Nacht des Monats
mit Toni Vescoli
Lukas Leuzinger spielt Gitarre mit Toni Vescoli.
Toni Vescoli ist sichtlich berührt. «Die Bäume stehen immer noch!», ruft er mit strahlenden Augen. Unter diesen Bäumen, an einem Waldrand oberhalb von Küsnacht am Zürichsee, hat er vor 64 Jahren als Teenager erstmals Gitarre gespielt. Anfang der 1960er-Jahre zog die Familie weg, das Haus, hinter dem er musizierte, wurde abgerissen, seither war Vescoli nie mehr hier. Umso mehr freut ihn, wieder dorthin zurückzukommen, wo alles angefangen hat. Das Ehepaar, das inzwischen hier wohnt, freut sich über den Besuch des prominenten früheren Bewohners, gewährt uns bereitwillig Zutritt zum Grundstück und versorgt uns an diesem sommerlichen Tag mit kühlen Getränken. Ein Selfie als Dank ist für Vescoli Ehrensache.
Von Küsnacht aus fuhr der gelernte Hochbauzeichner regelmässig mit dem Bus zum Zürcher Bellevue, wo sich der «Schwarze Ring» befand. «Das Lokal war ein Schmelztiegel der Gesellschaft: Vom halbstarken Jugendlichen bis zum Banker trafen sich alle dort.» Im «Schwarzen Ring» hatte Vescoli auch seine ersten eigenen Auftritte, bevor er 1962 Les Sauterelles gründete. Die Band, im Volksmund «Swiss Beatles» genannt, stürmte mit Hits wie «Heavenly Club» die Charts und füllte Konzertsäle im In- und Ausland. «Wir hatten über Jahre fast jeden Abend einen Auftritt, manchmal auch mehrere», erinnert er sich.
Nachdem sich die Sauterelles 1970 aufgelöst hatten – im selben Jahr wie die Beatles –, startete Vescoli eine Solokarriere und wurde zu einem der Erfinder des Mundartrocks. Der Wechsel zur eigenen Muttersprache ging ihm allerdings nicht leicht von der Zunge. «Ich beneide die Amerikaner, bei denen alles irgendwie automatisch cool tönt», sagt er. Das Schweizerdeutsche wirke dagegen eher bieder. «Ich hatte grosse Mühe, über meinen eigenen Schatten zu springen.» Auch für die Zuhörer war die Musik in ihrer eigenen Sprache gewöhnungsbedürftig. Vescoli erinnert sich, wie er an einem Konzert zum ersten Mal ein schweizerdeutsches Lied ankündigte. Ein Raunen ging durchs Publikum, jemand stiess sogar einen Jodelruf aus.
Zu den ersten Liedern Vescolis auf Schweizerdeutsch gehört «Susann», gewissermassen der Soundtrack zum Stadt-Land-Graben. Der Song handelt von einem Mädchen, das von der Stadt träumt und das am Ende der Liebe wegen zurück aufs Land ziehen sollte. Vescoli fühlt sich ebenfalls auf dem Land wohl. Als Musiker sei man fast immer in Städten. «Als Ausgleich schätze ich die Ruhe auf dem Land.» Er lebt mit seiner Frau in Wald im Zürcher Oberland. Der Name passt zum Musiker, der sich schon als Kind gerne im Wald austobte. Er zeigt mir das Tobel, in das er früher hinabstieg, den Bach staute und stundenlang vor Fuchshöhlen wartete, bis sich ein junges Füchslein zeigte. Noch heute geht Vescoli fast täglich in den Wald. «Er beruhigt mich», sagt er, «hier fühle ich mich geborgen.» Der Wald steht auch am Ursprung seines zweiten Standbeins: Fast zwanzig Jahre lang restaurierte er in seinem «Antikschöpfli» alte Möbel.
Auch in seiner Musik ist Vescoli vielseitig. Von Rock und Pop ging er in Richtung Folk, bevor er Blues und Country für sich entdeckte. Eine Inspiration waren stets die USA; Bob Dylan und Elvis gehören zu seinen Vorbildern. Das Land fasziniert ihn bis heute. «Die USA wurden von Auswanderern gegründet, von Leuten, die nichts zu verlieren hatten – das spiegelt sich in der Mentalität. Die Amerikaner sind abenteuerlustig, manchmal aber auch einfach Spinner.»
Am 18. Juli wird Vescoli 80. «Ich hätte nicht gedacht, dass ich in diesem Alter noch Konzerte spiele», sagt er. 30 bis 40 Auftritte pro Jahr gab er, ehe ihm Corona einen Strich durch die Rechnung machte. Während der Pandemie wurden manche seiner Konzerte dreimal angesetzt und wieder abgesagt. «Diese Zeit hat mich ein wenig fatalistisch gemacht – und gelassener.»
Um fit zu bleiben, spielt Vescoli in Wochen ohne Auftritte sein ganzes Programm in seinem Proberaum. Daneben macht er Krafttraining. Ans Aufhören denkt er nicht. «Ich habe in meinem Leben immer das gemacht, was ich wollte.» Wer tue, was ihm Freude mache, müsse nicht arbeiten. «Ich habe nie gearbeitet, obwohl ich immer chrampfte wie ein Verrückter.»