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Nach dem Schock ist vor dem Schock

Brand im Rohstofflager, Frankenerstarkung, mögliche Todesfälle in der Geschäftsleitung: Simon Michel mag keine Überraschungen, muss aber täglich mit ihnen umgehen. Ein Gespräch über unternehmerische Risiken und die Widerstandskraft von Organisationen.

Nach dem Schock ist vor dem Schock
Simon Michel, photographiert von Philipp Baer.

Herr Michel, seit letztem Jahr führen Sie das Unternehmen, das Ihr Vater aufgebaut hat. Was ist anders, als Sie erwartet haben?

Ich war vorher bereits acht Jahre im Betrieb, der Übergang fand sehr strukturiert statt. Mein Vater hat frühzeitig losgelassen und mir die Möglichkeit gegeben, über die Jahre in meine jetzige Rolle hineinzuwachsen und das Unternehmen von innen kennenzulernen und mitzugestalten. Was hingegen anders geworden ist: man fühlt sich plötzlich ziemlich einsam an der Spitze.

Wie gross ist Ihre Toleranz für Unbekanntes?

Meine Frau sagt, ich müsse flexibler werden.

Was meint sie damit?

Ich bin kein Fan von Überraschungen. Hingegen bin ich extrem offen gegenüber neuen Technologien und habe einen grossen Drang, Neues zu entdecken. Zum Beispiel verrückte Bräuche an Orten wie Nepal, Tibet oder Kamtschatka.

Am 15. Januar hat die Schweizer Nationalbank den Euro-Mindestkurs per sofort aufgehoben. Wie haben Sie reagiert, als Sie von dieser
Überraschung erfahren haben?

Ich hatte den Entscheid nicht erwartet und war zuerst einmal enttäuscht. Die neue Situation hat uns den Turnaround in der Firma erschwert. Aber dann ist die unternehmerische Einsicht gereift: Jammern ist sinnlos, wir müssen uns der neuen Situation stellen. Ich hoffe einfach, dass es nicht zu einer langanhaltenden Deflation mit einem massiven Anstieg der Arbeitslosen kommt. Der Tourismus, die Exportindustrie und auch die anderen gebeutelten Industrien müssen über die Bücher und unbedingt durchhalten. Denn – keine Frage – der Schweizer Franken ist überbewertet. Es braucht nun unternehmerisches Sitzfleisch.

Hatten Sie damit gerechnet, dass von einem Tag auf den anderen eine Entkoppelung der Währung stattfinden könnte?

Wir denken in Szenarien – auch in unangenehmen. Wir haben uns also mit diesem Szenario befasst und uns mit Massnahmenplänen vorbereitet.

Wie genau?

Wir haben über 100 Massnahmen zum Schutze vor Währungsrisiken vorbereitet. Ein Drittel davon wirkt kurz-, ein Drittel mittel- und ein Drittel langfristig. Zudem haben wir uns bereits lange vor der realen Entkoppelung vom Wechselkurs zu einem grossen Teil entkoppelt, indem wir Einkauf und Verkauf von Waren in derselben Währung vorangetrieben und den Einkauf von Rohmaterialien bereits vor vier Jahren in den Euroraum verschoben haben.

Sie haben schon früh Produktionsstandorte im Ausland aufgebaut. Sind weitere Verlagerungen in Planung, die durch den starken Franken beschleunigt werden?

Wir haben Tochtergesellschaften gegründet und in der Tschechischen Republik in Tábor selbst einen Standort aufgebaut, in China in Suzhou und in Mexiko in Querétaro zusammen mit Partnern. Diese Schritte sind alle bereits vor dem SNB-Entscheid umgesetzt worden. Kürzlich haben wir wieder Land gekauft in der Tschechischen Republik, um dort eine weitere Halle aufzubauen. Dazu ist allerdings zu sagen, dass man die Entwicklungen im jeweiligen Land sehr genau beobachten muss, wenn man neue Standorte aufbaut. Es geht nicht um heute und morgen – wir investieren nicht für die nächsten zwei, sondern für die nächsten zehn Jahre.

Wie sieht es mit Ihren beiden Produktionsstandorten in der Schweiz aus?

