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Nacht des Monats am Piz Bernina

Nacht des Monats am Piz Bernina
Piz Bernina, photographiert von Claudia Mäder.

Nummer 56 hat wunderhübsche Hinterhufe. Mattschwarz umschliessen sie zwei kahle Steckenbeinchen, die sich in spitzem Winkel vom Boden absetzen, den ganzen kugelrunden Körper grazil in die Höhe treiben und alsbald in fernem Gewölk verschwinden. Es folgt Nummer 57. Ein ausgesprochenes Schafsgesicht: platte Nase, krauses Haar, sympathisch lange Ohren. Abgelöst aber von Nummer 58, noch ehe eine physiognomische Analyse näheren Aufschluss über das dahinter verborgene Wesen hätte geben können. Im hohen dreistelligen Bereich gebe ich das wollige Zählen auf und taste nach harten Fakten. Wasserflasche. Stirnlampe. Haargummi. Irgendwo, ich weiss es genau, liegt die verdammte Uhr! Taschentücher. Ohropax. Unglaube: 22:34.

Mit den Hühnern ins Bett, um Schafe zu zählen – es gibt nur einen Grund, das freiwillig zu tun. Ich schäle mich aus einer Gemengelage von zwei vermutlich seit Sommerbeginn ungewaschenen Laken, einer per se verfilzten Wolldecke und einem vermeintlich sterilen Seidenschlafsack, klettere ungesichert aufs erste Bettenplateau runter und steige, meine übersäuerten Oberschenkel verfluchend, ins Untergeschoss ab. Das Licht meiner Lampe fällt auf eine Wand voll Eispickel und einige Wanderschuhe; ich nutze die Gelegenheit und zerknülle den herumliegenden Wetterbericht, um das Zeitungspapier zu unterstützen, das in meinen Schuhen steckt – Gore-Tex hält viel aus, aber keinen Schweizer Sommer –, bevor ich in einem Paar zu grosser Hüttencrocs nach draussen in den Schnee tapse. Erhaben zeichnet sich dort am Nachthimmel die Bernina ab, bewacht von einem wolkenverschluckten Sternenheer lässt sie einige feine Flocken auf sich niedergehen, und ich befürchte, mit dem Klappern meiner Zähne den Zauber ihrer stillen Regentschaft zu brechen.

Als hätte er eine Motorsäge verschluckt. Zurück unter meinen Schichten versuche ich mir die wunderlichen Geräusche unseres Zimmernachbarn zu erklären und liege reglos auf meiner Pritsche, sanft geschüttelt nur vom taktlosen Vibrieren des seligen Schnarchers. Müde von drei durchwanderten Tagen und zwei durchwachten Nächten warte ich auf den Schlaf, suche Hilfe bei weiteren Schafen, neuen Liegepositionen, schönen Gedanken und lande doch immer wieder nur beim Neid. Wie gerne würde ich dem sägenden Österreicher folgen! Ins Land der Träume! Oder doch mindestens bald an den Frühstückstisch! Und alsdann auf den Berg der Schönheit! In vier Stunden schon wird er mit seinem Kameraden aufbrechen und via Biancograt auf die Bernina steigen. Für uns Frauen freilich ist das nichts. Mild lächelnd hat er das erkannt, als wir in der fast leeren Tschiervahütte am Kanister voll Marschtee hantierten und uns schon an dieser leichten Tätigkeit die Finger verbrannten. Freilich hat der Mann ganz recht. Für einen ausgedehnten Gratspaziergang bei Neuschnee und mässigen Aussichten ist uns Damen die Luft zu dünn. Wir bleiben tiefer und ergo länger liegen.

In fünfeinhalb Stunden erst wird der erlösende Wecker klingeln. Ich hasche Hufe, horche auf das Atmen meiner beiden Freundinnen, erkenne plötzlich, dass Schafe auf Klauen gehen, höre die Kühnen um drei ihr Kraftmüesli verschlingen, spüre die fiebrige Vorfreude des Aufbruchs, zähle die Zacken meiner Steigeisen, sehne mich nach dem beruhigenden Duft von heissem Kaffee, gehe Rucksackinhalte und Sicherungsknoten durch, versuche mich an die Vorzüge der kanadischen Spaltenrettungstechnik zu erinnern, schlafe selbst darob nicht ein und weiss, dass nun nichts mehr nützen wird. Um halb fünf endlich ist die Marter vorüber und Zeit, mit ein paar Schlucken die Lebensgeister zu wecken und den Tag anzupacken.

Von einigen Höhenmetern und stundenlanger Höchstkonzentration ermattet und behaglich in die grandiose Gebirgslandschaft gebettet, nicke ich am frühen Nachmittag auf der Hüttenterrasse ein und hänge der majestätischen Ruhe des Morteratsch nach, doch der Traum währt nur kurz. Als wäre eine Motorsäge nicht genug, bemüht der Kammernachbar nun die Rotorblätter: Zu erschöpft, den steilen Grat bis zum Ende zu gehen, lassen sich die verhofften Herren über die Bernina per Rega auf festen Boden zurückfliegen. Grosszügig blicken wir bei ihrer Ankunft zur Seite, über die Unzulänglichkeiten der männlichen Selbsteinschätzung hinweg, und stossen mit einem mittleren Bier auf unseren kleinen Piz an.

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