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Nacht des Monats mit Erwin Beyeler
Erwin Beyeler, fotografiert von Vojin Saša Vukadinović.

Nacht des Monats mit Erwin Beyeler

Vojin Saša Vukadinović steigt mit Erwin Beyeler auf den Hagenturm.

Einer der Irrtümer, der sich schweizweit von Schaffhausen hält, ist die Annahme, dass es hier nur wenig zu sehen gäbe, weil die Region nicht mit dem weltberühmten Panorama mithalten könne, das die Alpen böten. Geologisch handelt es sich bei der Gegend allerdings um einen Jura-Ausläufer, dessen Gebirge sehr wohl eine hervorragende Sicht in die Ferne erlaubt. Das gilt insbesondere für den Randen, die höchste Erhebung des nördlichsten Kantons.

Erwin Beyeler kennt sich dort bestens aus, denn der Krimiautor sucht seit seiner Jugend regelmässig diese Stelle auf: «Zuerst mit meinen Eltern, dann auf eigene Faust», erinnert er sich, als wir zu einer Abendwanderung in luftige Höhen aufbrechen. Ziel ist der Hagenturm, ein über der Gemeinde Merishausen gelegener Aussichtsturm aus Stahl, der Ende der 1980er-Jahre errichtet wurde und 40 Meter hinaufragt. Auf der Karte wirkt die Route, die von dem kleinen Ort hochführt, recht komfortabel. Der Eindruck ist jedoch trügerisch – der Weg schlängelt sich kon­stant empor und korrigiert en passant den Irrtum, das Schaffhauserland sei vergleichsweise unspektakulär. Zwischen den Baumgruppen fällt der Blick bereits auf die Täler der Umgebung und erfasst Meter um Meter mehr von der Landschaft.

Beyeler ist in Neuhausen aufgewachsen und lebt seit 45 Jahren in Schaffhausen, das er als seine Schweizer Lieblingsstadt bezeichnet. Auf der Strasse wird der ehemalige Bundesanwalt erkannt, neu auch in seiner Funktion als Schriftsteller. «Ich habe schon immer viel gelesen und mochte den Umgang mit Sprache», berichtet er über seinen Karrierewechsel, den ihm die Pensionierung ermöglicht hat. «Mein Traumberuf war eigentlich Journalist», erzählt er – es sei dann aber für lange Zeit ganz anders gekommen, bis er nun zum Schreiben gefunden habe. Sein aktueller Roman «Kreuzer» ist 2022 bei Loco erschienen, dem auf ortsansässige Schriftsteller spezialisierten Verlag von Anne Seiterle. Selbstverständlich spielt die Handlung in Schaffhausen und in der näheren Umgebung. Neben der Rhybadi tauchen unter anderem das Schloss Laufen und der Rheinfall auf: «Man muss als lokaler Autor nur ein bisschen aufpassen, wie sehr man ins Detail geht. Jeder kennt hier jeden.»

An unserem Ziel angekommen, ist nochmals Einsatz gefragt, denn der Hagenturm hat mehr als 200 Treppenstufen. Typisch Schweiz: Betreten auf eigene Gefahr. Wer sich aus anderer Motivation denn aus Lust an der Aussicht hierherbegibt, wird per Hinweistafel ermahnt, «Die Dargebotene Hand» anzurufen. Als wir uns auf einer Ebene mit den Baumkronen befinden, zeigt sich bereits, dass das hier nichts für Leute mit Höhenangst ist. Oben angekommen, werden wir mit einem grandiosen Rundblick beschenkt. Der Himmel leuchtet im Abendrot.

«Das Randenhorn ist ein Ort der Kraft», sagt Beyeler nachdenklich, während uns der Wind bereits kräftiger umbläst: «Die Stille ist wunderbar. Und bei jeder Tageszeit gibt es hier ein anderes Licht. Das hier ist ein Teil der Heimat.» Für einen Gesamteindruck schreiten wir die Aussichtsplattform kreisförmig ab. Wo Deutschland ist, verraten selbstredend die Windräder in der Landschaft. Dahinter ist der Untersee zu bewundern, der linke Zipfel des Bodensees. «Schauen Sie, die Insel Reichenau», werde ich instruiert. 90 Grad nach Süden gewandt, reicht der Blick bei klarem Himmel indes bis zu den Nidwaldner Alpen. Und nochmals gut 90 Grad weiter fällt er auf das munter vor sich herdampfende AKW Leibstadt. Das Von-Deutschland-umringt-Sein dieses Stücks Schweiz hat bekanntlich Tücken. Wir kommen auf den Zweiten Weltkrieg zu sprechen, gerade wegen der geografischen Lage des Kantons ein heikles Thema. «Schaffhausen wäre im Falle eines deutschen Angriffs nicht verteidigt worden», weiss Beyeler, «alle hatten damals Angst. Ich habe oft mit meinen Eltern darüber gesprochen».

Nach Sonnenuntergang wird es rasch kalt. Wir steigen ab. All die Stunden und Kilometer ist uns nicht eine einzige andere Person begegnet; ein bisschen macht es den Eindruck, als sei die Gegend nicht nur das Ende der Schweiz, sondern der Welt. Dafür tauchen in der Dunkelheit plötzlich Rehe auf, eins nach dem anderen, dann immer mehr. Sie bleiben stehen und schauen uns direkt an, als wären sie erstaunt darüber, an diesem Ort überhaupt Menschen anzutreffen. Tatsächlich ist es noch ein ganzes Stück bis Schaffhausen. Dort verabschiedet sich Beyeler, und man merkt, wie viel ihm an seiner Stadt liegt: «Eine unterschätzte Attraktion.»

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