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Nacht des Monats mit Isabelle Krieg

Nacht des Monats mit Isabelle Krieg

Im Schein der Taschenlampe: feuchte Wände, rostige Rohrkon-struktionen, Isoliermaterial, das zerfetzt herunterbaumelt, Spinnweben. Wir befinden uns in einem verfallenden Tunnel in Nairs im Unterengadin, nicht einmal mannshoch und sicher ein heimeliges Zuhause für Getier aller Art. Es ist kurz nach drei Uhr in der Nacht, Isabelle Krieg schleicht wenige Meter vor mir geduckt durch den Schacht. Stille. «Da vorn ist die Tür», sagt sie vergnügt und macht eine weisende Bewegung mit dem Lichtkegel.

Viele Stunden zuvor: wir sind auf dem Weg ins Kulturzentrum Nairs. Die Künstlerin in blauem Kleid mit gelben Turnschuhen ist heute ein wenig müde, wie sie sagt – und um sieben hat sie einen Performanceauftritt vor geladenem Publikum. Schon seit geraumer Zeit pendelt Isabelle Krieg nun zwischen Berlin, Zürich und den verschiedensten Orten in der Schweiz. In diese stressige Situation ist sie gekommen, weil sie sich als Künstlerin über die Landesgrenzen hinaus einen Namen gemacht hat. Zum Beispiel, indem sie kleine Weltkarten auf Gegenstände und an Orte ritzt, pinselt und aus ihnen herausschneidet, Gesichter aus Zeitungen in den übriggebliebenen Kaffeeschaum von Tassen malt (da ruhen tatsächlich George W. Bush und Mahmud Ahmadinejad nebeneinander in ungespülten Kaffeetassen!), Wolken aus Brüsten aus weissem Weichschaum in öffentlichen Parks verteilt und jüngst gar ein ganzes Sonnensystem-Mobile zum Rotieren brachte. Ihre Kunst, das sagt sie selbst, hat den grossen Vorteil der Greifbarkeit. Selbst dann, wenn ihre Werke manchmal unvollendet, weil noch «in progress» sind. Ihr neu aufgelegtes Buch «Die Welt entdecken», ein Photoband mit ihren Weltkarten, liegt auf jedem gut assortierten Buchhandlungsgeschenktisch, seit anderthalb Jahren ist sie bei der Galerie Christinger De Mayo in Zürich unter Vertrag. Kunst und Erfolg – kein Widerspruch für die 39jährige, die von ihrer Tätigkeit seit Jahren lebt.

Künstlerin habe sie schon immer werden wollen, erklärt sie während der Fahrt über den Albula – und zettelt auf der Passhöhe mit dem eben erst kennengelernten Begleiter eine spontane Schneeballschlacht an. Nie sei es für sie ernsthaft in Frage gekommen, einen «normalen» Job zu machen. Sie berichtet von ihrer Zeit beim Mitspielzirkus Circolino Pipistrello, vom abgebrochenen Versuch, bei Dimitri in Verscio ihren Kindheitstraum zu verwirklichen und Clown zu werden. Nach weiteren Stationen auf einer Alp und an der Kunstgewerbeschule Luzern wurde ihr klar, dass sie lieber ihre Werke auf die Bühne stellt als sich selbst. Sie macht seitdem, was ihr Spass macht: Kunst! Freie Kunst. Die Realisation von guten Ideen also, die vielleicht, so sagt sie, viele hätten – sich aber nicht umzusetzen trauen. Künstler, bemerkt sie durch die Blume, hätten eine avantgardistische Funktion.

Zu späterer Stunde hat sie sich umgezogen und mit Werk auf die Bühne gestellt – und ihre Performance hat das Publikum im Kulturzentrum mit viel Redebedarf zurückgelassen: eine vormals weisse Wand im Foyer weist nun Isabelle Kriegs Lebenstage aus. Für jeden einzelnen hat sie einen kurzen schwarzen Strich auf weissen Kalk gezogen, alle 1000 Striche berichtete sie von Begebenheiten aus der Schulzeit, der Pubertät, den ersten Gehversuchen als Künstlerin – und trank ein Gläschen Wodka. Eine Wolke aus Strichen ist entstanden,  schlussendlich sind es 14 443 geworden. Das macht 14 Wodkas – doch Isabelle ist nicht betrunken. Und plötzlich wieder wach: vom geheimen Verbindungsgang im Keller, durch den man vom Kulturzentrum ins gegenüberliegende, nun verfallende Luxushotel gelangt, erzählt sie mir leise. 2003, als sie Stipendiatin des Hauses war, habe sie ihn entdeckt. Ob es ihn noch gibt? Als die letzten Gäste gegangen sind, ist Isabelle fest entschlossen, diesen Erwachsenenspielplatz zu erkunden. Sie klettert im Keller über Gerümpel, schreckt ein ganzes Ameisenvolk auf, öffnet dann eine versteckt-modrige Holztür in einer Wand und krabbelt in den sich auftuenden düsteren Schacht.

Ihr abruptes Ende findet die nächtliche Odyssee erst an einer schweren, verschlossenen Metalltür. Hier ist selbst die grösste Entdeckerin machtlos: wir müssen umkehren, tasten uns zurück ins Foyer. Und als das sachte Schliessen ihrer Zimmertür durch die leeren Gänge hallt, ist auch ihr neustes Kunstwerk an der Wand schon wieder unvollendet: Für heute fehlt ein Strich.

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