«Munotwächterin» – was für ein romantischer Titel, denke ich, zu Schaffhausens Wahrzeichen hochblickend, dem die Abendsonne ausgesprochen gut steht. Zur Festung gelange ich von der Altstadt her über ein Treppchen mitten im Rebberg, zur Zinne über einen Wendelgang, in den durch schmale Scharten das letzte Tageslicht fällt. Als Karola Lüthi mir im legeren Flanellpulli entgegenkommt, ist es bereits zu spät: in meiner Phantasie hat sich eine imaginäre Munotwächterin samt Schleierkranz und Hellebarde eingenistet.
Karola Lüthi führt als erste Frau ein Amt, das lückenlos bis ins 16. Jahrhundert belegt ist. Für die frühen Inhaber bedeutete es in erster Linie: nach Feuern, Feinden und Handelsschiffen Ausschau halten. Den Posten verlassen durften sie sonntags zum Kirchgang und alle zwei Wochen für einen Abstecher ins Badehaus. Eine Arbeit, der man mit Leib und Seele nachging also, dafür einzigartig. Das sei auch heute noch so, sagt Lüthi, allerdings widme sie ihre Zeit vornehmlich den Besuchern aus aller Welt. Daneben gebe es allerlei zu organisieren, zu reparieren und zu putzen. Wie wäre es mit einem Kaffee, schlägt sie vor und führt mich eine winzige und – ich übertreibe nicht – endlose Wendeltreppe hinauf in die Turmwohnung. So viele Gänge, Treppen, Stiegen, Brücken, japse ich in der letzten Kurve – liefert der Pöstler bis vor die Wohnungstür? Manchmal lasse ein verwirrter Lieferbote sein Päckchen vor einem der Häuser unten in der Altstadt liegen, erzählt die Wächterin gutgelaunt.
Unter dem Dachstock befindet sich auch das Munotglöcklein, das sie jeden Abend um 9 Uhr von Hand läutet. Die Schaffhauser hängen an ihren Traditionen: «Es gibt keine andere Stadt, die jemanden einstellt, um eine Glocke zu läuten», sagt die Wächterin, und ich meine fast, sie blinzelt nun selber etwas romantisch zum Seil hinüber, das zwischen den Dachbalken baumelt. Im Hochsommer veranstaltet Lüthi bis zu drei Führungen täglich, aber auch während der ruhigeren Wintermonate lässt das Glöcklein die Tage ausklingen: «Wenn die anderen Weihnachten feiern, sind wir hier.» In der verblüffend geräumigen Turmwohnung lebt sie gemeinsam mit ihrem Mann, der sie unterstützt und für die Damhirschkolonie im Burggraben sorgt. Deren Leithirsch, auch das eine Schaffhauser Tradition, trägt jeweils den Vornamen des amtierenden Stadtpräsidenten. An den Kälbern, erfahre ich, haben die Kinder unter den Besuchern die grösste Freude. Jemandem, der wie ich in Schaffhausen aufgewachsen ist, leuchtet das sofort ein. Am meisten beeindruckt hat mich aber doch der Geheimgang, in den man jeweils am Munotfest hinabsteigen durfte. Was verdient man wohl als Hüterin all dieser Schätze? «Deiner Putzfrau würdest du mehr bezahlen», sagt Lüthi nachdenklich, «vor allem Ruhm und Ehre» ergänzt ihr Mann elegant.
Früher, erzähle ich den beiden, hat es auch noch eine Stadtlegende gegeben, der zufolge bis heute nicht alle Gänge entdeckt worden seien. Die Wächterin lacht auf. Das höre sie von unzähligen Schaffhausern! Es sei wirklich interessant: Generationen von Kindern habe diese unterirdische Anlage anscheinend tief beeindruckt. Und dass ein weiterer Geheimgang zur Festung führe, dieses Gerücht sei einfach nicht totzukriegen. «Ich lasse es lebendig», sagt sie verschwörerisch. Ihr Mann wirft ein: tatsächlich sei ein Teil der Kasematten durch eine Mauer abgetrennt und unzugänglich, obwohl man von aussen ein Fenster erkenne. Merkwürdig sei das schon. Ob doch noch nicht alle Geheimnisse gelüftet sind? Auf den Heimweg mache ich mich über die Brücke auf der gegenüberliegenden Seite des Munots. Immer wieder lehne ich mich ans Geländer und versuche, in den Schatten des Burggrabens einen Hirsch zu entdecken. Was ich stattdessen entdecke, ist ein kleines vermauertes Tor in einer Wehrmauer. Sie reicht beinahe bis zum Fusse des Hügels – stehe ich vielleicht vor dem Ursprung der Geheimganglegende? Den Kindern von Schaffhausen, hoffe ich, bleibt sie noch lange erhalten.