Nacht des Monats mit Joel aus Münster
Es ist einer dieser sonnigen, frühen Herbstabende, die man überall, aber sicher nicht auf süddeutschen Autobahnrastplätzen mit Kiesbeton-WC verbringen möchte. Ausser mir lauscht hier nur ein schlaksiger junger Mann mit seinem monströsen Rucksack dem PKW-Getöse auf der A5. Und er kommt auf mich zu. «Are you heading towards Frankfurt? Direction: north?» Ich nicke freundlich. «I am Joel. Mind, if I hop on for some kilometres?», fragt er weiter. «Just to get to the next gas station…» Ich überlege nicht lange. «Hop on», sage ich.
Im Auto stellt Joel dann bald lachend fest, dass Menschen mit ZH-Nummernschild in aller Regel auch etwas Deutsch sprechen, und erzählt mir, dass er aus Münster in Westdeutschland komme. Nicht jetzt gerade, aber eigentlich. Wo er denn jetzt gerade herkomme, frage ich. «Lange Geschichte», antwortet er abwinkend. «Kein Problem», finde ich, «bis Frankfurt sind’s ja noch 300 Kilometer.»
Joel, 21, aus Münster, ist auf dem Weg nach Hause. Er hat den ganzen Sommer in Südspanien verbracht. Auf einer Art biokooperativem Campingplatz, wo der angehende Zimmermann eine Freundin besuchte. Er habe dort freie Kost und Logis gehabt, sagt er, dafür die Hochsaison über beim Gärtnern und Renovieren geholfen. Seine Freundin sei mit einem Spanier liiert, beide hätten seit Jahren mit einem bürgerlichen Leben abgeschlossen – und versorgten sich und ihre Gäste in der Kooperative nun selbst. «Tipi-Bau, Wasseraufbereitung, Olivenernte – so was halt.» Joel, der von der Südsonne strohblond geworden ist und eine Latzhose trägt, ist anzumerken, dass er – wie so viele – an der deutschen Krankheit, an der Südsehnsucht, leidet. «Man hat ja eigentlich nicht wirklich eine Perspektive in diesem Deutschland. Sicher, einen Job bekommt man schon, wenn man ausgebildet ist. Aber will man das denn hier? Ich meine: es regnet ständig, die Leute sind steif…» Kein Zweifel: Joel aus Münster wäre viel lieber bei den Tipis und den selbstgepflanzten Salatköpfen geblieben. «Nächstes Jahr gehe ich wieder runter. Und bleibe dann. Also… natürlich nur, wenn ich bis dahin wieder Geld und einen Ausweis habe…»
Autofahrer, die Anhalter mitnehmen, haben eine vermeintlich nicht ganz unbegründete Angst davor, von ihren Teilzeitmitfahrern ausgeraubt zu werden. Wie sich herausstellt, geht’s auch andersrum. Denn Joel hat es als Autostopper geschafft, auf seiner 2000-Kilometer-Odyssee vom spanischen Huelva bis hierher von grossen Teilen seines Privatbesitzes getrennt zu werden. Joel vermisste seit zwei Tagen sein Handy. Ob es ihm von der Fahrerin aus Barcelona geklaut wurde, als er mal austreten musste, oder ob er es einfach verloren hat, weiss er nicht. Es ist jedenfalls weg. Und gestern, da habe ihn ein Franzose auf einen verlassenen Waldweg gefahren, steckte sein Portemonnaie ein, warf ihn aus dem Auto – und sei dann weggebraust. Joel erzählt das, als sei es das Normalste auf der Welt. «Ach, das Handy ist mir ja noch egal! War nichts Besonderes. Aber in meinem Portemonnaie waren alle Karten, der Ausweis, der Führerschein. Das alles neu ausstellen zu lassen kostet mich ein Vermögen. Eins, das ich nicht habe.»
Nein, Joel will mich nicht anpumpen. Sogar das Geld für ein Telefonat mit seiner Mutter an der nächsten Raststätte lehnt er ab und wirft ein wenig Kleingeld aus dem Hosensack ein. Als er zum Wagen zurückkommt, ist er richtig ausgelassen. «Das Handy ist wieder da!», sagt er. Die Fahrerin habe es auf der Rückbank gefunden und seine Eltern benachrichtigt. «Wahrscheinlich ist es schon in einem der gelben Post-LKWs, die wir eben überholt haben.»
Ich nehme den jungen Tramper noch weiter mit, insgesamt fast 500 Kilometer weit. Auf einer grausam grauen Raststätte inmitten eines deutschen Mittelgebirges nördlich von Frankfurt verabschieden wir uns. «Gute Reise. Jetzt und nächstes Jahr!», wünsche ich und meine das ganz ernst. Winkend taucht Joel aus Münster, der mit der Latzhose und dem monströsen Rucksack, ein in diese Anhalterwelt zwischen Wurstwarmbehälter, Wischblättern und Wunderbaum. Dann lugt er noch einmal aus der Schiebetür und ruft: «Und danke! Auch fürs Nichtausrauben!»
Na ja, denke ich, als ich wieder in den Verkehr einfädle. Wäre ja eh nix mehr zu holen gewesen.