Mythos: Individualismus
Gesellschaftskritik gehört zum guten Ton, Abweichung ist ein Businessmodell, Querdenkertum der Normalfall. Alle bemühen sich, anders anders zu sein als die anderen. Und doch sehen sich alle zum Verwechseln ähnlich.
Konformismus entsteht durch soziale Nachahmung. Wenn man nicht weiss, was man tun soll, ist es durchaus lebensklug, sich an dem zu orientieren, was andere tun. Man verlässt sich dann nicht auf private Meinungen und Informationen, sondern schliesst sich anderen an. Das geschieht umso schneller, je enger die Gruppenbindungen sind. Diese Informationskaskaden nehmen leicht die Gestalt von sozialen Kaskaden an − wenn Menschen Angst vor XY bekommen, weil andere Menschen Angst vor XY zeigen.
Ein Anthropologe würde wohl sagen: Der Mensch ist ein potentieller Mitläufer. Politisch betrachtet wäre das Eingeständnis fällig, dass die moderne Demokratie mit der Vergötterung des Mehrheitswillens den Konformismus begünstigt. Und technisch gesehen ist der Konformismus ein Effekt der Massenmedien.
Öffentliche Meinung ist nicht das, was die Leute meinen, sondern das, was die Leute meinen, «dass es die Leute meinen». Dabei informieren uns die Massenmedien vor allem darüber, dass die meisten der gleichen Meinung sind. Je besser Minderheiten die öffentliche Meinung organisieren, desto wahrscheinlicher wird es, dass sich die meisten Menschen in ihrem Urteil über die Meinung der meisten Menschen irren. Dieser Irrtum potenziert sich dann in der öffentlichen Meinung über die öffentliche Meinung. Wenn sich aber die Mehrheit über die Mehrheit täuscht, muss dem eine Angstdynamik zugrunde liegen, die so alt ist wie die Demokratie: die Angst, von der Mehrheit geächtet zu werden.
Aus Angst davor, sich mit der eigenen Meinung zu isolieren, beobachtet man ständig die öffentliche − was man eben so sagt und meint. Es gibt einen sozialen Evolutionsdruck in Richtung immer grösserer Konformität. Die Emanzipation der Vernunft von der Tradition hat zugleich ein Orientierungsvakuum geschaffen, das die Gewalt der öffentlichen Meinung unwiderstehlich macht.
Um uns diesen Konformismus schmackhaft zu machen, verkauft man ihn als sein Gegenteil: Individualisierung. Alle reden von Individualität und Selbstverwirklichung − und alle denken dasselbe. So entsteht der Konformismus des Andersseins. Gerade die herrschende öffentliche Meinung kultiviert bestimmte Formen des Nonkonformismus. Die Medien zeigen uns in ihrem Unterhaltungsprogramm seit Jahren in der Regel starke Frauen und lächerliche Männer; Kinder, die klüger sind als ihre Eltern und sehr gut ohne sie auskommen; nette Immigranten, die von «rechten» Einheimischen geprügelt werden; Homosexuelle, die ein besonders kultiviertes Leben führen. Sie alle sind, um es mit Allan Blooms Wort zu sagen, Schauspieler des Nonkonformismus auf der Bühne des Konformismus.
Anderssein als Zwangsjacke
«Diversität», der neue Kultbegriff aller Behörden und Universitäten, bedeutet im Klartext ebenfalls Konformismus. Wir haben es hier mit einer schlichten Inversion des Kulturchauvinismus zu tun. Der Westen gilt nichts, Asien und Afrika sind Vorbilder. Diversität heisst also: alle minus eins. Und dieses eine ist die westliche Kultur der weissen Männer. So wird das Anderssein zur Zwangsjacke. Politische Korrektheit ist Aufklärung als Farce: Du sollst keine Vorurteile haben! Alle sind gleich verschieden! Dabei schliessen sich die Zeithorizonte wie bei Nietzsches Tieren, die an den Pflock des Augenblicks angekettet sind. Alles, was der neuen Kultur des Andersseins historisch vorausging, gilt nun als rückständig.
Ich bin wie jeder andere, jedermann. Das ist schwer zu ertragen, und begierig greift man deshalb Angebote der Identität und Einmaligkeit auf. Die Individualitätswerte sollen die wachsende Abhängigkeit und Ersetzbarkeit jedes einzelnen in der modernen Gesellschaft kompensieren. Das Ziel dieser Individualität ist aber das ganz Allgemeine: anders als alle anderen zu sein. Wir haben es mit einer Spielart der Sei-spontan-Paradoxie zu tun: Weiche vom Gewohnten ab! Wenn unsere Kultur aber Einzigartigkeit für jedermann verspricht, dann ist eigentlich nur ein Weg zu diesem Ziel offen: die Kopie. So trifft man in den Strassen der Metropolen auf die Herde der Individualisten. Ihre blauen Haare und Piercings, aber auch ihre «authentischen» Unverschämtheiten und ihr Drang, sich zu «outen», manifestieren den Zwangscharakter des modischen Nonkonformismus.