Ich kann mit einer guten Nachricht aufwarten, trotz allem: Wir bauen in den nächsten drei Jahren über 100 Stellen in der Schweiz auf. Wir haben nach wie vor Produktionskapazität in Burgdorf und in Solothurn und gleichzeitig genügend neue Aufträge. Also nutzen wir – wo wir können – zuerst unsere Möglichkeiten in der Schweiz, bevor wir weiter im Ausland ausbauen, das ist klar. Zugleich bleiben wir wachsam und prüfen neue Standorte in Nord- und Süddeutschland. In Deutschland sind die Saläre für vergleichbare Arbeiten halb so hoch wie in der Schweiz, und es gibt genügend gut ausgebildete Leute sowie Zugang zu Zulieferern – eine geradezu idealtypische Situation.

Die Präsenz verschiedener Standorte gibt Ihnen auch eine Verhandlungsmacht gegenüber dem Schweizer Fiskus: Sie können die Produktion sofort verschieben. Wie setzen Sie Ihre Macht ein?

Es mag kontraintuitiv klingen, aber es gibt kein einziges Land in Europa, das seine Wirtschaftsförderung so wenig vorantreibt wie die Schweiz. Ich kann in jedes beliebige umliegende Land gehen und erhalte staatliche Subventionen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin kein Freund von Subventionen. Aber der Punkt ist: wenn meine Mitbewerber davon profitieren, kann ich es mir nicht leisten, auf diese Unterstützung zu verzichten. Ganz konkret: ich gehe nach Tábor, baue ein Gebäude für 4 Millionen Euro und bekomme 2 Millionen Euro Cash auf die Hand von Prag und Brüssel. Ich gehe nach Norddeutschland, stelle Infrastruktur hin für 40 Millionen Euro und bekomme ohne Verhandlungen 12,5 Prozent der Investitionssumme. In der Schweiz bekomme ich nichts Vergleichbares.

Und relativ tiefe Unternehmenssteuern.

Richtig. Aber mittels entsprechender Transpreismodelle kann ich heute auch in Deutschland produzieren und Erträge bis zu einem gewissen Mass durch Lizenzboxen und Lizenzkonstrukte in der Schweiz versteuern. Die Schweiz muss sich ernsthaft Gedanken machen, ob sie weiterhin exportierende Industrieunternehmen haben will oder nicht. Europa will und fährt mit hochprofessionellen Teams, die Firmen ansiedeln wollen und sehr gute Konditionen bieten.

Wie gross ist dabei der Idealismus des Unternehmers, weiterhin in der Schweiz zu produzieren?

Die gute Nachricht ist: Es gibt ihn. Als Unternehmer bin ich auch Arbeitgeber in der Region. Daran liegt mir sehr viel, und das bringt auch eine gewisse Verpflichtung, die ich gerne wahrnehme. Diesem Punkt gebe ich 5 Prozent Bruttomarge, aber nicht 20 Prozent. Ich führe einen Dialog mit offenem Visier und bin mit unserem Regierungsrat direkt im Gespräch. Ich bin bereit, weniger zu verdienen, aber nicht so viel weniger. Es verursacht mir Kopfschmerzen, an einem anderen Ort eine Firma aufzubauen. Der Aufwand ist viel grösser und verlangt mehr Aufmerksamkeit seitens des Managements. Das will ich nicht, aber wenn wir uns durch äussere Umstände gezwungen sehen, dann müssen wir.

Im letzten Oktober hiess es in Ihrem Semesterbericht: «…und die Aussichten bleiben gut.» Hat die abrupte Frankenerstarkung daran etwas geändert?

Grundsätzlich nicht, denn unser Markt ist per se unverändert.

Ihr Geschäft hängt nicht von der wirtschaftlichen Konjunktur ab?

Richtig. Im Diabetesgeschäft profitieren wir von der Tatsache, dass die Zahl von insulinisierten Diabetikern insgesamt wächst. Wir haben heute weltweit 43 Millionen Diabetiker, die Insulin spritzen. In 20 Jahren werden es bereits 70 Millionen sein. Diabetes ist heute eine Pandemie und die mit Abstand teuerste Krankheit auf der Welt. Hinzu kommt, dass wir vom Auslaufen von Patenten umsatzstarker Medikamente profitieren, die in Zukunft durch kleine, mittlere und grössere Pharmafirmen in Form von sogenannten «Biosimilars» kopiert werden. Ein dritter Trend ist, dass ein Grossteil der neu entwickelten Medikamente, ich würde sagen 70 Prozent, nicht mehr oral verabreicht werden können, weil sie zu komplex sind. Sie müssen direkt ins Fettgewebe gespritzt werden, damit sie ins Blut gelangen. Diese Entwicklungen bieten für uns riesige Chancen.

