Nacht des Montas mit Lukas Spinner
Wir schreiben das Jahr 1975. Im konservativen Meilen am Zürichsee sucht man einen neuen Pfarrer. Die Wahl fällt rasch auf den damals 33jährigen, frischgebackenen Theologen Lukas Spinner. Und der fällt zunächst durch die exquisiten Referenzen aus Tübingen und Zürich, beim Amtsantritt dann auch durch sein Äusseres auf: Spinner hat die Haare schön – vor allem schön lang. Und weil er zwar mit Mähne, aber ohne Familie anreist, schlägt er der Gemeinde gleich vor, das Pfarrhaus in eine offene, nichtgeistliche WG umzuwandeln. «Es war riesig», sagt Spinner. Dann macht er eine Pause, lacht. «Und Meilen wollte ja einen ‹positiven› Pfarrer…»
Der heute 71jährige Lukas Spinner hat sie noch immer schön, die Haare. Bloss kürzer und grauer. Wenn er nun in seiner kleinen Wohnung im Zürcher Kreis 1 Rotwein aus einer Glaskaraffe einschenkt und von seiner damals im Pfarrhaus zu Meilen gegründeten WG erzählt – die bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2007 existierte und über hundert Menschen über drei Jahrzehnte hinweg ein kostenloses Zuhause gab –, so tritt man als Zuhörer eine höchst private Zeitreise an. «Die WG wurde von den Gemeindeverantwortlichen bei nur einer Gegenstimme akzeptiert», berichtet er. «Zwei Wochen später zogen die ersten Mitbewohner ein. Und Meilen staunte…»
Lukas Spinner erzählt seine Lebensgeschichte fragmentarisch, überspringt Dekaden, spult sie zurück und vor, isst zwischendurch ein paar Weintrauben, schneidet Rückblenden dazwischen, stellt die weltliche Existenz Gottes quasi im Nebensatz in Frage – «weil der Schöpfer rein logisch ja nicht irgendein Teil der Schöpfung, also dessen, was existiert, sein kann, obwohl… vielleicht in Christus…» –, hustet dann wegen irgendeiner Allergie und schmunzelt nicht selten ob des Jungpfarrers eigener, höchstweltlicher Probleme. «In der WG gab es von Beginn an genau vier Regeln. Erstens: das Pfarramt geht immer vor. Wer abends in der Stube sitzt, wenn ich dort ein Gespräch führen muss, macht Platz. Am Sonntagabend, zweitens, essen alle Bewohner gemeinsam. Drittens: ich entscheide allein, wer ins Haus kommt oder gehen muss. Und viertens: wer Rauschgift konsumiert, muss das Haus verlassen.» Als ihm von Mitbewohnern zaudernd zugetragen wird, dass sich ein von ihm sehr geschätztes WG-Mitglied nicht an letztere Regel hält, genauer: in seinem Zimmer etwas Besseres dreht, schläft Spinner erstmals in seinem Pfarrhaus eine ganze Nacht lang nicht. Was macht ein Nächstenliebender, wenn der Nächste die Gebote nicht einhält? Am nächsten Morgen trommelt der WG-Pfarrer seine Mitbewohner in der Stube zusammen. Und erklärt – zur Überraschung aller – Regel 4 für nichtig. Ab sofort. Der Begnadigte sei heute übrigens Chefarzt in der Innerschweiz, sagt Spinner. Und bis heute einer von seinen engsten Freunden.
«Ich habe bis zu meiner Pensionierung nie allein gelebt», sagt er angenehm stolz, bloss um lachend hinzuzufügen: «Und so richtig allein lebe ich noch immer nicht!» Weder in seiner Mietwohnung in Zürich, wo er täglich Freunde und Bekannte empfängt, noch auf der Insel Amrum, wo er 1953 beim Anblick der Nordsee erstmals das Gefühl hatte, doch seinem Schöpfer zu begegnen, und heute ein Haus am Meer besitzt, dessen Türen er allen Besuchern öffnet. Für Tage, Wochen, Monate. «Kostenlos, natürlich.» Das Gefühl göttlicher Anwesenheit an diesem Meer sei bis heute da, sagt er. «Ein beinahe pubertäres Aufwallen, eine herbe Berührung, sehr tief drin… und immer wieder.» Wie das denn zusammenpasse, die von ihm eben noch bewiesene Nichtexistenz Gottes in dieser Welt und seine dann doch göttliche Berührung am Nordseestrand? Er überlegt, zuckt lächelnd mit den Schultern. «So ist das eben mit dem Glauben: Zweifel sind immer angebracht. Man muss sie nur artikulieren. Eine Zeugin Jehovas, Anhängerin also einer Glaubensgemeinschaft, die gemeinhin als recht bibelfest gilt, habe ich im eigenen Türrahmen mit meinen berechtigten Zweifeln am Jüngsten Gericht einmal von der Nichtexistenz der Hölle überzeugt. Zumindest für ein paar Minuten…»
Als ich Lukas Spinners Zürcher Wohnung spät am Abend verlasse, stelle ich mir die Frage nach meinem Verhältnis zum Allmächtigen. Und frage mich diesbezüglich: wie weit ist es eigentlich bis Amrum?