Nacht des Monats
mit Philipp Tingler
Vojin Saša Vukadinović wird von Philipp Tingler in schnellen Kunstgenuss eingeführt.
Die Zusammenkunft mit Philipp Tingler beginnt mit einem unfreiwilligen Suchspiel. Das Kunsthaus Zürich verfügt nunmehr über zwei sich gegenüberliegende Gebäude, und für unsere Verabredung habe ich mich unüberlegt vor den altehrwürdigen Eingang gestellt. Kurz nach 19 Uhr erreicht mich eine E-Mail: «Lieber Herr V, ich bin da, wo sind Sie?» Mein Fehler, denn die Yoko-Ono-Ausstellung «This Room Moves at the Same Speed as the Clouds», die wir uns ansehen möchten, wird im Neubau gezeigt. Wir finden im neuen Foyer zueinander.
Tingler, Schriftsteller und Literaturkritiker, hat sich oft und ausführlich zu Fragen des guten Benehmens geäussert. Dass er pünktlich ist und Pünktlichkeit erwartet, zeigt, wie ernst er es damit meint. Selbstredend siezt er, und dennoch handelt es sich bei ihm um alles andere als eine zugeknöpfte Erscheinung. «Ich brauche selten länger als 15 Minuten für Ausstellungen», erwidert er treffsicher, als wir an der Kasse daran erinnert werden, dass das Haus um 20 Uhr schliesse. Er flitzt voran, die kommende Viertelstunde sehen wir uns kaum. Onos Mitmachkunst hält das Publikum unter anderem dazu an, kaputte Tassen zusammenzufügen oder der eigenen Mutter eine Nachricht an einer eigens dafür hergerichteten Zettelwand zu hinterlassen. Irgendwo liegt ein Stapel Visitenkarten aus, die mitgenommen werden sollen. Auf ihnen steht lediglich «Space Transformer», was möglicherweise eine gute Wendung bekommt, wenn man daraus ein Lesezeichen macht.
Nach der Runde durch die Räumlichkeiten treffen wir uns wieder. Tinglers Urteil: «Das ist eine der Ausstellungen, deren Erlebnis davon profitiert, wenn man sie relativ zügig durchläuft.» Tatsächlich beeindruckt uns die Treppe im Neubau mehr. Sie ist äusserst breit und wirkt zumindest jetzt, wenn es keinen Besucherandrang mehr gibt, auch einladend. Wir verweilen einen Moment und schauen auf den Garten, hinter dem eine Mensa der Universität Zürich liegt. «Kennen Sie noch die historische Fernsehsendung 1000 Meisterwerke, in der jede Folge ein Kunstwerk vorgestellt hat?», fragt Tingler. «Die begann stets mit einer Aufnahme von dieser schönen Treppe im Louvre, wo oben die Nike steht, und das hier erinnert mich daran.»
Anschliessend schreiten wir hinaus. Ziel ist das Restaurant Chiffon, das um die Ecke vom Kunsthaus gelegen ist. Auf dem Weg dorthin richtet Tingler plötzlich eine ganze Menge Fragen an mich. Er möchte wissen, wie ich mich als Teilnehmer öffentlicher Kontroversen sehe; für die Dauer von 250 Metern macht es den Eindruck, als ob ich es wäre, der interviewt würde. Als wir im Lokal Platz nehmen, gilt unsere Unterhaltung seiner Rolle im Kulturbetrieb. Dieser hat sich in den letzten Jahren merklich dem gesellschaftlichen Trend zu gefühlsduseliger Gemütlichkeit angepasst. Abzulesen ist dies etwa an der Beliebtheit von Begriffen wie «Identität» und «Authentizität», deren hyperinflationären Gebrauch Tingler ausdrücklich kritisiert. Das macht ihn zu einer wohltuenden Ausnahmeerscheinung, denn Formate, an denen er beteiligt ist, laufen nicht Gefahr, sich in Konsensrunden zu verwandeln. Dass in den vergangenen beiden Jahrzehnten eine Menge Unsinn über ihn geschrieben worden ist, er immer wieder als abgehoben oder gar frech bezeichnet wurde, hat auch damit zu tun, dass er Betriebsamkeit Harmonie vorzieht, wo unverblümte Widerrede vonnöten ist. Es ist unverkennbar, dass ihm Prosa sehr viel bedeutet. «Literatur sollte eine Tür sein, kein Spiegel», betont er freundlich, aber bestimmt. Das ist die vortrefflichste Formulierung, die ich in dieser Angelegenheit seit langem vernommen habe, und ein bündiger Einwand, den man parat haben sollte, wenn der nächste Roman auf dem Schreibtisch liegt, der nicht wegen literarischer Qualität, sondern primär wegen unveräusserlicher Merkmale des Autors veröffentlicht worden ist.
Es ist dunkel und noch immer zu kalt, um draussen zu verweilen. Höflich begleitet mich Tingler zur Haltestelle. Ich mache rasch noch ein Bild von ihm, während der Bus bereits auf uns zufährt: «Sehen Sie, wie bestellt!», sagt er galant, während ich hineinspringe, mich schnell noch von ihm verabschiedend.