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Nach Mossul

Fotoreportage von Alex Kühni

Nach Mossul
Bombardierung einer ISIS-Stellung im Norden Iraks, 2015, photographiert von Alex Kühni.

Es war 2014, als in der Al-Nuri-Moschee das «Kalifat des Islamischen Staates» ausgerufen wurde. In diesem Moment beschloss Alex Kühni, gerade in Kambodscha, nach Mossul zu reisen – sobald dies möglich sein würde.

Es dauerte, bis er sich eingelesen und alle Papiere beieinander hatte – und im August 2015 erstmals im Nordirak eintraf. Sechsmal hat Kühni seither den Weg auf sich genommen, mit jedem Mal kam er der «Hochburg des IS» ein Stück näher.Als er seine ersten Touren mit den Peschmerga, den Streitkräften der Autonomen Region Kurdistan, unternimmt, sieht er nicht viel mehr als Schützengräben, die weit entfernten Staubwolken der Luftangriffe und alte sowjetische Panzer. Kühni ist enttäuscht: gerade mal 40 Kilometer entfernt liegt die multiethnische und multireligiöse Millionenstadt, die er nur aus Büchern kennt, ihrem Schicksal aber seine Arbeit widmet und von der er nichtweiss, wie viel von ihr überhaupt noch steht.  

Kühni weiss: es ist kein Zufall, dass das «Kalifat» in Mossul ausgerufen wurde. Der Zuspruch zum «IS» kommt nicht von ungefähr: «Die Religion ist nur das Vehikel, eine Kategorisierung», erklärt er in den Gesprächen, die wir zur vorliegenden Fotoreportage führen, «aber der Treiber ist die Armut. Werden die sozialen Probleme in Mossul nicht gelöst, wird Frieden auch künftig kaum möglich sein.» Kühni sagt, er wolle die «Befreiung» Mossuls bis zum Ende der militärischen Grossoffensive – seit Herbst 2016 tobt die «Schlacht um Mossul» – begleiten, zeichnet aber die Anführungszeichen schon in die Luft, wenn er von der «befreiten» Stadt spricht. Denn Mossul wird ein umkämpftes Pflaster bleiben, mit oder ohne IS. Warum setzt er sich der Gefahr aus und reist an Orte, wo er an Leib und Leben bedroht ist? Kühni beruft sich auf die Statistik: «Ich verbringe gut 30 Tage pro Jahr im Kriegsgebiet, die Bewohner dieser Regionen 365.»

Auf den folgenden Seiten berichtet Alex Kühni in seinen Bildern von diesem Krieg und erzählt von seinen Begegnungen und Erlebnissen. Die Drastik des Geschehens und seiner visuellen Berichterstattung nimmt zu, je näher Kühni der Stadt kommt. Es ist im Sinne des Fotografen wie in unserem, dies zu zeigen.

Serena Jung
Bildredaktorin und Produzentin

Vorher – nachher

Ostmossul, Al-Muthanna-Quartier,
11. April 2017

Vor dem «Sturm auf Mossul», der im Oktober 2016 begann, kannte ich die einstige Millionenstadt nur im Umriss oder erahnte sie anhand der Lichter weit in der Ferne. Es gab nur spärliche Informationen darüber, wie das Leben der rund 800 000 Zivilisten unter IS-Herrschaft aussehen mochte. Seit Beginn der Grossoffensive konnte ich nun mehrere Wochen mit irakischen Truppen und Spezialkräften in umkämpften und befreiten Quartieren der Stadt verbringen. Was ich dort sah? Die Gewalt des Krieges frisst sich wie ein Feuer von Strasse zu Strasse und von Haus zu Haus. IS-Kämpfer werden getötet, ihre schwarz-weissen Fahnen mit irakischen ersetzt.

