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Mythos: Steuerbelastung

Die Schweiz verfügt über eine niedrige Staatsquote, heisst es. Fakt ist: im Durchschnitt liefert jeder erwachsene Bürger mehr als 50 Prozent seines Einkommens in Form von Zwangsabgaben ab. Weiss er das? Will er das? Aber vor allem: was kann die Schweiz von skandinavischen Hochsteuerländern lernen?

Privatisierungen, Liberalisierungen, Steuerreformen: für viele hören sich diese Konzepte geradezu vorgestrig an. Sie erinnern wie Rollerblades und breite Krawatten an tempi passati. Die Zäsur fand spätestens in jenem Jahr statt, als die Finanzkrise akut wurde: 2008. Auch wenn die Schweiz die Finanzkrise unversehrt überstand, hinterliess die Krise tiefe Spuren im politischen Alltag. Von Marktreformen ist keine Rede mehr. Der Finanzsektor wird an der kurzen Leine geführt. Eine Reregulierung des Gesundheitssystems bahnt sich an. Der Service public ist noch heiliger als früher; nach der Annahme der Einwanderungsinitiative der SVP wird der Arbeitsmarkt wieder bürokratisiert. Kurzum, wer sich sechs Jahre nach Ausbruch der Krise für eine effizientere und offene Marktwirtschaft einsetzt, steht unter Rechtfertigungszwang.

Und in der Tat – viele fragen sich schon länger: Wozu überhaupt die ganzen Anstrengungen? Die Schweiz gilt doch als Insel der Glückseligen. In der Fiskalpolitik nutzen bürgerliche Politiker jedenfalls jede Gelegenheit, unter den vielen Standortvorteilen des Landes die «moderate Steuerbelastung» zu loben. Die Statistiken der OECD zur Fiskalquote scheinen diese Sicht auch wirklich zu bestätigen: mit 28,6 Prozent an Steuereinnahmen im Verhältnis zum BIP liegt die Schweiz im Jahr 2011 deutlich unter dem Durchschnitt (34,1 Prozent). Also alles in Butter?

 

1810 Franken Abgaben pro Monat

Der erste Blick auf diese Zahlen trügt. Die Schweiz schneidet in der OECD-Statistik nur deshalb vergleichsweise «gut» ab, weil die Abgaben für die berufliche Vorsorge, die obligatorische Krankenversicherung und die Unfallversicherung nicht einbezogen werden. Diese Abgaben stellen Zwangsabgaben für Leistungen dar, die in anderen Ländern vorwiegend mit Steuereinnahmen finanziert werden. Der tatsächliche Einfluss des Staates auf Konsum- und Investitionstätigkeit der Bürger ist deutlich grösser, als viele denken, wie Abbildung 1 zeigt. Diese stellt auf aggregierter Ebene die Einkommenssituation nach Steuern und Abgaben dar. Letztere beanspruchen mit rund 1810 Franken pro Erwachsenen und Monat das Budget der Haushalte deutlich mehr als die eigentlichen Steuern (1610 Franken). Im Durchschnitt muss eine erwachsene Person rund 55 Prozent ihres Einkommens in Form von Steuern, Sozialversicherungsbeiträgen und weiteren Abgaben abliefern. Mit anderen Worten: die Verwendung der Hälfte des Einkommens ist fremdbestimmt. Damit unterscheidet sich die Schweiz kaum von ihren Nachbarn Frankreich und Deutschland, auf die sie fiskaltechnisch so gerne herabblickt.

Schauen wir auf die Zeitachse. Seit 1990 hat die erweiterte Fiskalquote um rund 12 Prozent zugenommen, was vorwiegend auf den Ausbau der Sozialversicherungen zurückzuführen ist. Die Schweiz hat sich immer mehr dem «Sparschweinmodell» verpflichtet, wonach die Bürger angehalten werden, ihr Einkommen über den Lebenszyklus hinweg zu verteilen. Gemäss Schätzungen von Monika Engler von der Universität St. Gallen findet nur etwa ein Drittel der Transferzahlungen interpersonell statt, d.h. zwischen unterschiedlichen Haushalten. Zwei Drittel der Transferzahlungen erfolgen hingegen intrapersonell: Es sind Mittel, die später an jene zurückfliessen, welche dafür Beiträge geleistet haben, beispielsweise als AHV- oder Pensionskassenleistungen1.

