Nacht des Monats
mit Hannes Binder
Peter Kuster geht mit Hannes Binder auf einen Streifzug
durch das nasskalte Zürich.
Wer Hannes Binders Atelier in seinem Haus in Zürich-Oberstrass betritt, wird überrascht sein, wenn er die bekannten Arbeiten der letzten Jahrzehnte im Kopf hat, denn es dominiert nicht das Schwarz-Weiss seiner auf Schabkarton erstellten Illustrationen und Bildergeschichten zu Friedrich Glausers Kriminalromanen. Der Grafiker, Jahrgang 1947, hat den Raum mit bunten, warmen «Spätwerken» geschmückt. Feucht und düster sind dafür die Strassen der Stadt, durch die mich Binder ein paar Minuten später führt. Sein Haus liege in einem literarisch interessanten Dreieck, hätten doch neben seinem Lieblingsschriftsteller Glauser einst auch James Joyce und Friedrich Dürrenmatt in der Nähe gewohnt. Wir verzichten aber darauf, alle Stationen Glausers in Zürich abzuwandern, weil die Distanzen zum Beispiel zur früheren «Irrenheilanstalt Burghölzli» oder zum Friedhof Manegg zu gross wären. Stattdessen streben wir ins Niederdorf – Glauser selber hätte es wohl gut verstanden, dass wir lieber ein Glas Wein trinken.
Doch wie ist Binder eigentlich auf Glauser und Comics gestossen? «In den Achtzigerjahren arbeitete ich als Grafiker für den Arche-Verlag, und dieser kam zu Taschenbücherdrucken von Glausers Geschichten. Doch es fehlten die Covers, und so erhielt ich den Auftrag.» Dies war auch die Zeit, in der die Comic-Begeisterung aus den USA über den Atlantik schwappte. «Für die jugendliche Comic-Welt war ich damals aber bereits zu alt», sagt Binder. «Zudem drehten sich die Stories meist um Sex and Crime und wurden immer farbiger und exotischer.» Der Ausweg: «Ich seilte mich in die Schweizer Literatur ab.» Und dafür boten sich natürlich Glausers Krimis an, in denen von Beginn weg immer wieder etwas geschieht. «Passiert in einer Geschichte lange Zeit wenig, wird es schwierig.»
Ein solcher Fall war «Das letzte Problem» von Sherlock Holmes, für einmal eine Geschichte eines ausländischen Autors (Arthur Conan Doyle), die Binder letztes Jahr als Graphic Novel gestaltete. Die Verwandlung eines literarischen Textes in eine Bildergeschichte ist allerdings immer anspruchsvoll. «Literatur braucht eigentlich gar keine visuelle Umsetzung», erklärt er, «ein Grafiker oder ein Regisseur hat die Wahl zwischen Reduktion oder Verfälschung.» Wer die Werke des Zürcher Illustrators kennt, weiss, welchen Weg er gewählt hat. Ganz anders gemacht hat es Binder jedoch in seinem neuen Buch «Kill Your Darlings»; zu Bildern aus seinem Fundus erfand Autor Dirk Vaihinger eine Geschichte.
Unsere erste Station in der Altstadt ist die wiedereröffnete Neumarkt-Bar. Wir sind uns einig: Mit der Neugestaltung hat die Bar leider ihre Seele verloren, so dass wir bald weiterziehen, in die gemütliche Bodega Española, wo das Inventar seit mindestens 50 Jahren unverändert ist. Binder ist ein guter Zuhörer, so dass ich darauf achten muss, nicht mehr von mir preiszugeben, als ich von ihm erfahre. Er arbeite gerne so lange weiter, wie er gefragt sei. Die Digitalisierung habe die Comic-Welt grundlegend verändert, sie sei flach geworden wie der Bildschirm. «Auch wenn ich mit meinem Handwerk etwas aus der Zeit gefallen bin – ich brauche die analoge, sinnliche Welt, die Stimmungen.» So sucht Binder weiterhin die Schauplätze einer Geschichte auf, bevor er sie verbildlicht. Aus der Zeit gefallen zu sein scheint auch sein Selbstverständnis als Künstler. «Früher war es normal, dass Künstler eine finanziell eher prekäre Existenz führten. Das war der Preis für ihre grosse Freiheit.» Verwundert nimmt er heute das Anspruchsdenken vieler Kulturschaffender und ihren Ruf nach Staatsgeld zur Kenntnis.
Später am Abend erwähnt er ein zweites Zürcher Dreieck, in dem er und andere Kulturschaffende in den 1970er- und ’80er-Jahren viel Zeit verbrachten und das von den Lokalen Bodega, Malatesta und Odeon gebildet wurde. In diesem «Bermuda-Dreieck» bewegte sich damals auch Benedikt Loderer, der sich spontan für ein Glas an unseren Tisch gesellt. Auch mit dem «Stadtwanderer» und Begründer der Zeitschrift «Hochparterre» liesse sich gewiss eine kurzweilige «Nacht des Monats» bestreiten. Heute aber begleite ich Hannes Binder zurück zu seinem Haus, verabschiede mich, schwinge mich aufs Velo und fahre allein durch die schwarz-weisse Stadt.