Zurück bleiben die handfesten Zeugnisse der Besetzung wie die Mauern der Kindergärten und Schulen, die auch im Irak oft mit Figuren aus Kinderbüchern von Disney und Co. geschmückt worden sind. Unter IS-Herrschaft dann waren westliche Einflüsse verboten, die Figuren wurden aber nicht gänzlich entfernt, sondern nur die Gesichter mahnend mit schwarzer Farbe übermalt.

 

 

 

Kriegs-Recycling

Khazer Frontlinie, 30 km östlich von Mossul,
6. August 2015

Das Thermometer in der Wüste irgendwo zwischen der kurdischen Grossstadt Erbil und dem vom IS besetzten Mossul zeigt 55 Grad Celsius. Der sandfarbene Panzer des kurdischen Majors Hassan stammt noch aus dem Kalten Krieg. Das massive 100-mm-Geschütz des russischen Stahlkolosses, Modell T-55, zeigt in Richtung einer Häusergruppe, über der dünner, schwarzer Rauch aufsteigt. Bevor er vor gut 25 Jahren in die Hände kurdischer Rebellen fiel, wurde dieser T-55 noch von Saddam Husseins Truppen gegen die Kurden selbst gerichtet, um ihren Aufstand im März 1991 niederzuschlagen. Kurz nach der irakischen Niederlage im Zweiten Golfkrieg hatten sie die Autonomieregion Kurdistan im Norden des Landes ausgerufen.

 

 

 

Pulverisiert

Sindschar, 108 km westlich von Mossul,
29. Dezember 2015

Ich begleite den jesidischen Scheich Nasir auf seinem täglichen Kontrollgang durch eine Mondlandschaft, die erst bei genauerer Betrachtung als Stadt zu erkennen ist. Nasir geht immer ein paar Schritte vor mir her. «Zu deiner Sicherheit», meint er. Zwei Vororte von Sindschar sind noch immer vom IS besetzt und die Gefahr von zurückgebliebenen Heckenschützen besteht. Links und rechts des improvisierten Gehwegs, der sich durch die einstige Einkaufs-strasse Sindschars schlängelt, liegen skelettierte Überreste von IS-Kämpfern. Die unzähligen Luftanschläge haben alles pulverisiert. Es scheint, als hätte eine riesige Mühle alles zu feinem Staub zermahlen – ein Mix aus organischem und anorganischem Material.

«Früher war ich Politiker. Das Geld, das ich dabei auf die Seite legen konnte, ermöglichte es, meine Familie nach Schweden reisen zu lassen, wo ihnen Asyl gewährt wurde», erzählt mir Nasir. «Politiker braucht dieser Ort nicht mehr, nur noch Kämpfer.» Er deutet auf sein fabrikneues, russisches Scharfschützengewehr. Er erklärt, dass er hier bleiben müsse, wenn er den Titel «Scheich» des strengen jesidischen Kastensystems behalten wolle. Eigentlich wäre er aber lieber bei seinen Kindern, «ich bin ja kein Soldat». Dann: ein ohrenbetäubender dumpfer Donnerschlag. Reflexartig fallen wir beide auf die Knie, die Fliegerbombe detoniert rund zwei Kilometer entfernt, in einem vom IS besetzten Haus. Wir kehren um. Auf dem Rückweg erzählt mir Scheich Nasir von seiner Kindheit hier in Sindschar. Ein Stück entstaubte Stadtgeschichte, viel mehr ist von dem Ort nicht geblieben.

 

 

 

Rache an den Toten

Qayyarah-Friedhof, 59 km südlich von Mossul,
30. Dezember 2016

Ich treffe Ahmed Jasim zufälligerweise auf einem Friedhof, um ihn herum lauter zerstörte Grabsteine. Er hat sein Leben lang Öl aus irakischem Boden gefördert und dafür mit seiner Gesundheit bezahlt. Ahmed zeigt mir das Grab seiner Mutter. Der Grabstein wurde in zwei Hälften zerschlagen und ihr Name mit schwarzer Farbe durchgestrichen. Er kniet vor dem verwüsteten Grab nieder und beginnt zu beten.

