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Nacht des Monats mit 21 Kreditkarteninhabern

Nacht des Monats mit 21 Kreditkarteninhabern
Glattbrugg by night, photographiert von Claudia Mäder.

Es ist klirrend kalt, denke ich, und frage mich sogleich weshalb. Nein, von Meteorologie verstehe ich nichts, doch von Worten – auch ewig zu wenig. Angestrengtes Lauschen bringt mich nicht weiter, nichts bricht, die Stille ist total. Nur eine «Cobra» schleicht vorbei, lautlos, hinterhältig. Dämlich. Ob des Sinnierens habe ich das Tram verpasst und muss nun zu Fuss durch die Zürcher Agglo; Mondscheinspaziergang in der Anflugschneise. Bald birst denn auch der Himmel, und während sich droben Schweisshände in Armlehnen krallen, fingern die meinen trocken nach der Eintrittskarte für die Dernière meiner persönlichen nächtlichen Freakshow

Seit acht Jahren öffnen sich deren Tore dreimal monatlich: Bei einem Kreditkartenherausgeber bearbeite ich zwischen 22.30 und 07.00 Uhr Betrugsverdachtsfälle, informiere Karteninhaber über potentiell missbräuchliche Buchungen und nehme die Anrufe jener entgegen, denen die Sorge um die Karte die Ruhe raubt. Ein Relikt aus der Studentenzeit, folgt der Job einem simplen Tauschprinzip: Wacher Kopf gegen gutes Geld. Ging diese Rechnung mit 25 spielend auf, gleicht sie heute einer Herkulesaufgabe: Wie schnurgerade Strassen breiten sich die Nächte vor mir aus, endlos einem unerreichbaren Morgen entgegenstrebend.

Für Pathos ist freilich kein Platz im Grossraumbüro. Wo schon bei Schichtbeginn 26 Verdachtsfälle auf dem Tisch und zwei Menschen in der Telephonschlaufe warten, helfen nur Kaffee und Schokolade. Beides werde ich bis 7 Uhr in Mengen konsumiert und dazu 111 Transaktionen auf Plausibilität geprüft sowie 21 Anrufe beantwortet haben. Der erste kommt aus New York, wo Frau S. durch den Übereifer unseres Frühwarnsystems beim Shopping behindert und zornig wurde. Ich entschuldige mich artig, empfehle laut die Anschaffung einer Zweitkarte, leise jene eines Stimmungsausgleichers, und klicke die Sperre auf, die dem Glück im Weg stand.

Der Damm ist gebrochen. In Wil kann Herr M. einfach nicht glauben, dass jemand mit einer Kopie seiner Karte durch mexikanische Restaurants tingelt; ich meinerseits glaube nicht, dass sich Marta Z. Bodybuilding-Präparate im Internet bestellt, halte dagegen die Zahlungen von Herrn F. im Etablissement Pascha-Passion mit Blick auf sein mittleres Alter und seine hohe Ausgabefreudigkeit für sehr plausibel – wie auch immer verzerrt, spiegelt mein Bildschirm fremde Leben; als Detektiv bewege ich mich darin, wie Sisyphos fühle ich mich dabei. Noch ehe ich entscheiden könnte, ob mich das zu einem glücklichen Menschen macht, ruft Monsieur R. an und klingt wie Joe Dassin. Ich hoffe, dass er das innere Kichern nicht hört, das mich beim Gedanken an seinen Gesang schüttelt, oder es für das «Lächeln in der Stimme» hält, das mir mein Arbeitgeber in unzähligen Telephonierkursen anzutrainieren versuchte.

Pausenlos sperre, entsperre, entschuldige und erkläre ich weiter, stosse auf ungefähr gleich viel Ärger wie Trunkenheit, und bei Mr. G. auf Liebeskummer. Als auch er nach 20 Minuten guten Zuhörens erkennt, dass sich Probleme am ehesten im Traum lösen, wache ich scheinbar allein auf der Welt, selbst der Betrug ruht, niedergeschlagen, er wie ich, beginnt der Kampf gegen den Schlaf. Rastlos hangle ich durchs Netz, suche irgendetwas, was mich die Kurve kriegen lässt auf der schrecklichen Geraden, und lande kurz nach 4 im Grimmschen Wörterbuch: Wenn nichts mehr hilft, geben Worte Halt. Vorige Woche war ich bis zum «Stechapfelextrakt» vorgedrungen, heute bewege ich mich zurück ins «Geklirre», finde aber auch mit Hilfe der guten Brüder nicht heraus, was Kälte laut macht. Lenau, lerne ich, schrieb von Eis, das an Pferdemähnen klirrte, doch halte ich mich am Schluss an die «Süddeutsche Zeitung», der zufolge die moderne Tieftemperaturphysik die Geräuschfähigkeit der Kälte widerlegt hat.

Alles ist entzaubert, die Nacht nichts als Mühsal. Die Uhr läuft im Kreis, dass es vorwärts geht, glaube ich erst, als das erste Flugzeug zu hören ist. Zwei Entschuldigungen später entlässt mich die Frühschicht in den Sonntagmorgen, der auf der Hardbrücke mit einigen Ausgängern aufwartet; wesentlich jünger, aber erheblich verlebter wanken sie wie ich. Nur bleibt mir die Hoffnung, mich nach dem Fall schmerzfrei aus dem Bett zu erheben.

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