essen rund 2 Milliarden Menschen regelmässig Insekten. Doch wie schmecken sie eigentlich?

Nacht des Monats mit Mehlwurm und Co.
Röstende Mehlwürmer in Bratpfanne, fotografiert von Alicia Romero.

Auf den festlich gedeckten Tafeln der Schweiz werden auch an diesem 24. Dezember Raclette, Rollschinkli oder Filet im Teig stehen. Was ist’s bei Ihnen? Mein Verdacht ist: wir essen alle Jahre wieder so ziemlich das Gleiche! Zumindest bei meinen bald dreissig Heiligabenden, die ich erlebt habe, gab es bisher nur einen Wechsel: von Bratwurst zu Fondue chinoise – und zwar, als die Grosstante zu alt wurde, um jedes Jahr kiloweise Fleisch für die ganze Familie durch den Fleischwolf zu jagen. Nur zu schnell wird man zum Gewohnheitstier: etwas Neues auf dem Teller? Abstand halten! Diese Essensphilosophie hat mich seit jeher gestört – denn wie kann man wissen, ob etwas schmeckt, wenn man es nicht probiert?

Meine Einstellung brachte mich zu einem Kochkurs der besonderen Art, zum Insektenkochkurs des Schweizer Start-ups Essento. Es ist 18.15 Uhr in der Zürcher Backschule Mühlerama: in den nächsten vier Stunden werden 13 neugierige Personen und ich zehn Gerichte zubereiten. Allesamt mit Insekten. Rund 2000 essbare gebe es, meint unser Kochkursleiter Timothée. «Doch davon sind in der Schweiz nur drei zugelassen: Mehlwurm, Grille und Wanderheuschrecke.» Seit letztem Jahr liegen die ersten Insektenburger in den Kühlregalen, bisher habe ich sie beim Einkaufen übersehen. Aber heute bin ich bereit, Entomophagin zu werden – wie rund 2 Milliarden Menschen, die laut Welternährungsorganisation FAO regelmässig Insekten konsumieren.

In unserem Kulturkreis finden sich Insekten nur in verdorbenem Essen – dass wir sie vor allem mit Ekel in Verbindung bringen, ist keine Überraschung. Dabei gebe es viele gute Gründe, welche zu essen, findet der Kochkursleiter: «Insekten enthalten wertvolle Proteine, die in ihrer Qualität und Menge mit Fisch und Fleisch vergleichbar sind.» Noch nippen wir verlegen an unseren Weissweinen, einige Mutige greifen aber bereits in die Apéroschälchen, in denen – wie zu erwarten – keine Erdnüsse liegen, sondern ganze Heuschrecken. Das Essen von Insekten sei gut für den Planeten, sagt Timothée: «Man hält sie auf engem Raum, verfüttert ihnen Nebenprodukte aus der Herstellung von beispielsweise Biobier. Sie zu produzieren, verbraucht 1000mal weniger CO2 als Fleisch. Und dann schmecken sie auch noch gut!»

Also ran an die Töpfe. Geschäftig wird püriert, gehackt und gebraten. Berührungsängste mit den ungewöhnlichen Zutaten zeigt niemand. Zusammen mit einem jungen Paar nehme ich das Dessert in die Hand: Mehlwurmpralinen und Cornflakes-Guetzli. Sie seien aus ökologischen Gründen hier, meint sie, während er motiviert mit einem Schaber gefriergetrocknete Mehlwürmer statt die üblichen Maisflocken unter die geschmolzene Schokolade zieht.

Sonderbare Gerüche steigen plötzlich in meine Nase – sie stammen von der Bratpfanne, in der 150 Gramm Mehlwürmer rösten. Ich drehe mich um und sehe, dass durch die Hitze Bewegung in die Pfanne gekommen ist, die braunen Larven schlängeln leicht – ja, erlebe ich gerade mein erstes Weihnachtswunder? Doch nicht, die Mehlwürmer sind definitiv tot. Auf die Frage, wie man sie tötet, erklärt Timothée: «Bei einer gewissen Temperatur schlafen Insekten ein, danach wird sie noch weiter gesenkt und sie entschlummern sozusagen im Schlaf.»

Nun nehmen wir Platz, das Essen wird geschöpft, die Spannung steigt. Schmecken Grillen wie versprochen nach Popcorn, die Mehlwürmer nach Haselnüssen, die Heuschrecken nach Poulet? Nach wenigen Bissen wird mir klar: Nein. Mehlwürmer schmecken nach Mehlwürmern. Und ihr Geschmack ist, für mich jedenfalls, gewöhnungsbedürftig. Meine ökologische Kollegin flüstert leicht enttäuscht: «Das schmeckt aber schon etwas eigen.» Und auch auf anderen Gesichtern meine ich leichte Skepsis zu erkennen. Da ruft eine ältere Dame, die ihre Begeisterung nicht zurückhalten kann: «Wahnsinn! Diese Mehlwurm-Weissweinsuppe mache ich direkt zu Weihnachten!» So sind die Geschmäcker eben verschieden. An den Grillen-Sommerrollen und der Pasta mit Mehlwurmpesto ist nicht viel auszusetzen, denn man schmeckt gar nicht, dass Insekten drin sind. Die Frage ist nur: ist das Ziel der Sache? Auch die Suppe schmeckt tatsächlich richtig gut. Eine Familie wird auf jeden Fall richtig schöne Weihnachten haben dieses Jahr.

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