Als der IS im Juni 2014 seine Heimatstadt Qayyarah und die umliegenden Ölfelder überrannte, floh er mit seiner Familie in kurdisches Gebiet. Als Regierungsangestellter wäre er vom IS gefoltert oder ermordet worden. Wer damals aber vor dem IS davonrannte, galt als Verräter oder Spion. So nahmen die Dschihadisten Rache an den Toten, welche Ahmed und die vielen anderen Geflüchteten im Boden zurücklassen mussten.

 

 

 

 

Öl

Qayyarah, 62 km südlich von Mossul,
6. November 2016

Um sich für Kampfflugzeuge unsichtbar zu machen, zündete der IS im Sommer 2016 über 20 Ölfelder und -quellen an. Eine der Quellen brennt nun inmitten der im August zurückeroberten Stadt Qayyarah. Übersetzt bedeutet ihr Name: Teer. Es ist Mittag und trotzdem dunkel, die Sonne ist ein Stecknadelkopf in einem Meer von Schwarz. Tote Vögel fallen vom Himmel. In der Nacht, wenn die Luft abkühlt, regnet es Asche. Die Bewohner von Qayyarah nennen die wütende Feuersbrunst, die in der Mitte ihrer geschundenen Stadt brennt: «Al-Nar», das Höllenfeuer.

 

 

 

Kriegsvölkerrecht

Gogjali, Vorort von Mossul,
10. November 2016

Eine junge Mutter hat mit ihrem Sohn auf dem Arm soeben die irakischen Linien erreicht. Die improvisierte Parlamentärsflagge zum Zeichen des Schutzbedürfnisses hat sie aus einem Besen mit einem übergezogenen, weissen Poloshirt zusammengeflickt.

 

 

 

Hinter den Kriegskulissen

Baschiqa, 21 km nordöstlich von Mossul,
9. November 2016

(links) Eine Gruppe von Videojournalisten umringt einen kurdischen General am Stadtrand der Kleinstadt Baschiqa. In den vergangenen Tagen hat er Baschiqa bereits mehrfach als vom IS befreit erklärt. Eine Ablösung kurdischer Peschmerga-Kämpfer (rechts) wartet im Süden der Stadt auf ihren Einsatz. Denn: rund 150 IS-Terroristen halten sich noch immer im weitläufigen Tunnelsystem unter der Stadt versteckt, von wo aus sie Angriffe auf kurdische Truppen verüben.

 

 

 

Der Raketenmann

Südostmossul, Sumar-Quartier,
27. Dezember 2016

«Da vorne muss es sein, hinter diesen zwei weissen Häusern.» Die Fahrgemeinschaft besteht heute aus Philipp, einem befreundeten Journalisten, dem Übersetzer Hoveen, der auch das Auto steuert, Ali, der sich vor Ort auskennt, und mir. Wir suchen einen Frontabschnitt, der von irakischen Bundespolizisten (der Iraqi Federal Police) gehalten wird. Über uns kreisen Kampfhubschrauber der irakischen Luftwaffe, die Schüsse ihrer Bordkanonen hallen durch die Landschaft, so stetig wie ein Presslufthammer. Die Kämpfe hier sind fragmentiert und unübersichtlich. Verschiedenste Frontabschnitte werden durch eine Vielzahl von Milizen, Bürgerwehren und Teilstreitkräften der irakischen Armee geführt. Deshalb sitzt Ali, ein älterer, ortskundiger Mann in Lederjacke und mit einer rostigen Kalaschnikow bewaffnet, auf dem Beifahrersitz. Ali soll uns sicher ans Ziel bringen. Noch am Tag zuvor hatten wir eine Abzweigung verpasst und fuhren ahnungslos auf eine vom IS besetzte Häusergruppe zu. Nur der beherzte Warnschuss eines irakischen Offiziers und die wild gestikulierenden Zivilisten beendeten glücklicherweise die Fahrt in das Kalifat. Heute aber sind wir, Ali sei Dank, vorbereitet.

