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Redaktionsretraite auf der
Capanna d’Efra

Redaktionsretraite auf der  Capanna d’Efra
Rasiva, Monte Zucchero und Corona di Redorta im Gegenlicht des Sonnenuntergangs über der Capanna d’Efra, photographiert von Michael Wiederstein.

Steine. Flechten. Noch mehr Steine. Trockenes Gras. Kraut. Weiter unten das Glitzern eines Bergsees, etwas Wind. Als am frühen Nachmittag das Flattern der Fahne, die wir schon während des mehrstündigen Aufstiegs vom Talboden aus sehen konnten, endlich auch zu hören ist, haben wir die Capanna dʼEfra beinahe erreicht. Mehrere Stunden, einige Wasserfallbecken, viele Schweisstropfen weiter unten sind wir in Frasco aus dem Postbus gestiegen, um für einige Tage unseren Handynetzen, Bildschirmen, Produktionsplänen und Familien den Rücken zu kehren – und in Ruhe nachzudenken. «Redaktionsretraite» nennt sich diese Art der produktiven Weltflucht beim «Monat», die liebevolleren Beschreibungen während des Aufstiegs – «Schinderei», «Unsinn», «Verrücktheit» – passen aber auch nicht schlecht.

Der alljährliche Ausflug der Redaktion hat Tradition, wurde aber bis anhin vornehmlich mit Bus und Bahn ins Appenzell, ins Sihltal oder in den Kanton Glarus unternommen. Dass der ÖV uns diesmal zwar 3 Stunden unterstützen würde, dies aber zeitlich überschaubarer sein sollte als der anschliessende «Gewaltmarsch» (noch so ein Wort, das irgendwo zwischen Alpe d’Efra und Lago d’Efra fiel), war dann doch ein Novum. Erstmals war die Teilnahme deshalb freigestellt, die Kolleginnen und Kollegen Kühni, Jung, Romero, Grob und Szyndler aber signalisierten schnell ihre Wanderbereitschaft, boten sogar an, Wein in die Selbstversorgerhütte hinaufzutragen – manch Tessiner Merlot muss auch nach 1200 Aufstiegsmetern offenbar nicht sein.

Bald brannte im Ofen ein Feuer, die Schlafsäcke waren ausgerollt, auf dem Granittisch vor der Hütte sammelten sich die ersten Notizen. Blasenpflaster wurden aufgeklebt, das Gesicht nochmals eingerieben, die Steinbänke mit Wolldecken ausgelegt. Wir studierten zum Aufwärmen die neusten Layoutentwürfe aus Luzern, glichen sie mit den Meinungen aus der öffentlichen Blattkritik der letzten neun Monate ab, bestimmten Änderungen der Heftdramaturgie. Über die Schultern schauten uns die Gipfel des Scaiee, der Cima di Gagnone, des Madone Grosso und der Cima d’Efra, Gipfelnamen, die dem Chefredaktor geläufig sind, weil er vorhat, bei einem potenziellen künftigen Einbürgerungstest – «Nennen Sie drei Schweizer Berggipfel!» – für einmal die Beamten zu prüfen.

Nicht jede und jeden könne man hier hinauf mitnehmen, sagt er. Es sei gut, dass die Wege steil, die Ortsnamen der verlassenen Alpen unaussprechlich, die Wetterwechsel tückisch, die Hütten meist einsam und nur nach langen Märschen erreichbar seien. Denn auf diesem Weg (und diesen Wegen) komme man in den Genuss von wahrem Luxus: keine SAC-Grossküchen, keine Push-Nachrichten, keine 30köpfigen Wandergruppen aus dem Rheintal, kein Feldschlösschen. Nur Steine. Flechten. Ruhe. Ja, tatsächlich: Hier oben kann man über das Wort Dichtestress nur leise schmunzeln, hier verkehren sich beim Anblick der höchstgelegenen, längst aufgegebenen Alpstallungen auf Mazèr alle politischen Besserwissereien zur Migration in eine Andacht über die jahrhundertelang zur Auswanderung motivierenden Greuel des Lebens in den Tessiner Bergen. Hier oben ist es nicht schwierig, die Dinge anders, die Dinge neu zu sehen. Der vergessene Krimskrams in den Nischen, der improvisierte Schürhaken am Ofen, das Hüttenbuch: überall Geschichten, die du dir nur denken kannst – aber auch wieder einmal denken willst, spätestens wenn sie dir aus den Regalen quasi vor die Füsse fallen.

Kollegin Kühni hat nun Risotto gekocht. Die Butter für drei Tage und eine Flasche Wein sind draufgegangen, aber es hat sich gelohnt. Kollegin Jung hat sich eine Zigarette gedreht, die gelbe Mütze aufgesetzt und – «Grazie per non fumare» – rasch die Hütte verlassen. Draussen ist es kalt geworden. Kollege Grob geht die Traktandenliste noch einmal durch, fasst zusammen, wohin die Reise 2018 inhaltlich gehen soll. Kollegin Romero, die bald die Produktion übernehmen wird, stösst darob einen herzhaften Lacher aus. Kollege Szyndler schraubt demonstrativ die Bialetti zu, stellt sie auf den alten Holzofen: «So. Feierabend.» «Danke», sagt der Chefredaktor.

Dann herrscht, zum ersten Mal seit unserer Ankunft, tatsächlich Ruhe. Draussen, zum Glück nur leise: das Flattern einer Fahne. Steine. Flechten. Noch mehr Steine. Trockenes Gras. Kraut. Und Sterne.

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