Nacht des Monats mit Frédéric Zwicker
Zum ersten Mal begegneten wir uns an einem verregneten Freitagabend vor etwa fünf Jahren, anlässlich einer Feierlichkeit, die Kollege Rittmeyer traditionell einmal jährlich in einem Appenzeller Bauernhaus abhält. Frédéric sass auf dem Türsims etwas abseits der tanzenden Menge und trank in Ruhe sein Bier. Als ich mich dazusetzte, stellte er sich als «Zwieback» vor. «Franz Zwieback». Frédéric ist ein Typ, dem man das zunächst einfach abnimmt – ohne mit der Wimper zu zucken.
Zwicker, wie Frédéric tatsächlich heisst, strahlt eine fast unnatürliche Authentizität aus, egal ob man ihn beim Trinken und Nachdenken stört oder auf der Bühne mit seiner Band «Knuts Koffer» beobachtet. Vier Alben hat das Ensemble seit seiner Gründung im Jahr 2006 aufgenommen. Die heutige Besetzung besteht aus Texter, Frontmann, Gitarrist und Geiger Zwicker, einem Teilzeitlehrer, einem Profischlagzeuger und einem «Pianisten und Korrektor». Es begeistert tausende Fans – und das, obschon «Knuts Koffer» bis heute eine Art Rapperswil-Jona-Underground-Projekt ist, dessen Musik abseits des Radios spielt. «Schon die Texte sind zu unbequem», lacht Zwicker, als wir uns in Rapperswil vor dem «Bären» treffen.
Tatsächlich: wer einmal das Glück hatte, einem Konzert der Band beizuwohnen, wird bestätigen, dass es Derartiges in der Schweiz nicht noch einmal gibt. In einem Moment können diese Lieder zum Schreien komisch sein, im nächsten schon wieder himmeltraurig. Sie erörtern die tragische pawlowsche Konditionierung eines Beinahe-Alkoholabstinenzlers und Biobauern – «Toni» –, sind seltener dezidiert politisch – «Drum sägi Nei» –, aber immer von einem ironischen Raunen begleitet. Dialekt und Lokalkolorit sorgen für die Erdung teils philosophisch imprägnierter Texte, ohne anbiedernd zu wirken, man merkt jedem einzelnen Stück die vorangegangene Arbeit beinahe physisch an. «Leidenschaftliche Text-Musik-Ehe», so nennt Frédéric das Prinzip.
Der Mann hinter der Bar des «Bären» hat Frédéric hier auch schon mit Journalisten gesehen, er scherzt über den «Promikult». Allerdings: Zwicker ist keine typische, mit dem eigenen Anspruch kokettierende Lokalgrösse, sondern einer, dessen Selbstvertrauen dank kleinerer Erfolge angemessen langsam gewachsen ist – ein Künstler, dessen Authentizität sich aus dem gelungenen Spagat zwischen intellektuellem Anspruch und tatsächlicher Realitätsveränderung speist. «Ich musste vor Jahren einsehen, dass ich viel Geduld brauchen werde», sagt er lachend, als wir das nächste Bier bestellen und ausser uns nur noch ein müder Taxifahrer im Raum sitzt. Bereits als Jugendlicher veröffentlichte er Kurzgeschichten, leistete dann Zivildienst in der Altenpflege, war in der Poetry-Slam-Community tätig, testete als Redaktor Bulldozer für ein Baubranchenmagazin und baute obendrein ein Hostel in Uganda mit auf. Heute engagiert er sich in Rapperswil, wo er wieder wohnt, vernetzt die lokalen Kulturschaffenden und freut sich, dass der «Drain» vieler Jugendlicher in Richtung Zürich sich zumindest verlangsamt. «Seit meiner Rückkehr merke ich, wie sehr mir das Mitgestalten im Kleinräumigen liegt.»
Manchmal treibt sein Machen-Drang auch absurde Blüten: zu Beginn seiner Musikerkarriere kannte Zwicker kaum drei Gitarrenakkorde. «Mein Gastvater während eines Austauschs in Australien hat mir ein paar Griffe beigebracht», sagt er. Für die Proben der bald darauf neu zusammengestellten Band schrieb er also jedes Mal ein neues Stück, das er übte, damit niemand merkte, dass er gar nicht Gitarre spielen konnte – und wurde so zum Bandleader. Im August erscheint nun sein Debütroman «Hier können Sie im Kreis gehen» beim Zürcher Verlag Nagel & Kimche. Keine weitere überflüssige Autobiographie aus der Schweizer Musikszene: das Buch verarbeitet indirekt Zwickers einprägsame Erfahrungen während des Zivildienstes im Pflegeheim. Zum Finalisieren des bereits 2009 begonnenen Manuskripts kehrte er kürzlich noch einmal für zwei Monate ins Heim zurück – tagsüber half er im Betrieb, lauschte bei Personal und Betreuten, nachts schrieb er in einer kleinen Kammer gegenüber dem Heim neue Dialoge und Szenen. Machen und denken – nicht nur eins von beidem: der Zwicker denkt, der Zwieback macht. Und beide hausen in diesem einen Schelm aus Jona, der sich nun fröhlich von mir verabschiedet und dann, nach einigem Fingerschnipsen, in einer der Altstadtgassen Rapperswils verschwindet.