Hoveen biegt auf eine Schotterstrasse ein, die zwischen zwei weissen Häusern hindurch zur vermuteten Bundespolizeistellung führt. Hinter dem linken der beiden Flachdachhäuser taucht auch schon die rot-weiss-schwarz gestreifte Flagge des Iraks auf. Doch plötzlich rennt eine maskierte Gestalt in blauer Tarnuniform und mit geschultertem Raketenwerfer in die Strassenmitte. Hoveen tritt auf die Bremse. Der «Raketenwerfermann» geht in die Knie. Unser ortskundiger Begleiter Ali kurbelt hastig die Beifahrerseitenscheibe nach unten. Der Mann nimmt unser Auto ins Fadenkreuz. Ali hat nun das Fenster so weit offen, dass er laut fluchend seine rostige Waffe an der Mündung festhaltend durch die Öffnung strecken kann. Die Geste soll signalisieren: wir sind keine Bedrohung. Der «Raketenwerfermann», offensichtlich noch nicht überzeugt, verharrt in seiner Position. Im Kopf spiele ich Türgriffmechanik und Hechtsprung seitlich aus dem Fahrzeug durch. «Salafi! Salafi!», höre ich nun unseren Begleiter schreien. Das arabische Wort für Journalist scheint endlich Wirkung auf den bewaffneten Bundespolizisten zu zeigen, er senkt langsam seine Waffe. Der verhinderte Schütze, die Rakete noch in der Hand [Bild], berichtet uns dann im freundlichen Gespräch von den IS-Selbstmördern, die mit ihren Autobomben irakische Linien durchbrochen hatten, während wir im Auto von einem Frontabschnitt zum nächsten unterwegs waren. Der Befehl lautete, alle Fahrzeuge, die sich der Stellung nähern, auszuschalten.

 

 

 

Weapon of choice

 

Hamam al-Alil, 22 km südlich von Mossul,
28. Dezember 2016

Die wohl gefürchtetste Waffe des IS im urbanen Schlachtfeld von Mossuls Innenstadt ist die Autobombe. In ihr fahren die Selbstmordattentäter so nah wie möglich an ihr Ziel, bevor sie die oft selbstgebauten Bomben per Schalter am Armaturenbrett zur Detonation bringen. Hierfür werden Autos aller Art – vom Personenwagen bis hin zum Tanklaster – umgebaut, um die tödliche Fracht zu transportieren. Damit die irakischen Truppen die Gefährte mittels Handfeuerwaffen nicht zum Stillstand bringen können, ummanteln die Dschihadisten die Front der Fahrzeuge mit selbst angefertigten Panzerungen aus Stahl und Karbon.

 

Gogjali, Vorort von Mossul,
10. November 2016

Ein Humvee-Geländewagen, die irakische «weapon of choice» im Kampf gegen den IS, parkiert in Mossuls Vorort Gogjali. Im Hintergrund steigen die Rauchsäulen zweier detonierter IS-Selbstmord-Autobomben in den feuerroten Abendhimmel der belagerten Stadt.

 

 

 

 

Kopf runter!

Westmossul, Dawasah-Quartier,
12. April 2017

«Run!», «Head down!», «Sniper! Sniper!» sind die einzigen Anweisungen, die ich vom irakischen Soldaten zu hören bekomme, mit dem ich über ein Labyrinth von Dächern renne. Nach drei Monaten Grossoffensive hatte die irakische Armee im Januar den Ostteil Mossuls der Gewalt des IS entrissen. Auf der anderen Seite des Tigris, der durch das Herz der Stadt fliesst, wird im Westteil jetzt um die verschachtelten Gassen der Altstadt gekämpft, in denen der IS seine besten Scharfschützen positioniert hat. Endlich erreichen wir ein ummauertes Flachdach, von dem aus einige irakische Soldaten Jagd auf IS-Scharfschützen machen. Um die Verstecke der Gegner ausfindig zu machen, steht der Köder auch schon bereit: ein Hut in irakischen Armeefarben auf Stock, einen schlecht geduckten Soldatenschädel mimend. Ein paar Dächer weiter weist eine andere Gruppe weniger Geduld auf. Sie feuern wie wahnsinnig in eine Häusergruppe auf der gegenüberliegenden Strassen-seite. Einer der Soldaten zückt sein Handy, deutet auf mich und sagt: «You, me, selfie?»

