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Nacht des Monats  mit Curdin Orlik
Curdin Orlik auf dem Niesen vor der Kulisse des Thunersees, fotografiert von Vojin Saša Vukadinovic´.

Nacht des Monats
mit Curdin Orlik

Vojin Saša Vukadinović speist mit Curdin Orlik auf dem Niesen.

Curdin Orlik ist nicht zu übersehen. An diesem Abend liegt das jedoch weniger an seiner sportiven Statur als an seinem einnehmenden Lächeln: Er strahlt über das ganze Gesicht, als wir uns in Mülenen im Kandertal treffen. Verabredet sind wir zum Abend­essen auf dem Niesen, für das er nach Feierabend aus Thun angefahren kommt.

Der 1993 geborene Schwinger, der mit seinem Bruder Armon zu den bekanntesten Vertretern des Schweizer ­Nationalsports zählt, nimmt seit 2005 an Wettkämpfen teil. Alle vier Söhne der Familie sind von klein auf sportbegeistert gewesen. Noch als Kind habe er von Judo zum Schwingen gewechselt, berichtet er, als wir die Standseilbahn besteigen. Während wir aufwärtsfahren, erwähnt er en passant, den 2362 Meter hohen Niesen bereits zu Fuss erklommen zu haben: «Das ist aber lang her.» Wir steigen auf halber Strecke um, und insbesondere auf der zweiten Hälfte der Fahrt ist der Blick nach unten nichts für Leute, die nicht schwindelfrei sind. Orlik bekommt derweil leuchtende Augen, als er vom Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest erzählt, das alle drei Jahre stattfindet, zuletzt diesen Sommer in Pratteln, das erste Mal überhaupt im ­Baselbiet. Die Niesenbahn wackelt, doch Orlik macht den Eindruck, als brächte ihn nichts aus der Fassung. Was an einem Wettkampf das Schönste sei? «Der Nervenkitzel ­davor und natürlich der Kampf selber», bekundet der ­Spitzensportler, der studierter Agronom ist.

Nach dem Ausstieg geht es zunächst ein paar Schritte weiter hinauf in Richtung Bergspitze. Die Aussicht bei Dämmerung ist nach allen Seiten hin fabelhaft, unter uns liegt Thun, und wir geniessen den herrlichen Blick auf die Berner Alpen mit Eiger, Mönch und Jungfrau. Orlik posiert mit sehr viel Selbstvertrauen vor der Kamera, Vorbeigehende witzeln, wie gut er es mache. Vielen Menschen aus der Gegend ist der gebürtige Bündner kein Unbekannter, schliesslich lebt er schon einige Jahre in der Region und arbeitet beim landwirtschaftlichen Verband IP Suisse. Das allerdings in Teilzeit, denn er trainiert acht- bis zehnmal pro Woche. Dazwischen gibt es mehrmals Massage für ihn, zielgenau, der Therapeut wisse schon, wo es nottue. Ob er hier im Kanton Bern etwas vermisst? «Meine Familie! Aber zum Glück sind es ja nur circa zweieinhalb Stunden bis ins Bündnerland. Und meine Eltern kommen auch manchmal zu mir nach Thun.»

Auf dem Gipfel angekommen, wird Orlik dann persönlich. Als er 2020 öffentlich machte, gleichgeschlechtlich zu lieben, war dieser Schritt mit immensen Risiken verbunden, wie er rückblickend einräumt. Allerdings bescherte ihm das Outing viel Anerkennung, und er bereut nichts. Auf die Frage, ob es besonders schöne Reaktionen gegeben habe, antwortet er: «Da gibt es so viele. Ich kann mich nicht für eine entscheiden.» Seitdem findet er sich in doppelter Vorbildfunktion wieder.

Beim Abendessen im Bergrestaurant sprechen wir darüber, warum es ihm andere homosexuelle Schwinger, die es mit Sicherheit gibt, bislang nicht nachmachten – einzig der frühere Kranzfestsieger Enrico Matossi trat diesbezüglich an die Öffentlichkeit, wohlgemerkt hervorhebend, dass er sich derlei während seiner aktiven Karriere nie getraut hätte. Und auch wenn der Basketballer Marco Lehmann denselben Schritt wagte, fragen wir uns, ob der Umstand, dass jede Sportart ihr eigenes Publikum hat, jeweils anders herausfordert. Beachtlich erscheint Orlik jedenfalls, dass er im Traditionssport Schwingen solchen Zuspruch erfährt. Das Thema Homosexualität interessiert ihn allerdings auch über die Schweiz hinaus. Er ist durchaus ein politischer Mensch: Die Fussball-WM in Katar sieht er kritisch, die Situation im Iran und das Afghanistan der Taliban machen ihn wütend.

Im Laufe des Abends wird Orlik mehrfach erkannt und angesprochen. Thema ist dabei stets der Sport, nie das Persönliche. Dass im Restaurant ausgerechnet am Nebentisch Leute sitzen, die ihn erkennen, ist zwar unserer eigenen Gesprächssituation etwas abträglich, doch die zurückhaltenden Respektsbekundungen, die ihm entgegengebracht werden, bezeugen, dass er vieles richtig gemacht hat.

Es ist längst dunkel, und wir fahren wieder bergab. ­Unten angekommen, nimmt mich Orlik freundlicherweise bis nach Thun mit. «Ich habe noch viel vor», sagt er zum ­Abschied und lächelt. Sein kräftiger Händedruck verrät, wie ernst er es meint.

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