Noch peinlicher als die Blauhaarigen sind aber die Kritischen. In einem über Jahrzehnte hinweg stabilen Selbstmissverständnis haben sich die kritischen Bewusstseine für «anders» gehalten, das heisst für unbestechlich durch die Lockungen des Konsums und immun gegen den Zeitgeist. Doch auch sie sind, nicht anders als die von ihnen verachteten Modelackaffen, Konformisten des Andersseins. Der Linksintellektuelle macht Abweichung zum Business; seine Positivität ist die Negativität. Er beherrscht das Marketing des «Anti». Früher war er Salonsozialist, heute tritt der Kritiker als Celebrity der Talkshows auf. Die Negation steht ihm gut.
Die moderne Gesellschaft wurde in den letzten hundertfünfzig Jahren durch permanente Gesellschaftskritik immun gegen Kritik. Seither ist «kritisches Bewusstsein» ein Modeartikel, den man auf dem Markt der Massenmedien kaufen kann. Martin Walser hat schon vor Jahren in seiner Rede über die «Banalität des Guten» das Genre der kritischen Sonntagsrede blossgestellt. Dieser Lippendienst der Korrektheit in jeder Hinsicht ist der konditionierte Reflex darauf, dass die Öffentlichkeit «natürlich eine kritische Rede erwartet». Nichts scheint in unserer Gesellschaft natürlicher als die Kritik an der Gesellschaft. Wer heute für oder gegen XY demonstriert, muss damit rechnen, dass ihm die Adressaten des Protests wohlwollend auf die Schulter klopfen und sich mit dem Protestanten solidarisch erklären.
Die Tyrannei der gefühlten Mehrheit
Die Kritik verliert an Niveau, wenn man keinen Mut zu ihr braucht. Auch das ist ein Stück Dialektik der Aufklärung: Zur Kritik ermuntern heisst die Kritik korrumpieren. Der Querdenker ist beliebt, weil sich heute ohnehin niemand mehr durch Provokationen provozieren lässt. Der Querdenker macht es sich als unbequemer Geist bequem. Er ist die Figur des domestizierten Dissenses. Furchtlos vertritt er die Meinung der Mehrheit. Sein Biotop ist die Talkshow. Talk heisst auf Deutsch Geschwätz, und in diesem Medium entfaltet der unbequeme Geist seinen Zauber. Seit die Bürger des späten 19. Jahrhunderts Geschmack an der Antibürgerlichkeit der Bohème gefunden haben, bietet unsere Kultur eine Parodie auf die Umwertung der Werte. So hat selbst die theologische Urunterscheidung orthodox/häretisch längst die Vorzeichen gewechselt: Heute will jeder ein Querdenker und unkonventionell sein, eben unorthodox − vor allem Kirchenvertreter. Oder man will doch zumindest unbürokratisch handeln − vor allem Bürokraten.
Die Politik hält sich Querdenker und Gefälligkeitswissenschafter, um sich gegen jeden echten Dissens zu immunisieren. Nichts fürchtet die Regierung einer modernen Demokratie nämlich mehr als einen selbständig denkenden Menschen. Nietzsche hat einmal gesagt, der grosse Mensch sei ohne Furcht vor der Meinung. Der Satz ist aktueller denn je, denn heute wird eine abweichende Meinung schärfer kontrolliert als eine abweichende Handlung. Auf die abweichende Meinung reagieren die Politiker und ihre Mediengetreuen nicht mit Widerspruch, sondern mit Empörung.
Längst haben sie die Stellen der sozialen Kontrolle dessen besetzt, was als diskutabel gilt. Damit koppeln sie die Moral vom gesunden Menschenverstand ab. Es geht ihnen nicht darum, eine abweichende Meinung als falsch darzustellen, sondern den abweichend Meinenden als unmoralisch zu verurteilen. Man kritisiert abweichende Meinungen nicht mehr, sondern hasst sie einfach. Wer widerspricht, wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht. Und so breitet sich ein ewiger Friede des Intellekts aus.