Die Rückzahlung ist versprochen, aber nicht gesichert. Schätzungen zufolge übersteigt der kumulierte Wert der bis 2035 versprochenen AHV-Renten die erwarteten Beiträge um 50 bis 100 Milliarden Franken. Dieser absehbare Fehlbetrag ist in der Rechnung der Eidgenossenschaft nicht enthalten. Ähnlich hoch dürfte die Lücke bei der 2. Säule und bei den Krankenversicherungen ausfallen. Genau weiss dies niemand: Das letzte Generational Accounting – eine Art Staatsrechnung, die nicht nur die heutigen, sondern auch die zukünftigen Verpflichtungen berücksichtigt – liegt gut zehn Jahre zurück. Aber klar ist schon jetzt: Will die Schweiz ihre Versprechen einhalten, wird sie früher oder später die zusätzlichen Mittel mit Steuer- oder Beitragserhöhungen finanzieren oder das Rentenalter erhöhen müssen.

 

Schrumpft der Wohlstand?

Der Fussabdruck des Staates war also auch in der Schweiz noch nie so gross wie heute. Für die Linke, die nach der Finanzkrise Morgenluft für neue Umverteilungsziele wittert, stellt dies keinen Grund zur Sorge dar. Wie sehen es aber jene, die nicht bloss auf die Verteilung des Kuchens achten, sondern auch auf seine Grösse und Entstehung? Geld muss verdient werden, bevor es neu verteilt werden kann. Für Kuchenbäcker und -verteiler stellt sich also gleichermassen die Frage: Geht die ständige Erweiterung des Umkreises der Staatsaufgaben zulasten des Wohlstands?

In jenen europäischen und angelsächsischen Ländern, wo die Steuerquote seit 1995 anstieg, war das Einkommenswachstum pro Kopf schwächer (siehe Graphik 2). Wenn Kritiker nun darauf verweisen, dies sei nicht ohne weiteres ein Beweis dafür, dass mehr Staat das volkswirtschaftliche Wachstum bremse, haben sie recht. In Ländern, wo der keynesianische Reflex tief verankert ist – wie neuerdings in den USA –, kann eine (temporär) schwache Konjunktur zu einer vorübergehenden Ausdehnung der Staatsausgaben führen – und also zu mehr Wachstum. Stimmt – kurzfristig. In einem neueren Übersichtsartikel gehen die schwedischen Ökonomen Andreas Bergh und Magnus Henrekson der Beziehung zwischen Staatsgrösse und Wachstum auf den Grund und fassen mit grösster statistischer Sorgfalt die umfangreichen Forschungsergebnisse zusammen. Sie zeigen, dass eine um 10 Prozent höhere Steuerquote (zum Beispiel jene von Frankreich im Vergleich zu Grossbritannien) das Einkommenswachstum um beinahe 1 Prozent pro Jahr senkt. Kein Wunder also, dass letzteres in der Schweiz – trotz reger Zuwanderung – seit 1995 mit 1,1 Prozent bescheiden ausfällt. Zu viel Staat schadet also immer noch.

