Nacht des Monats
mit Joel Sames
Regen skypt in Strömen auf die Hafenstadt Grande-Synthe an der französischen Ärmelkanalküste. In einer Senke liegt hier ein Flüchtlingslager, das für seine hygienischen Verhältnisse europaweit berüchtigt ist. Über 3000 Flüchtlinge, zumeist Kurden aus dem Irak, der Türkei, Iran oder Syrien, leben hier. Und warten darauf, dass es weitergeht. Oder dass ihr Traum von England endet.
«Am schlimmsten sind die Wochenenden!», sagt Joel Sames von der Basler Aktion Rastplatz.ch, als er mich per Handykamera durch die Feldküche führt. «Das Wochenende ist die Stunde der Spontanhelfer. Sie tauchen unangemeldet auf, stellen eine Palette Toastbrot in den Schlamm und verduften. Dumm nur, dass hier keiner Toastbrot isst.» Andere bringen Teigwaren – die ebenfalls keiner isst! – und reagieren bestenfalls eingeschnappt auf die Ablehnung ihrer Hilfe. Im schlimmsten Fall fühlen sie sich in ihren karitativen und religiösen Regungen angegriffen und werden ausfallend.
Es ist Samstagnacht, darum ist der vordere Teil der Rastplatz-Küche relativ leer. Sonst werden hier Tausende Teller Reis verteilt und es wird gallonenweise Tee ausgeschenkt. Die Küche ist Community Center, Anlaufstelle und improvisiertes Konzertlokal in einem. Betrieben wird sie von gegen zwanzig Leuten. Genau weiss Joel es nicht, da die Abläufe chaotisch sind, immer mal wieder andere Leute dazukommen oder neue Kooperationen entstehen. Es geht eben um Hilfe «mit einer Prise Anarchie», wie er sagt. Alles andere als chaotisch und anarchistisch sind die dafür nötige Logistik, die Schichtpläne, die Web-Spendenaufrufe und die erforderlichen Bestellungen: Nahrungs- und Entlausungsmittel, Geschirr, Besteck und kleine Alltagsfreuden wie Farbstifte für Kinder. Oder eine Wohnung als Rastplatz fürs Team, für Auszeiten.
Im hinteren Bereich des Zeltes wird getrommelt, gesungen, geklatscht und gelacht. Es scheppert aus meinem Laptop, die Speaker versagen – und doch spüre ich die Lebensfreude. «Für solche Momente lohnt sich das alles, gell?», suggeriere ich. – «Ja, ja, schon klar», meint er etwas gelangweilt. «Mir muss keiner ein Kränzchen winden. Mein grosses Engagement macht mir auch Spass. Klar, ich will helfen. Und natürlich finde ich es angesichts der schlimmen Lage absolut notwendig, etwas zu tun. Ich geniesse es aber auch sehr, meine Freiheiten, die ich mir als freischaffender Fotograf erarbeite, für diesen Zweck einsetzen zu können.»
Gegen Mitternacht gehen wir spazieren. Ich kriege zu sehen, was man an Openairs sieht, knöcheltiefen Schlamm und abgewrackte Zelte, Feuer in der Nacht, Schatten hinter flammenden Zeltwänden und Taschenlampen im Wald. Menschen sehe ich bis auf Schemen keine. Joel lebt schon zu lange hier mit ihnen, um sie mit meinen voyeuristischen Wünschen zu behelligen. Was es zu sehen gäbe, will ungesehen bleiben. Die Gendarmerie hat ja die Einfuhr von Baumaterial, Schlafsäcken, Zelten und Feuerholz verboten. Mitte Januar will der Staat ein neues, umzäuntes Lager eröffnen. Bis dahin soll sich das bestehende tunlichst nicht mehr vergrössern. Zwar hängt es von den Polizisten ab, wie streng dieses Verbot gehandhabt wird. So richtig aber kommen die Freiwilligen nur vom Fleck, wenn sie Holz, Zelte und Blachen selbst ins Lager schmuggeln. «Damit nehmt ihr dem Staat eine Aufgabe ab, die er selbst erledigen muss», wende ich ein. – «Stimmt», seufzt Joel. «Das ist unvermeidlich. Es dauert sonst viel zu lange, bis was getan wird.» Die Ungeduld einer neuen Generation freiwilliger Helfer, im Web organisiert und viral verbreitet, ist deutlich zu hören, schlechter Empfang hin oder her.
Zurück in der Rastplatz-Küche entdecke ich in einer Ecke meines Bildschirms ein auffallend sauberes Paar Turnschuhe. Sie leuchten fast. «Die sind für einen Flüchtling abgegeben worden, der sein Glück bei den LKW versuchen will.» Saubere Turnschuhe sind eine heisse Ware hier: mit vollgematschten Moonboots kann man weder die Zäune zur Autobahn überwinden noch schnell genug rennen, um auf einen der Richtung Folkestone fahrenden LKW zu klettern. Wer die Flucht schafft, behält die Schuhe. Wer scheitert, putzt sie und gibt sie weiter. Mobility Shoe Sharing: zwei Turnschuhe als Symbole für Flucht und Freiheitsliebe. Sie sind besser gepflegt als meine eigenen.