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Nacht des Monats mit Dieter Müller und Klaus-Dieter Sterl

Nacht des Monats mit Dieter Müller und Klaus-Dieter Sterl

16.35 Uhr. Dunkel. Es ist immer dunkel. 2000 Meter tief im Herzen der Alpen herrscht ewige Schwärze und Hitze. Obwohl die Sonne hier nie scheint, fast 40 Grad. Der leichte, nach Staub und Schmiermittel riechende Luftzug kühlt nicht. Nein, er gart. Auch der Boden ist eigentlich nicht Boden, sondern Wand. Prähistorische, düster strahlende Wand, von einem Stahlmonster zerrissen, kieselnd wiederaufgelesen und mit Wasser und Zement zu Boden gepresst. Er ist nun trocken, fest und trägt ein nächstes 500 Meter langes Stahlmonster, 1600 Tonnen schwer, bestehend aus der Lokomotive «Trudy» und ihrer Schwester, dazwischen Waggons, gefüllt mit Granulat, Zement und Wasser.

Herr über 15 Granulatwaggons, 3 Zementwaggons und einen 60000-Liter-Wasserwaggon ist Dieter Müller. «Erstwohnsitz Berlin Alexanderplatz», sagt der Mann mit Schnurrbart, während er an einer Konsole die richtige Mischung der Komponenten bestimmt. Er macht Beton. Seit 30 Jahren. Auf der ganzen Welt. Nun betoniert er das Gleisbett der Weströhre des neuen Gotthardbasistunnels. Seine sechs Quadratmeter grosse Betonschaltzentrale hängt, notdürftig vom Lärm der draussen brüllenden Maschinen abgeschottet, rumpelnd, rappelnd und vibrierend, aber immerhin theoretisch korrekt klimatisiert, fast am Ende des Betonzugs. Wo hier eigentlich die Schweizer sind, will ich wissen. Dieter lächelt zweideutig. «Von den 200 Männern unter Tage haben vielleicht zehn einen Schweizer Pass», weiss er. Er greift zum Funkgerät, kommuniziert mit dem tatsächlichen Ende des Zugs. Dort sind zwei Dutzend Arbeiter damit beschäftigt, seinen frischen Beton gleichmässig zu verteilen. Mit Spachteln, Schaufeln und Pinseln knien sie hier. Den ganzen Tag. Italiener, Deutsche, Österreicher.

Es klopft an der Tür der Betonschaltzentrale. Ein stämmiger Dresdener kommt herein, der sich in seinem orangenen Overall eine der raren Wasserflaschen aus der Ecke angelt. Als er mitbekommt, dass die Presse da ist, erklärt er kurz, zack zack, warum er sich hier gerne die Hände schmutzig mache: «Vor zwei Wochen habe ich mir einen Mustang gekauft. Nagelneu. In Deutschland hätte ich mir das auch nach 20 Jahren Beton, Staub und Hitze nicht leisten können.» Dieter schmeisst eine Runde frischen Kaffee aus seiner Maschine. Er freue sich auf Berlin, sagt er. «Wenn wir nach der Schicht hier raus sind, hänge ich meinen Helm auf, gehe duschen und fahre noch die 1000 Kilometer zu meiner Frau. Für 5 Tage, dann geht’s wieder zurück.» Die Tür springt erneut auf. Klaus-Dieter Sterl, nun der vierte Deutsche im Wagen und Herr über «Trudy», die Lok, zieht seinen gelben Helm ab und grüsst freundlich. Ihn habe die Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern unter den Berg getrieben, sagt der Lokführer aus Güstrow. «Dieter und ich, wir sind Gewinner der deutschen Einheit. Ohne sie würden wir irgendwo im Osten in unseren Klitschen sitzen.» Über Köln und Amsterdam hat ihn der Tunnelbau zunächst zum Lötschberg gebracht. Da haben sich die beiden vor Jahren kennengelernt, und auch «Trudy» war schon mit dabei: «4000 PS hat die Kleine. Und sie braucht trotzdem fast 4 Kilometer, um den Betonzug auf 40 km/h zu beschleunigen.»

Am Gotthard arbeiten die drei bis Ende 2013 zusammen. Dieter und Klaus-Dieter treffen sich täglich in der schaukelnden Kabine, um gegen Abend, den man hier nur an der Uhr abliest, gemeinsam Kaffee zu trinken. «Im Tunnelbau sieht man sich immer wieder…», philosophiert der Mischmeister. «Aber nach dem Gotthardbasistunnel ist Schluss!», meint der Lokführer. Sein Wochenendhaus warte. Er wird bald pensioniert.

Kurz vor 22 Uhr stellt Dieter die Maschine ab. Dann ist es leise in der Röhre: Förderbänder, Pumpen und Mischer schweigen für wenige Stunden. Dieter und ich setzen unsere Helme auf, gemeinsam gehen wir den Zug entlang, ins 500 Meter entfernte Führerhaus, wo Klaus-Dieter schon alles für die Ausfahrt parat macht. Auf dem Tacho liegt ein Buch von Theodor Storm. Rotierende gelbe Warnlichter am ganzen Zug zeigen die Abfahrt an. Dann brummt «Trudy» auf, setzt sich in Bewegung in Richtung Frischluft. Es dauert 45 Minuten, bis der kühlende Regen des Reusstals auf die Windschutzscheibe prasselt. Die Schweiz, denke ich, lässt mal wieder ihren grössten Mythos untergraben.

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