 

 

 

Panzerglas

Westmossul, Yarmuk-Quartier,
8. April 2017

Wenn Gewehrkugeln einschlagen, hört sich das von innen an, als würde jemand mit Kieselsteinen werfen. Ich fahre mit Soldaten der irakischen Spezialkräfte mitten hinein in die tosende Schlacht umdas Yarmuk-Quartier. Die Mitglieder der sogenannten ISOF (Iraqi Special Operations Forces) erkennt man an ihren komplett schwarzen Uniformen und Fahrzeugen. Das kleine Panzerglasfenster des schwarzen Humvees, durch das die Hoffnungslosigkeit des Krieges an mir vorbeizieht, hat bereits zweimal erfolgreich eine Kugel gestoppt.

 

 

 

Ungewöhnlich

Ostmossul, Al-Qudus-Quartier,
2. Januar 2017

Vor drei Stunden war die Einkaufsstrasse, in der ich jetzt stehe, noch Gebiet des selbsternannten IS-Kalifats. Jetzt gehört das Quartier wieder zum irakischen Staatsgebiet. Die Leichen von zwei erschossenen IS-Kämpfern liegen vor mir auf dem Gehweg. Zwei Häuser weiter, neben einem Bombenkrater, ein menschlicher Torso ohne Kopf. Einige Zivilisten verlassen eine Querstrasse, in Nachbarquartieren wird immer noch heftig gekämpft. Ein Mann fährt seine Tochter auf einem roten Schubkarren durch die Strasse in Richtung eines improvisierten Lazaretts. Es scheint mir, als wäre ich mit meiner Kamera für das Mädchen ein ungewöhnlicherer Anblick als die beiden leblosen Körper vor mir.

 

 

 

Ahmad

Westmossul, Jadidah-Quartier,
8. April 2017

Im Krieg wird man unfreiwillig zum Experten für Geräusche. Es ist ein ruhiger Abend, die Frontlinie und das Knattern der Maschinengewehre anderthalb Kilometer entfernt von der zerstörten Moschee, die mir heute als Schlafplatz dienen soll. Plötzlich ein Pfeifen, kurz darauf ein Knall, dicht gefolgt von einem Knistern: Mörsergranate. Das Pfeifen entsteht durch die Luft, die im Flug durch die Stabilisationsflügel zieht, die Detonation gibt Angaben über Distanz und Kaliber, und das Knistern, das sind die hunderten herumfliegenden Metallsplitter (Schrapnell). Die Granate, die aus einem vom IS besetzten Quartier angeflogen kam, schlug rund hundertfünfzig Meter von der Moschee entfernt ein – in eine Strasse, auf der Zivilisten aus ebenjenen Quartieren fliehen. Als nächstes höre ich Schreie: «Sayaruh! Sayaruh!» Das arabische Wort für Ambulanz. Kurz darauf liegt der Körper eines Buben auf einer Bahre inmitten der Moschee, die auch als Notfallkrankenhaus dient.

Die Gruppe internationaler Armeesanitäter zieht Metallsplitter um Metallsplitter aus mehreren Dutzend blutenden Wunden, die sich vom Kinn bis zu den Füssen über seinen Körper verteilen. Neben dem blutigen Bündel Kleider, welche die Sanitäter mit einer Schere entfernt haben, liegen Identitätskarte und Handy. Durch beide Gegenstände schossen die Splitter, in beiden sieht man je ein Loch. Der Bub heisst Ahmad und das Foto seiner Identitätskarte zeigt ihn weinend. Ahmad stirbt zehn Minuten später auf dem Weg in ein richtiges Spital in einer laut heulenden Ambulanz – ein Geräusch, das jeder in Mossul kennt.

