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Nacht des Monats mit  Christoph Geiser
Christoph Geiser, fotografiert von Vojin Saša Vukadinović.

Nacht des Monats mit
Christoph Geiser

Vojin Saša Vukadinović lässt sich von Christoph Geiser das einst verwegene Bern zeigen.

Wer Christoph Geiser in Bern besuchen möchte, macht zunächst auf der Bundeshausterrasse Station, bevor es den Hang hinab geht ins Marziliquartier, wo der Schriftsteller seit Jahrzehnten lebt. Dort, in seiner von Büchern und Kunst geprägten Wohnung, empfängt er mich zuvorkommend und zugewandt, und unser erstes Gesprächsthema sind die drei grossen «B», zwischen denen er räumlich changiert: Basel, Bern und Berlin.

«Basel ist meine Vaterstadt, Bern ist die Stadt meiner Mütter», erklärt er zu den beiden ersten Stationen, «Basel heisst für mich die spröde Zeit von Schule und Erziehung, Bern ist die Stadt der Erotik. In Basel war ich nichts anderes als ein Kind, in Bern wurde ich erwachsen.» Hinzu kam in den letzten Jahren noch die deutsche Hauptstadt, in die er sich mittlerweile phasenweise zurückzieht. Tatsächlich finden wir unmittelbar vor einem längeren Berlin-Aufenthalt zusammen, Geiser hat bereits gepackt.

Ein Anlass für unsere Zusammenkunft ist, dass eine von Moritz Wagner und Julian Reidy herausgegebene Werkausgabe das Œuvre des Autors endlich in gebührendem Masse würdigt; soeben sind die Romane «Wüstenfahrt» und «Das geheime Fieber» erschienen, die in den 1980er-Jahren erstveröffentlicht wurden. Titel wie diese geben bereits Hinweise auf Geisers bürgerliche Herkunft und die zugehörigen Konflikte, in denen Sexualität immer eine besondere Rolle einnahm. Allerdings ist hier hervorzuheben, dass deren Verarbeitung stets Literatur von universeller Qualität hervorbrachte und keineswegs nur für jene Sparte des Buchmarktes gedacht war, die den Identitätsmarker «schwul» bedient.

Wir unterhalten uns über Prosa und Provokation, der Name Guido Bachmann fällt rasch. Geiser holt die Erstausgabe von «Gilgamesch» aus dem Regal, den Skandalroman seines Schriftstellerkollegen, der 1966 in einem westdeutschen Verlag erschien. Diesem ist eine Bemerkung vorangestellt, die einiges über die Bundesrepublik vor der Revolte von ’68 verrät: «Der Eigentümer dieses Buchs hat sich verpflichtet, den Band verschlossen aufzubewahren und Jugendlichen nicht zugänglich zu machen. Er wird den Band ausserdem weder privat noch gewerblich ausleihen.» Dass die Schweiz zeitgleich nicht unbedingt aufgeschlossener war, ist 2021 anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums des Frauenstimmrechts ins allgemeine Bewusstsein zurückgekehrt. Geiser wiederum verbüsste 1970 eine mehrmonatige Haftstrafe wegen Dienstverweigerung.

Bald darauf folgten exzessive Zeiten. «Der Hit des schwulen Bern in den Siebziger- und Achtzigerjahren war der Ursus-Club am unteren Ende der Junkerngasse in der Altstadt», erinnert er sich, «ein Keller im Erdinneren. An den Wochenenden gerammelt voll, ohne Dresscode, alle Generationen durcheinander, und aus Fribourg bis Zürich.» In «Wüstenfahrt» hatte er diesem Ort ein «kleines Denkmälchen» gesetzt und führt aus: «Machte der Club dicht, ich glaube um ein Uhr früh, dann traf man sich auf dem ‹Ölberg› wieder, im Zustande der Notgeilheit.»

Da besagter «Ölberg» vor der Haustür liegt, will ich mir eine Führung durch dieses sexualhistorisch bedeutsame Areal nicht entgehen lassen. Wir nehmen die Marzilibahn hinauf, und auf der Europapromenade angekommen, wo einst vergleichsweise ungefährlich gecruist wurde, wird Geiser dann konkret: «Das hier war der Ort meiner Initiation. Auf dem Ölberg fand ich meinen ersten Sex, 1969.» Heute erinnert nichts mehr an die einstige Verwegenheit. Hier, vor der Haustür der Regierung, ist es sauber, grün und aufgeräumt – auch eine Allegorie auf die Schweiz der Gegenwart. Allenfalls ein paar Jugendliche lassen sich blicken, aus deren Nähe eine sanfte Grasschwade zu uns hinüberweht.

Wir spazieren noch eine Weile durch die Altstadt und sprechen über Vergänglichkeit wie Bleibendes. «Wenn ich nicht mehr schreibe, bin ich tot», bekundet Geiser. Plötzlich hält er an und weist mich auf etwas hin, das ich übersehen hatte: «Schauen Sie, hier ist das Robert-Walser-Forschungszentrum. So unscheinbar, wie der Autor zeitlebens wirkte, ist auch die Einrichtung, die ihm gewidmet ist.»

Wir kehren noch in ein Thai-Restaurant ein und sind dort bereits die letzten Gäste. Wie gut, dass Berns wilde Zeiten wenigstens in Geisers Werk erfahrbar geblieben sind.

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