Aus dieser Perspektive könnte man sagen: Die Erstarkung des Frankens ist eine Komplikation, aber die langfristigen Perspektiven sind so gut, dass Sie mit temporären Schwierigkeiten leben können.

Wir könnten theoretisch auch mit einem Wechselkurs unter der Parität zum Euro leben. Es würde nicht mehr gleich viel Spass machen und die Marge auf ein paar Prozent drücken. Gerade in unserer Branche werden höhere Margen erwartet, aber die Firma und das Geschäft könnten weiter bestehen.

Sprechen wir über Katastrophenszenarien: Gibt es Szenarien, die Ihnen manchmal den Schlaf rauben?

Nein. Wir sind auf verschiedenste Szenarien bestmöglich vorbereitet, und für Unvorhergesehenes gibt es immer noch den gelernten Führungsrhythmus mit den fünf Führungstätigkeiten: Problemerfassung, Beurteilung der Lage, Entschlussfassung, Planentwicklung und Auftragserteilung unter Berücksichtigung einer möglichen Revision der Pläne. Wenn ein Schock eintritt, sitzt die Geschäftsleitung zusammen, oder es bildet sich ein Krisenstab aus Mitgliedern der Geschäftsleitung und Spezialisten.

Was würde passieren, wenn Ihr Flugzeug heute morgen abgestürzt wäre?

Ich glaube sehr stark an Stellvertretungen. Mein COO würde direkt übernehmen. Nachdem Investoren und Mitarbeiter beruhigt worden sind, würde der Verwaltungsrat einen neuen CEO bestimmen. Kurz: die Firma würde genau gleich weiterfunktionieren.

Beginnen solche Entscheidungsprozesse automatisch zu rollen, sobald ein bestimmtes Ereignis eintritt?

Das sind konkrete Notfallpläne. Wir verfügen über ein «Enterprise Risk Management» mit Risikomatrizen, die in verschiedenen Gebieten die Eintretenswahrscheinlichkeit und das Ausmass eines Schadens einschätzen.

Das klingt alles sehr durchgeplant. Zum Beispiel?

Zum Beispiel ein Brand in einem Rohstofflager. Wir könnten dann nicht mehr produzieren. Also installieren wir Sprinklersysteme. Das gehört zur präventiven Entschärfung. Es gibt verschiedene Szenarien, die mit Farben gekennzeichnet sind: Grün, Gelb und Rot. Für rote Konzepte muss man zwingend ausgearbeitete Notfallpläne haben, für gelbe und für grüne nicht zwingend. Mein Todesfall ist aktuell in der Matrix nicht auf Rot eingestuft. Ich glaube, die Eintretenswahrscheinlichkeit für meinen abrupten Todesfall wird aktuell als gering eingeschätzt.

Wie kann sich eine Organisation konkret darauf vorbereiten, dass es zu politischen Schocks kommt. Zum Beispiel eine soziale
Revolution in China?

Die Antwort ist einfach: durch Diversifizierung. Diversifikation ist die beste Vorbereitung für alle Entwicklungen, die man nicht beeinflussen kann. In der Ukraine haben wir während der Krise unseren Distributor verloren. In Russland hat sich der Rubel derart stark abgeschwächt, dass wir dort nicht mehr verkaufen können. Krisen können überall auftreten. Es geht darum, die Risiken möglichst gut zu streuen. In der Vergangenheit haben wir eine konkrete Situation erlebt, in der eine zu hohe Abhängigkeit zu Problemen führte.

Die Abhängigkeit von Ihrem Kunden Sanofi?

Genau. Die Abhängigkeit zu Sanofi war extrem hoch, denn wir haben zwei Drittel des Umsatzes mit einem einzigen Kunden verdient. Der Kunde hat ständig weiterbestellt, und wir hatten sehr gute Margen. Da hätte niemand Nein gesagt. Der Kunde hat ab 2005 entschieden, gewisse Produkte selber herzustellen. 2006 wussten wir: jetzt müssen wir uns neu aufstellen. Das führte zur mehrjährigen Turnaroundphase, welche wir letztes Jahr erfolgreich abgeschlossen haben. Wir hätten damals eine kleine nette 50- oder 60-Millionen-Franken-Boutique werden können, aber wir haben uns entschieden, weiter zu wachsen und in neue Geschäftsfelder vorzustossen.