Indem die Medien Informationen mit Meinungen verschmelzen, fabrizieren sie eine «öffentliche Meinung», von der fast alle glauben, dass sie fast alle teilen. Diese Tyrannei der gefühlten Mehrheit zwingt aber nicht nur den Konsens auf, sondern treibt auch den Dissens aus. «Silencing» nennt man das im angelsächsischen Sprachraum. Die Passage über das Zum-Schweigen-Bringen der abweichenden Meinung gehört zu den grossartigsten und aktuellsten Stellen in John Stuart Mills Essay «Über die Freiheit». Sein liberaler Standpunkt ist von bewundernswerter Klarheit: Die Immoralität einer Meinung ist kein Grund dafür, ihre Diskussion zu beschneiden. Auch wenn nur ein einziger eine abweichende Meinung hat, gibt das der überwältigenden Mehrheit nicht das Recht, ihn zum Schweigen zu bringen. Es gibt keine Freiheit des Denkens ohne die Möglichkeit einer öffentlichen Mitteilung des Gedachten. Und das gilt nicht nur für die wenigen Schreiber, sondern gerade auch für die vielen Leser. Sonst bedeutet Gedankenfreiheit für die meisten Menschen nur mehr die Möglichkeit, zwischen einigen wenigen Ansichten zu wählen, die von einer kleinen Minderheit öffentlich Redender und Schreibender verbreitet worden sind.
Die Angst davor, ein einzelner zu sein
Im Zentrum einer freien Öffentlichkeit steht der Wert der abweichenden Meinung, die Freiheit zum ungestraften Dissens. Weil nun aber auf der Bühne des Denkens der Querdenker als allgegenwärtiger Pausenclown auftritt und die Rolle des Häretikers travestiert, müssen wir uns zunächst daran erinnern, dass Häretiker dem schlichten Wortsinne nach derjenige ist, der weiss, dass er wählen kann. TINA dagegen ist die Abkürzung der modernen Tyrannei: there is no alternative. Ein Politiker, der behauptet, zu einer bestimmten Politik gebe es keine Alternative, ist ein Tyrann.
Nonkonformismus ist kein kognitives Problem. Es geht vielmehr um Mut und Angst. Und hier ist es in der Moderne zu einer charakteristischen Verschiebung gekommen. Früher fürchteten sich die Menschen, eine unrichtige Meinung zu haben. Heute fürchten sie sich nur noch davor, mit ihrer Meinung allein zu bleiben. Kierkegaard nennt das die Angst davor, ein einzelner zu sein. Sie ist für die moderne Massendemokratie charakteristisch; ihr Thema ist die Gruppe, das Team; ihr Gegenthema ist der einzelne, der Eigensinnige. Der Gruppe und den Massenmedien zu trotzen − nur wenigen ist heute die Freiheit wichtig genug, um dieses Wagnis einzugehen. Denn nicht zur Gruppe zu gehören, ist die Sünde wider den Heiligen Geist des Kollektivismus. Man stelle sich vor, jemand würde sagen: «Der fanatische Feminismus ist eine Geistesverirrung, die aufgrund ihrer massenweisen Verbreitung in den Medien und Universitäten als neue Form von Intelligenz gefeiert wird.» Oder: «Der Kampf gegen die jetzt in ‹Islamophobie› umgetaufte Ausländerfeindlichkeit erfindet die Bösen, damit sich die Guten alles erlauben können.» Oder: «Die Klimaapokalypse ist das Produkt einer politischen und medialen Angstindustrie, die uns Hilflosigkeit beibringt und unsere Unsicherheit ausbeutet.» Würde jemand Derartiges ernsthaft äussern, dann wäre das Urteil der Öffentlichkeit klar: ein Reaktionär. Mit diesem Prädikat muss leben können, wer sich weigert, mit den Wölfen zu heulen – und sei es unter angeblichen Freunden.
Um in dieses Lager verbannt zu werden, genügt es heute schon, an bürgerlichen Werten wie Freiheit und Selbstbestimmung festzuhalten. Jeder, der seinem Dämon folgt, ist reaktionär, denn er hört nicht auf das, was die Gruppe ihm sagt. Man kann es aber auch noch einfacher formulieren: Reaktionär heisst die Karikatur dessen, was die Konformisten des Andersseins nicht leiden können.
Es geht um den Mut, gegen die angebliche Mehrheitsmeinung anzutreten, und um die Freiheit, nein zu sagen. Dazu sind Tugenden erforderlich, die nicht zufällig sehr antiquiert klingen: Freimut und Redlichkeit, Leidenschaft und Enthusiasmus, vor allem aber auch Eigensinn. In den Parlamenten wird man danach genauso vergeblich suchen wie in den Redaktionen und Fakultäten. Denn Karrierepläne vertragen sich heute nur schlecht mit diesen Tugenden. Doch wem der Mut heute abgeht, der hat ihn womöglich morgen. Wir sind dabei, die Frechheit des Alters neu zu entdecken. Die Erkenntnis ist nicht neu, aber aktuell: Je älter man wird, desto weniger hat man zu verlieren – und desto mehr kann man riskieren.