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Nacht des Monats in Zeiten von Corona
Samstagabend in Zürich, fotografiert von Jannik Belser.

Nacht des Monats in Zeiten von Corona

Jannik Belser im ungewohnt leeren Zürich.

 

Willkommen im «Lockdown light» des Frühlings 2020! Wer kann, soll unbedingt zu Hause bleiben. Versammlungen von mehr als fünf Personen sind verboten, der Zweimeterabstand ist strikte einzuhalten. Für so viele, die gerne einander nah sind, ist Social Distancing schon jetzt das Unwort des Jahres, es fällt ihnen zu Hause die Decke auf den Kopf. Doch kommt nun auch noch die Ausgangssperre? «Wir warten jetzt erst mal dieses Wochenende ab», droht Daniel Koch vom BAG. Ich will es wissen: Bewaffnet mit Notizblock, Kamera und Desinfektionsmittel wage ich mich am Samstagabend im April ins Hochrisikogebiet der Stadt Zürich.

In der Abendsonne spaziere ich ums abgesperrte Seebecken. Ein Leben in Freiheit, wie ging das schon wieder? Einige wenige Pärchen geniessen den romantischen Sonnenuntergang. Auf dem Sechseläutenplatz setze ich mich zu drei jungen Erwachsenen, die unter Berücksichtigung der Abstandsregel auf dem Boden sitzen und Bier (Corona, notabene) trinken. Ja, die Lage sei ernst, doch die Sonne will man sich einfach nicht entgehen lassen. Vereinzelte Passanten teilen diesen Eindruck, grössere Menschenansammlungen sind aber keine zu sehen. Einsam auf einer Parkbank sitzt eine junge Frau, die sich mit herabgesenktem Blick und einer Büroschere in der Hand die Haarspitzen schneidet. Im Zürcher Niederdorf, wo an gewöhnlichen Wochenenden reges Treiben herrscht, finde ich nur gähnende Leere. Wo sonst diskutiert, gelacht, getrunken und gejohlt wird, zwitschern heute nur die Vögel. Schwierig, sehr schwierig sei momentan das Geschäft hier, meint der Besitzer eines kleinen Lebensmittelgeschäfts. Weiterhin geöffnet haben auch einige Kioskbetriebe mit einer Verkaufslizenz für CBD-Gras. Cannabis muss systemrelevant sein! Wegen Kundenmangel lungern viele Ladenbesitzer aus Langeweile vor ihren Läden herum, rauchen und plaudern miteinander – eine Szenerie, die man sonst eher an einem orientalischen Basar findet. So kenne ich Zürich gar nicht! Auch der Hauptbahnhof ist ganz anders, als ich ihn in Erinnerung habe: «Völlig ausgestorben», bestätigen zwei Securitas auf Patrouille meinen Eindruck. Sie seien mittlerweile ausschliesslich mit der Durchsetzung der Coronamassnahmen beschäftigt. Etwas anderes gebe es gar nicht zu tun.

Kurz vor 21 Uhr bestelle ich ein Uber-Taxi zur Hardbrücke – vielleicht steigt ja dort die Coronaparty. Selbst die App rät mir: «Bleibe lieber zu Hause.» – Ich muss schmunzeln, hat sich doch der Uber-Aktienkurs seit Februar halbiert. Mein Fahrer hat Covid-19 bereits hinter sich: Sein Arzt fand beim Schnelltest die Antikörper im Blut. «Weisst du, wie geschockt ich da war? Ich habe es nicht mal gemerkt! Ich bin übergewichtig und rauche, gespürt habe ich rein gar nichts! Keine Symptome!» Gesundheitlich also alles wieder unter Kontrolle, bei der Arbeit das Gegenteil: Seit 11 Uhr sitzt der junge Mann am Steuer und wartet vergeblich auf Aufträge, ich bin erst sein zweiter Kunde heute. So lange Arbeitszeiten … «Wenn der Staat das wüsste, wäre ich am Arsch!» Doch etwas anderes bleibe ihm kaum übrig, er müsse sich ja schliesslich über Wasser halten. Am Tag, nachdem der Bund die «ausserordentliche Lage» ausgerufen hatte, sackte sein Tagesumsatz von stolzen 580 Franken auf schlappe 20. «Das war eine Vollbremse! Nein, schlimmer noch: Das war mit Vollgas in die Wand!» Anspruch auf die staatliche Entschädigung bei Erwerbsausfällen habe er als selbständiger Uber-Fahrer nicht, er muss also weiterarbeiten und hoffen, dass sich die Auftragslage bald wieder normalisiert.

Um 22 Uhr mache ich mich auf den Heimweg, denn spätere Nachtzüge fahren ja schliesslich in Zeiten von Corona keine mehr. Der Wagen ist nur spärlich gefüllt, es ist mucksmäuschenstill. Fazit des Abends: Trotz angenehmstem Frühlingswetter sind die Städter zu Hause geblieben. «Der grosse Teil der Bevölkerung hat sich an die Regeln gehalten», sagte ein Sprecher der Kantonspolizei dem «Tages-Anzeiger». Test bestanden, wir liegen nach wie vor im tiefen Dornröschenschlaf. Und müssen aufpassen, dass wir bis zum Aufwachen die Freiheit nicht verlernt haben.

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