Nacht des Monats
mit Lionel Battegay
Ronnie Grob schlendert mit Lionel Battegay durch die Art Basel.
Wenn Sie online öfters mal kurze Videos konsumieren, wurden Ihnen die spontanen «Ask Switzerland»-Strassenumfragen des jungen Manns mit dem Stadtbasler Dialekt womöglich auch schon angezeigt. Als Lionel Battegay 2015 im Alter von 17 Jahren begann, in verschiedenen Städten Leute anzusprechen, geschah das aus einem urjournalistischen Reflex heraus. Weil er im Internet keine seriösen politischen Strassenumfragen fand, sondern nur Videos von «Giacobbo & Müller», nahm er selbst ein Mikro in die Hand, setzte sich eine Sonnenbrille auf und fing an, Leute auf der Strasse zu verschiedensten Themen zu interviewen.
Die korrekten Antworten auf seine Fragen rissen niemanden von den Sitzen. Die originellen und die falschen dafür umso mehr: Wilhelm Tell solle Amerika entdeckt haben, kam einmal heraus, oder dass Goethe der Präsident von Winterthur sei. Also setzte Battegay darauf. Ist vom Kanton Saturn die Rede oder können Fragen wie nach der Wurzel von 100 nicht beantwortet werden, ringt auch der Zuschauer um Fassung.
Jedes 5-Minuten-Umfragevideo kostete Lionel 12 Arbeitsstunden: eine Stunde für die Anreise, drei fürs Filmen, sechs fürs Schneiden und noch eine Stunde fürs Hochladen, Captions und Thumbnails sowie eine weitere, um die Kommentare zu betreuen. Nach eineinhalb Jahren setzte der Erfolg auch finanziell ein, und er konnte mit seinen «Strassen-Dummfragen» sein Studium finanzieren. Zu den besten Zeiten verzeichneten die Umfragen drei Millionen Aufrufe pro Monat. Nicht schlecht bei einem Markt von vielleicht fünf Millionen Menschen, die Dialekt verstehen.
Wir treffen uns im Regionalzug nach Basel; Lionel steigt in Liestal ein, arbeitet er doch derzeit am Steuergericht des Kantons Baselland als juristischer Volontär. Danach startet er für sechs Monate als Praktikant bei einem der Big Four der Wirtschaftsprüfer. Sein Auftreten im Alltag ist vorsichtig, fast schüchtern – ganz anders, als man ihn aus seinen Videos kennt, in denen er frech ist und aus sich herausgeht. Es ist, als würde man Superman als Clark Kent treffen.
Reagieren die Leute, über deren seltsame Antworten er sich bisweilen demonstrativ lustig macht, nicht auch mal aggressiv? Lionel winkt ab. «Wenn sich Leute beklagen, dann darüber, dass ihr Instagram-Name nicht erwähnt wurde. Oder dann wollen sie unbedingt wieder in die Sendung kommen. Dafür sind sie mir auch schon nachgereist.» Seine Protagonisten findet er aber ernsthaft grossartig, er habe viele tolle Leute kennengelernt: «Sie haben meinem Publikum das gegeben, was es sehen wollte.»
An der Art Basel lösen wir das Afterwork-Ticket von 17 bis 19 Uhr. Schon in diesem kurzen Zeitfenster sind wir von der Menge an Kunst überwältigt. Als uns Schriftsteller Jürg Halter über den Weg läuft, werden wir uns rasch einig, dass sich das Ausmass woker Kunst, anders als erwartet, in Grenzen halte. Länger stehen bleibt Lionel nur bei Kunstwerken, die nach Modelleisenbahnen oder Computern aussehen. An sich gefällt ihm die Ausstellung gut, aber viel anfangen könne er nicht mit Kunst. «Aus einer Steuererklärung kann ich mehr herauslesen als aus einem Bild», sagt er, der Steuern für ein «spannendes Thema» hält. «Ich könnte mir vorstellen, mich mit diesem Thema als Lebensunterhalt zu beschäftigen.»
Das Mitglied der Jungfreisinnigen, das mit 25 Jahren bereits seit zwei Jahren verheiratet ist (mit einer Taiwanesin), wirkt nicht nur wie ein junger Bürgerlicher, er ist tatsächlich einer. Das Ziel, das zu erreichen, was er sich gesetzt hat, ist das Bestehen der Anwaltsprüfung 2025. Seine Hobbies sind Badminton spielen oder einfach mal gar nichts tun. Als beste Anschaffung für sein persönliches Glück nennt er ein elektrisches Akkordeon, das er mit eingesteckten Kopfhörern in der Wohnung spielt. «Falls alles nichts wird, werde ich mich auf die Freie Strasse setzen und Akkordeon spielen. Ich bin mir ja nicht zu schade, um zu arbeiten.»
Nach sieben Jahren hat er nun einen Schlussstrich gezogen mit den Umfragen: «Ich habe auch aufgehört, weil ich befürchtete, am Ende beim SRF zu enden – und das wollte ich nicht.» Mit dem Format «Legal Lionel», das rechtliche Fragen thematisiert, hat er nun einen neuen Weg der Produktion von Inhalten gefunden; es ist ihm dabei wichtig, einen Mehrwert zu erzeugen, denn: «Die meisten Videos im Internet sind verschwendete Lebenszeit, sowohl für den Konsumenten als auch für den Produzenten.»
Das Wichtigste, das er in den sieben Jahren gelernt hat? «Mit Ablehnung umzugehen. Die meisten sagen schon mal nein. Aber dranzubleiben, obwohl man immer wieder scheitert, ist wertvoll.»