 

Supermodell Skandinavien

Die Ausnahme zur Regel bilden die nordischen Länder: Sie verbinden einen Wohlfahrtsstaat der Extraklasse – die Steuerquoten liegen über 50 Prozent – mit Pro-Kopf-Wachstumsraten von 2 Prozent und mehr. Wie schaffen sie das? Ein Blick auf deren Wirtschaftspolitik zeigt neben einer flächendeckenden Umverteilungspolitik ein Einstehen für eine offene, wettbewerbliche Volkswirtschaft. Angeschlagene nationale Champions wie Saab, Volvo, Ericsson oder Nokia liess man pleitegehen oder veräusserte sie an ausländische Investoren. Weite Bereiche der Wirtschaft, wie die Telekom- und Postbranche, die Bahnen, in Schweden und Dänemark sogar die Schulen und Teile des Gesundheitssystems, setzte man dem Wettbewerb aus. Auch innerhalb der ausgedehnten Verwaltung wird vermehrt auf wettbewerbliche Anreize gesetzt. So begann man beispielsweise, die Leistungen von Beamten, Ärzten und Lehrern systematisch auszuwerten – davon sind wir in der Schweiz noch meilenweit entfernt. Am meisten zur heutigen Prosperität Skandinaviens dürften jedoch die grundlegenden Steuerreformen der 1990er Jahre beigetragen haben. Während die Schweiz über eine nationale Erbschaftssteuer und somit über eine Erhöhung der Vermögenssteuern nachdenkt, haben sämtliche nordische Länder diese gestrichen. Wichtiger noch: mit einer dualen Einkommenssteuer (von Avenir Suisse bereits 2003 als Lösung für die Schweiz vorgeschlagen) verankerten sie das Prinzip, dass Vermögenserträge tiefer als Löhne belastet werden sollten. Und wenn Zinsen, Dividenden und Kapitalgewinne unter der dualen Einkommenssteuer zu einem deutlich tieferen Satz als andere Einkommensbestandteile belastet werden, ist das nicht als Geschenk an Aktionäre zu verstehen. Die tiefere Belastung der Kapitalerträge soll die Attraktivität der privaten Ersparnisbildung erhöhen und vor allem die Investitionstätigkeit fördern.

Der Gegensatz zum hiesigen Steuersystem könnte nicht grösser sein. Unter der gewöhnlichen Einkommenssteuer (wie in der Schweiz) wird das Sparen nämlich zweimal erschwert: ein erstes Mal, wenn das Einkommen verdient wird; ein zweites Mal, wenn die Zinserträge aus diesen Ersparnissen anfallen. Wie kürzlich in einer Studie gezeigt2, kann das Zusammenspiel der Einkommenssteuer und der (typisch schweizerischen) Vermögenssteuer locker zu Grenzsteuersätzen von über 100 Prozent führen. Anders gesagt: spart man einen zusätzlichen Franken, muss mehr als der ganze Kapitalertrag wieder an den Staat abgeliefert werden. Nur wer sein Erspartes durch das ineffiziente und oft innovationsfeindliche Pensionskassensystem schleust, kann dieser Doppelbelastung teilweise entkommen.

 

Fazit: das Schlechteste beider Systeme

Niemand denkt, dass ein Wohlfahrtssystem, in dem Kinderkrippen nachts offen haben, Gefangene Skilanglauf betreiben und Heavy-Metal-Fans für «süchtig» und unterstützungswürdig befunden werden, auch in der Schweiz erstrebenswert wäre. Unser Staatsverständnis lässt trotz wachsender Staatsquote noch etwas mehr Platz für die individuelle Verantwortung. Die Botschaft aus dem hohen Norden ist eine andere: Wer eine starke Präsenz des Staates auf die Dauer aufrechterhalten will, kann nicht weiter dar­über hinwegsehen, wie die Wertschöpfung zustande kommt. Oder anders gesagt: gerade Umverteiler müssen sich, wenn sie ihre Mission ernst nehmen, zum Wettbewerb bekennen. Der Sozialstaat ist auf eine möglichst effiziente, offene und liberale Marktwirtschaft angewiesen. Und für jene, die umverteilungsavers sind, gilt: Macht euch nichts vor und seht die Dinge, wie sie sind – die Staatsquote steigt auch in der Schweiz. Höchste Zeit also für alle beide, die Inlineskates aus dem Estrich zu holen.

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