Das bot Ihnen die Gelegenheit, selbst ins Unternehmen einzusteigen?

So ist es. In den letzten sechs Jahren haben wir es geschafft, den gesamten Rückgang von 150 Millionen Franken mit neuen Geschäften zu substituieren. Von aussen sind wir ein wenig interessanter Titel geblieben, aber intern haben wir sehr vieles umgeschichtet. Wir verfügen heute über eine komplett neue Organisation, haben über ein Dutzend Tochtergesellschaften auf- und ausgebaut, 40 Distributoren-Partnerschaftsverträge abgeschlossen, 300 Mitarbeitende im Aussendienst angestellt, eine globale Dachmarke eingeführt und in 50 Märkten Fuss gefasst. So haben wir uns also von einer produzierenden, «B2B»-Medtech-Firma zu einer «B2C»-Marketing-Organisation gemausert, welche nach wie vor selber entwickelt und herstellt, welche aber auch handelt. Deswegen sind wir heute so divers aufgestellt. Wir haben neben dem Kerngeschäft der Injektionssysteme das neu aufgebaute Diabetesgeschäft. Diese beiden Pfeiler geben Stabilität, durch die Schocks besser verkraftet werden können. Ein spannender Wandel – auch für uns.

Sie waren abhängig von Sanofi und sind trotzdem sehr offensiv vorgegangen. Sie haben Ihren Kunden verklagt, weil Lizenzvereinbarungen gebrochen wurden.

Es waren aussergewöhnliche Situationen. Und diese haben aussergewöhnliche Handlungen erfordert. Die aussergewöhnliche Handlung bestand darin, dass unser Unternehmen seinen besten Kunden verklagt hat. Das ist bestimmt nicht normal, und das würde ich heute vielleicht anders machen. Aber wir haben uns aus dieser Lage herausgearbeitet und produzieren heute wieder für Sanofi. Wir haben es geschafft, diese Beziehung zu stabilisieren, und besitzen als Lohnfertiger heute wieder einen sehr hohen Stellenwert im Sanofi-Konzern.

Wie war dies möglich?

Dahinter steckt sicherlich ein gewisser unternehmerischer Mut, der dadurch ermöglicht wurde, dass das Unternehmen zu 75 Prozent der Familie gehört. Wir können bis zu einem gewissen Grad viel freier entscheiden als andere. Und so haben wir entschieden, offensiv in den Länderaufbau des Direktgeschäfts zu investieren und gleichzeitig verschiedene Produktplattformen aufzubauen. Früher haben wir Produkte entwickelt, nachdem Kunden zu uns gekommen waren und uns ihre Probleme geschildert hatten. Dies dauerte im Schnitt drei bis vier Jahre. Inzwischen haben wir die Spielregeln komplett geändert. Ich habe gefordert, dass wir die «Pipelines» der Pharmaunternehmen kennenlernen und antizipieren können, welche Systeme unsere Kunden morgen und übermorgen brauchen. Heute können wir die Bedürfnisse eines Kunden im Schnitt innerhalb von drei bis vier Monaten befriedigen, indem wir einfach eine bereits existierende Plattform anpassen. Gleichzeitig haben wir ein neues Produkt, die Insulinpumpe, eingeführt. Wir haben unseren Gewinn aus dem Injektionssystemgeschäft also sofort wieder investiert und waren gegen aussen nicht sehr interessant (lacht). Aber jetzt profitieren wir umso mehr und wachsen mit 15 Prozent. Diese Wachstumsphase haben wir seit gut einem halben Jahr eingelenkt und sie findet jetzt weitergehend trotz des schwachen Euros statt.

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Rummelsnuff, photographiert von Robert Bartholot.
«Steh auf!»

Ein Mann wie ein Hochseetanker: Seine Oberarme sind aus Stahl, im Maschinenraum dampftʼs – und im Kopf, auf der Brücke, wird stets nüchtern der Kurs bestimmt. Der Berliner Musiker Rummelsnuff hat viel erlebt und weggesteckt. Wie man die Untiefen des Lebens umschifft, weiss dieser Käpt’n deshalb ganz genau.

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