Nacht des Monats mit Adolf Muschg
Zwei-, vielleicht dreimal im Jahr trage ich Hosenträger. Aus nostalgisch-modischen Gründen – oder nach Weihnachten, wenn der Gürtel etwas eng sitzt. Religiöser Gruppenzwang aber scheidet als Motiv zum Fixieren der Hose an den Schultern aus. Frau Muschg kann das nicht wissen, als sie aus dem Fenster im ersten Stock ihres Hauses lugt. Und Chefredaktor Scheu, der vor einer Minute die Klingel gedrückt hat, weiss nicht, dass er mit seinem weissen Hemd und dem schwarzen Blazer in ihr den Verdacht geweckt hat, ein Abgesandter der Zeugen Jehovas zu sein. Ein Zeuge überdies, der auch noch einen Jünger aus dem Lager der Amish mitgebracht hat, mit Vollbart und Hosenträgern. Mich. Wir beide erscheinen als die perfekte Combo zweier christlicher Splittergruppen, die zwischen Geranienkästen an der Zürcher Goldküste verlorene Seelen vor dem Jüngsten Gericht retten wollen. Adolf Muschgs Frau, so viel ist klar, ist nicht gewillt, heute von uns gerettet zu werden. Sie lässt uns erst mal draussen warten.
«Meine Herren», sagt Adolf Muschg augenzwinkernd, als das Missverständnis um unser Erscheinen und unsere Erscheinung ausgeräumt ist und er sich mit uns an seinem Gartentisch niederlässt, «in meinem Alter setzt sich zwar die Erkenntnis durch, dass jedes neue Buch auch das letzte sein kann – um mein Seelenheil kümmere ich mich aber nicht im Türrahmen.» Wir lachen, die Stimmung ist ausgelassen. Und statt den sieben Schalen des Zorns werden Wasser und Tonic gereicht. Trotzdem beleben die Themen Spiritualität und Tod unser diskursives Beisammensein: Muschg erzählt von seinem neuen Roman, in dem er seinen «Sutter» – den tragischen Helden aus seinem 2001 erschienenen Roman «Sutters Glück», der sich, wir erinnern uns, einen Rucksack voller Steine schulternd, im Silsersee ertränkt – reanimiert. Übrigens buchstäblich. «Sutter hat noch etwas zu erleben, wie mir scheint. Heute, 12 Jahre danach.»
Gestern erst, sagt Muschg, habe er sich wieder einmal mit den Kollegen Bichsel, Widmer und einigen anderen getroffen, um aus dem noch unfertigen Manuskript zu lesen. Eines hätten sie mit Sutter gemeinsam: Nach und nach verschwänden auch sie alle, diese Kollegen vom alten Schlag. Und danach? Muschg schaut in die Runde. Was kommt danach? «Auch wenn es immer problematisch ist, in dieses elend kulturkritische Horn zu blasen: aber was nachkommt, das sind wohl die Leute, die nur noch abrufen. Google. Wikipedia. Die nichts mehr behalten müssen, kein eigenes Erfahrungsreservoir mehr aufbauen. Die auch, die deshalb glauben, Erlebnis sei Erfahrung.»
Und Erfahrungen, sagt Muschg, kann man sich nicht kaufen. Sie widerfahren uns, niemand kann sich dagegen wehren oder versichern. Das habe man wohl vergessen, in der Schweiz wie überall im «sogenannten Westen». Übertriebene gesellschaftliche Ängste und das Hochziehen von Zäunen zur Absicherung habe das zur Folge, vom Badi-Verbot in Bremgarten bis zum NSA-Skandal. Was dagegen helfe, frage ich. Muschg wedelt mit einem Buch, das auf dem Tisch liegt. «Konfuzius!» sagt er und lächelt freundlich. «Freiheit ist anstrengend. Denn sie bedingt, dass Fehler passieren. Aber: nur so lernen wir dazu. Wir sollten uns und anderen also die Freiheit nicht verbauen.»
Beim Gesellschaftsliberalismus haben wir uns also gefunden. Und wenn der im kommenden Jahr 80 werdende Autor daraufhin von seinem Tagesablauf spricht, so dürften sogar einige seiner SP-Parteigenossen des Arbeiterflügels hellhörig werden. Die Öffnungszeiten der Schweizer Tankstellen sind nämlich ein Witz dagegen: Von morgens um sechs bis mittags um zwölf schreibt er, dann isst er mit seiner Frau. Am Nachmittag um vier geht es weiter, diese Session dauert nicht selten bis nachts um eins.
Unsere ungekürzte Unterhaltung lesen Sie hier; sie dauerte am Ende fast drei Stunden. Will Muschg heute also sein Schreibpensum einhalten, denke ich auf der Rückfahrt entlang des eindunkelnden Sees, so muss er mindestens bis um vier in der Früh schreiben. Wenn nicht nochmal jemand klingelt. Und um die Öffnung von Schriftstellertür und -seele bittet.