Nacht des Monats mit Francesco Micieli
Kennen Sie Lützelflüh-Goldbach? Nein? Ich auch nicht. Als Francesco Micieli im Frühjahr 1977 mit Lützelflüh seine zweite Heimat verliess, Jahre zuvor hatte er bereits als kleiner Junge das Örtchen Santa Sofia d’Epiro in Kalabrien hinter sich gelassen, ahnte er noch nicht, dass der kleine Ort im Emmental Schauplatz seiner Bücher werden sollte. Derjenigen Bücher, die die ersten gewichtigen Initiationsbrocken einer ganzen Lawine sogenannter Migrationsliteratur darstellen würden. Die Initiation für seinen ersten Prosatext, so wird mir Francesco später erzählen, fand während seines Studiums genau hier statt: am Hauptbahnhof Bern.
Als ich Francesco an diesem bitterkalten Dienstagabend im Februar die Hand schüttle, lächelt er, obwohl ich ihn habe warten lassen. «Eigentlich», so beginnt er, «wollte ich dir die mediterranen Seiten Berns zeigen: die untere Altstadt zum Beispiel.» Bei –18° C, ein voller Mond lässt gefrorene Luft vor unseren Augen silbrig tanzen, wird daraus nichts. In beiderseitigem Einvernehmen. Als wir kurz darauf im warmen Lorenzini (ein Zugeständnis ans Mediterrane, immerhin) an der Bar Zuflucht suchen und uns zwischen Carlsberg, San Miguel, Feldschlösschen und Heineken entscheiden müssen, fällt Francescos Wahl auf das Rheinfelder Gebräu. «Heimat», sagt der ehemalige Präsident des Verbandes Autorinnen und Autoren der Schweiz, «das ist dort, wo du nichts erklären musst. Da, wo die Geschichte gegeben ist. Salute!» Er lacht.
Die «gewisse mediterrane Art» der Bundesstadt ist Francesco Micieli während des Studiums aufgefallen. Als Kind italienischer Gastarbeiter sucht er sich in den 1970er Jahren in Bern Orte, an denen er «nicht auffällt». Er sitzt, wenn gerade keine Vorlesungen sind, an der Aare und fragt sich: «Was geschieht mit dir, wenn du an einem Ort sein willst?» Seine Einwandererbiographie weiss er bis anhin nicht recht zu deuten. Als er damals am Bahnhof vorbeikam – es sei eine Vorlesung ausgefallen, sagt er, und es fanden auch gerade keine Demos statt –, registrierte seine Nase einen Geruch, der ihn an seine Kindheit in Kalabrien erinnerte. An die drei Jahre bei den Grosseltern, als seine Eltern schon in der Schweiz waren und auf die Familiennachzugserlaubnis warteten. Und sein nun germanistisch, linguistisch und romanistisch gelüftetes Studentengehirn machte einen Satz aus dem Geruch: «Der Zahn meiner Grossmutter lacht.» Francesco macht eine Pause. Dieser deutschsprachige Erinnerungsfetzen aus italienischer Vergangenheit, so sagt er, entzündete seine Phantasie und liess ihn im stillen Kämmerlein mehr davon erdichten. Auf einem Geburtstagsfest von Kurt Marti begegnet er dem Militärdienstbefreier der Schweiz, dem Psychiater und Schriftsteller Walter Vogt, und zeigt ihm beiläufig seine Texte. Vogt rät Micieli zu einer Veröffentlichung. Doch Francesco wartet ab. Erst spielt er im Solothurner «Kreuz» Theater. Er schlüpft in die Rolle von Boxlegende Fritz «Die Berner Fliege» Chervet, nimmt hierfür Boxunterricht bei Charly Bühler an der Kochergasse 4. Direkt gegenüber, im Fumoir des Hotel Bellevue, finden wir uns später in dieser kalten Nacht zwischen neureichen Zigarrenrauchern und knappen Röckchen wieder. «Ich bin wohl disparat geworden», lacht Francesco. Die Gründung eines eigenen Kellertheaters in Burgdorf Ende der 1970er Jahre, sagt er, sei wohl eine Art Abwehrreaktion auf das an ihn herangetragene ausschliessliche Schriftstellerdasein gewesen. Vielleicht hätte er es wie so viele andere Italiener eher in Hollywood versuchen sollen, sage ich. Francesco schaut mich prüfend an, um dann bedeutungsschwanger zu fragen: «Tarantino oder Leone?»
«Leone», sage ich. «Vor allem wegen Morricone.» Von seinem Eggerbier bleibt ein kleiner Schaumbart zurück, als er laut lachend das Glas absetzen muss. «Wir werden Freunde!», ruft er, zündet sich eine weitere «Fred» an und referiert über italoamerikanische Schauspieler wie Joe Pesci, John Travolta und John Turturro.
Das Disparate ist geblieben, dennoch ist Francesco Micieli heute vor allem eines: Schriftsteller. Er erhält noch immer Leserbriefe von Migranten, die seine einfach-einprägsamen Texte in Schweizer Deutschkursen – in denen afrikanische Königssöhne neben brasilianischen Tänzerinnen sitzen – lesen und sich darin wiederfinden. Damit hat er Lützelflüh wohl einen grösseren Dienst erwiesen als seine weit berühmteren Ex-Landsleute ihrer Wahlheimat Los Angeles.