 

 

 

Nach Mossul?

Westmossul, Al-Akidat-Quartier,
12. April 2017

Ich sehe zum ersten Mal das schiefe Minarett der Al-Nuri-Moschee, vom dritten Stockwerk eines zerbombten Hotels aus an der Grenze zu Mossuls Altstadt. In dieser Moschee hatte Abu Bakr Al-Baghdadi vor knapp drei Jahren sein Kalifat ausgerufen. Das jahrhundertealte schiefe Minarett ist das Wahrzeichen von Mossul und gilt als östliches Pendant zum Turm von Pisa. Im April 2017 kontrollierte der IS noch knapp 25 Prozent der Stadt. Dass Mossul vom IS zurückerobert wird, steht ausser Frage, offen bleibt, wann – und zu welchem Preis.

Mag sein, dass, wenn Mossul fällt, der IS im Irak besiegt sein wird. Der Krieg selbst aber wird Tausende von Toten, eine komplett zerstörte Infrastruktur und eine noch tiefere religiöse und politische Spaltung des Landes hinterlassen. Anzeichen dafür, dass die irakische Regierung die sozialen Verhältnisse im Land angehen würde, um keinen Nährboden für die nächste radikale Bewegung zu bereiten, habe ich noch keine gesehen. Einige Gebiete im Nordirak, die der IS 2014 besetzt hatte, wurden in der Zwischenzeit von Peschmerga-Truppen der kurdischen Autonomieregierung zurückerobert – allerdings ohne die Verwaltung wieder der irakischen Zentralregierung zu übergeben, der diese Gebiete zuvor unterstanden. Dieser territoriale Disput speist schon seit einigen Monaten eine verschärfte Rhetorik im Zweckbündnis der einst verbitterten Feinde der Kurden und Iraker. Aber auch die irakische Bevölkerung ist tiefer gespalten denn je: Obwohl von der Al-Abadi-Regierung immer wieder heruntergespielt, ist der gegenwärtige Konflikt auch einer zwischen der sunnitischen und schiitischen Glaubensrichtung des Islams. Und auch die christliche Minderheit ist sich gegenwärtig nicht sicher, ob sie ihre politischen Karten auf die irakische oder die kurdische Seite setzen soll. Ein irakischer Offizier hat mir einmal erklärt, dass sich die irakische Bevölkerung nur über eines einig sei – nämlich darüber, sich über nichts einig zu sein. So zeigt es sich auch am städtischen Wahrzeichen: eine weit verbreitete Fabel in Mossul lautet, dass das Minarett der Al-Nuri-Moschee in Schieflage geraten sei, als der Prophet Mohammed drüber hinweg in den Himmel geflogen sei. Die lokalen Christen glauben, dass sich der Turm zum Grab der Jungfrau Maria hin verneige.

Keine Frage, der Wiederaufbau Mossuls wird Jahre dauern – und sich zu einem bedeutenden Teil auf alles andere als Gebäude richten. Aber er ist bereits im Gange, erste Zeugnisse davon kann man im Osten der Stadt beobachten. Wie sehr die Bevölkerung nach so vielen Kriegen aber schon an eine freie, erfreuliche Zukunft glauben mag, lässt sich an den paar wiedereröffneten Marktständen und Teehäusern nicht erkennen.

 

 


 

Alex Kühni

ist Fotojournalist und Dozent an der Schule für Gestaltung Bern und Biel. Seit 2011 hält er seine Kamera auf den Libanon, Nordkorea, Zentralasien, den Gazastreifen und die Ukraine, um vom Leben und den Geschehnissen jener Orte zu berichten, an die kaum jemand «reist». Seine Fotos erschienen unter anderem im «Spiegel» und der «Washington Post». Kühni lebt in Bern. Mehr unter: www.alexkuehni.com

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